Gemäss medialen Schlagzeilen prägen Angstgefühle den Alltag vieler, vor allem auch junger Menschen. Verlustangst, Abstiegsangst, Zukunftsangst, Angst vor Gewittern, vor Risiko, vor morgen … Warum diese Entwicklung?
Seit rund 25 Jahren arbeite ich von meinem Büro aus in der Stadt Zürich. Ebenso lang waren meine Nachbarn auf den einzelnen Stockwerken ein Coiffeursalon, Anwälte, Unternehmensberater. Seit einem Jahr sind es weniger von ihnen, dafür zusätzlich acht selbständige Psychotherapeutinnen. Deren Kunden (Patienten?) sind in der überwiegenden Mehrzahl junge, auch sehr jungen Frauen und Männer. Wie ist das zu verstehen?
Psychische Krankheiten
Bereits führen psychische Krankheiten, vor allem bei den Jungen, immer häufiger zur Invalidität, wie wir in der NZZ am Sonntag lesen. 28 Prozent soll allein letztes Jahr der Anstieg betragen haben, seit zehn Jahren gibt es eine Verdoppelung der Fallzahlen (10’000 neue Renten). Diese unglaubliche Zunahme lässt die Kosten der IV hochschnellen, sie betragen schon jetzt 10 Milliarden Franken jährlich. Viele Arbeitnehmende werden in den nächsten Jahren pensioniert. Um die entstehenden Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu stopfen, wird dringend Ersatz gesucht. Junge Menschen wären nötiger denn je. Auch wenn es nur darum ginge, die steigenden Kosten der Altersfürsorge (13. AHV-Rente!) zu finanzieren. Da lesen wir dann: «Doch trotz der ausgebauten Infrastruktur für die psychische Diagnose und Therapie fallen immer mehr Junge aus.» Ketzerische Frage: trotz oder dank?
Diese Frage ist natürlich unzulässig. Wo kämen wir denn hin, wenn zusätzlich zu den gewaltigen Problemen im Gesundheitswesen solches Infragestellen erlaubt wäre …
Es ist aber beruhigend zu lesen, dass sich – gemäss der letzten «Schweizerischen Gesundheitsbefragung» – 80 Prozent der Bevölkerung als ruhig, ausgeglichen und gelassen bezeichnen, 83 Prozent sogar als glücklich. Gleichzeitig weisen die Autoren darauf hin, dass eine Zunahme der psychischen Belastung zu verzeichnen sei, besonders bei den 15- bis 24-Jährigen (22%) und hier vor allem bei den Frauen (9% stark und zusätzliche 20% mittelmässig psychisch belastet). 18 Prozent der jungen Frauen litten unter Angststörungen (NZZ am Sonntag).
Starker Medienkonsum
Solche Mitteilungen können einen nicht kaltlassen. Wenn sich viele Jugendliche im Krisenmodus befinden, wenn die psychische Belastung zu hoch wird und sie sich in dieser Situation überfordert fühlen – wie können wir ihnen helfen?
Aus Kreisen der Jugendpsychiatrie hören wir, dass hoher Medienkonsum oder mangelnde Präsenz der Eltern zuhause die Situation verschlimmern können. Anders gesagt: Der starke Medienkonsum hinterlasse seine Spuren, ebenso die emotionale Vernachlässigung. Letzteres zielt auf die Eltern: Vergessen wir nie, dass alle jungen Menschen im Kindesalter lernen oder eben nicht lernen, dazu gehört die tägliche Vorbildfunktion der Eltern, die sich lebenslang auswirken wird.
Damit sind wir beim starken Medienkonsum: Wir beobachten die vielen Jugendlichen, die sich durch die Strassen bewegen oder im Tram/Zug sitzen, den Blick starr auf ihr Handy gerichtet, Umwelt und Mitmenschen ignorierend. Wir verstehen, wenn Jugendpsychiater zu bedenken geben, dass Jugendliche keine Möglichkeit mehr haben, sich zurückzulehnen und zu entspannen. Im Sekundentakt erhalten sie Nachrichten auf ihrem Smartphone. Oft bekämpfen sie ihre Ängste mit Konsum und Dopaminkicks von Tiktok und Co.
Schweizer Jugendliche verbringen täglich über dreieinhalb Stunden auf Instagram, Snapchat und Tiktok. Folgen können Schlafmangel, Unkonzentriertheit, wenig Freundschaften in der realen Welt sein. Als Konsequenz davon kommt es zu Angstzuständen, Depressionen und weiteren physischen Störungen.
Jetzt wird Handlungsbedarf in Schulen gefordert: Nötig sei ein Fach Gesundheit, um die Jugendlichen zu lehren, was es auf dem Weg zu gesundem Erwachsenwerden braucht. Dazu schreibt die Zeit: «Die Schulen müssen ihren Schülern in Zukunft etwas beibringen, ohne das die Demokratie nicht überleben kann: die Fähigkeit, sich kompetent zu informieren und im Internet Wahrheit und Lüge zu unterscheiden.»
Nun fordern politische Parteien vom Bundesrat, er müsse Lösungen für eine psychiatrische Versorgung aufzeigen. Das ist natürlich ein Déjà-vu. Wenn man sich überfordert fühlt, fordert man von andern, sie sollen sich bitte um das Problem kümmern.
Angst vor Wohlstandsverlust
Mit unserem Wohlstand ging es in den letzten 75 Jahren dauernd aufwärts. Das sind drei Generationen, die sich daran gewöhnt haben, dass man «es» sich leisten kann: das Auswärtsessen, die Auslandferien, den immer grösseren SUV. Corona hat uns zu einem Marschhalt gezwungen und immer mehr Menschen setzen heute ein Fragezeichen hinter diesen Aufwärtstrend. Vor allem bei den Jüngsten zeigt sich eine deutliche Abstiegsangst, ein verunsicherndes Gefühl, dass sie dereinst vom einstigen Wohlstand der Nation nur noch träumen könnten.
Parallel zu diesem Trend stellt Heike Scholten, Sozial- und Kommunikationswissenschaftlerin, fest, dass bei den Jungen ein deutliches Hoffen auf bessere Zeiten spürbar ist. Nicht Konsumverzicht, nicht Energiesparen, nicht einfaches Leben – nein, hoffen auf neue Technologien, um den Ausweg aus einer immer bedrohlicheren Situation zu finden. Die Studie «Sorgengesellschaft Schweiz», die Scholten leitete, untersuchte die Perspektiven der Bevölkerung auf Wirtschaftspolitik und Verantwortung und lieferte diese Erkenntnis. Hoffen statt Handeln, die neue Motivation?
Persönliche Selbstverwirklichung als Ersatzziel?
Wenn man davon ausgeht, dass ein starkes Individuum einst eine Stütze des Gemeinwohls war, muss man heute feststellen, dass der Drang nach Selbstverwirklichung obige Einstellung verblassen lässt. Oder besser gesagt: Ein offensichtlich wachsender Teil der Stadtmenschen demonstriert täglich eine ganz andere, neue Sicht der Alltagsbewältigung. Dieser Bevölkerungsteil hat die Elektroscooter entdeckt: «Man leiht sich die über eine App und am Ende der Fahrt lässt man das Gerät stehen – und geht seines Weges» (NZZ). Man nennt das Individualverkehr – ein Spiegelbild des neuen Trends der rücksichtslosen Selbstverwirklichung. Darf man das als Rückzug des Individuums aus der Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen bezeichnen?
Man darf. Die statistischen Angaben zur Freiwilligenarbeit in der Schweiz zeigen, dass die Quote von denen, die sich freiwillig im Dienst an der Gemeinschaft betätigen, seit den 1990er-Jahren kontinuierlich sinkt. Man kann sich fragen, ob diese neue Interpretation der Selbstverwirklichung ursächlich damit zusammenhängt, dass sich immer mehr Jugendliche psychisch stark belastet fühlen?
Ist die Schattenseite dieser Ich-Ideologie – die Sprachlosigkeit gegenüber dem Mitmenschen, der Schulkollegin, dem Nachbarn – mitschuldig am Verschwinden des einst selbstverständlichen Diskutierens von Problemen unter Freunden? Nennt man das dadurch entstehende Gefühls- oder Sicherheitsvakuum Angst?
Steil ansteigende Gesundheitskosten
Zurückkommend auf den Anfang dieses Beitrags, gilt es als Tatsache, dass schon heute mehr Psychiaterinnen und Psychotherapeuten in einer Praxis tätig sind als Haus- und Kinderärzte (Tages-Anzeiger). Angesichts der steigenden Gesundheits- beziehungsweise Krankheitskosten beurteilt der Krankenkassenverband Santésuisse den Boom der Onlinehilfe (digitale Therapien) für die Stärkung der psychischen Gesundheit mit grosser Skepsis. Denn natürlich gibt es Kreise, die auch für diese neue Dienstleistung den Staat drängen, die entsprechenden Kosten zu übernehmen.
Eine alte Weisheit besagt: Je mehr Arzt- oder Gesundheitspraxen es gibt, desto steiler steigen die Kosten parallel dazu an.