Es gehört zu den Absurditäten der Filmfestivals, mit Glanz und Gloria Filme zu zeigen und auszuzeichnen, die nur selten den Weg über die Verleiher in die Kinos finden. Genauer: Es gehört zu den Absurditäten des Filmverleihs und der Kinos, sich nur selten für Filme zu entscheiden, die im Rahmen von Festivals uraufgeführt und mit Trophäen bedacht wurden. Die Festivals kreisen wie Monde um den Planeten Film. Das gilt in besonderer Weise für Kurzfilme, für die auf diese spezialisierten Festivals und aktuell für die erstklassig organisierten und mit einer Veranstaltungsfülle aufwartenden 21. Internationalen Kurzfilmtage Winterthur.
Sie gingen am Sonntag zu Ende mit der Feier für die preisgekrönten Filme und deren Überantwortung ans Schicksal, vielleicht von weiteren Festivals eingeladen und vom Fernsehen dann gezeigt zu werden, wenn um Mitternacht die Stunde der Gleichgültigkeit für die Einschaltquoten schlägt.
Verletztes Ich und verletzendes Du
Wer sich in Winterthur auf den Wettbewerb konzentrierte, sah Filme aus Kanada bis Südafrika, aus Brasilien bis Malaysia und vor allem aus Europa und gewann einen Überblick, der eher mannigfaltig denn scharf profiliert war. Die Auswahl umfasste neben Bemerkenswertem auch Fingerübungen, abgestürzte Höhenflüge, gestalterisch wie schauspielerisch Gekonntes auf der Basis schwacher Drehbücher und nährte den Eindruck, bei der Anwendung künstlerischer Kriterien habe Milde gewaltet.
Das Fiktionale überwog das Dokumentarische deutlich. Den klaren thematischen Vorzug erhielten Abschied und Tod, Beziehungskrisen und Selbstfindung. Moll beherrschte die Tonlage, die eigene Tristesse den Blick auf die Welt – das Grau und der Niesel des Novembers auch auf der Leinwand. Die Stimmung passte zu den Filmen mit dem wiederkehrend verletzten Ich und dem verletzenden Du.
Bestechende Ideen
Wir sahen 26 der 37 Wettbewerbsbeiträge und 450 der insgesamt 590 projizierten Minuten. Drei Filme stachen nach unserer Meinung heraus und bleiben in der guten Erinnerung. Ihnen sind eine einfache, aber bestechende inszenatorische Idee eigen, die Fähigkeit, die Kürze mit dokumentierender Neugier prägnant zu verdichten, und eine packende Allgemeingültigkeit.
Für „Imbiss" wählten die Deutschen Christoph Eder und Jonas Eisenschmidt einen einzigen Schauplatz, nämlich einen Kiosk auf der griechischen Insel Lesbos für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten. Wir sehen, wie Lebensmittel gekauft und Handys aufgeladen werden, und hören in Bruchstücken Dialoge zwischen den Flüchtlingen und dem Personal der Imbissbude. Jeglicher Kommentar fehlt.
Unspektakulärer geht es nicht. Menschliche Dramen sind eingefangen in Momente alltäglicher Normalität. Daraus entwickelt der Film in knapp fünfzehn Minuten seine Wucht.
Kinematografischer Scharfschuss
In der deutsch-libanesischen Koproduktion „Rubber Coated Steel“ will Lawrence Abu Hamdan wissen, ob die offizielle Lesart stimmt, wonach israelische Soldaten im Kampf gegen demonstrierende Palästinenser lediglich Gummikugeln einsetzen und nicht auch scharfe Munition. Die akribische Abklärung gestaltet der Autor als Gerichtsprozesses.
Er verlegt ihn in einen unterirdischen Schiessstand und verwendet dessen Scheiben als Projektionsflächen für Fotografien, auf denen zur Beweisführung Charakteristik und Akustik unterschiedlicher Munitionsarten sichtbar werden. Keiner der Prozessbeteiligten tritt leibhaftig auf. Wir lesen nur in Untertiteln, was Richter, Staatsanwalt, Verteidiger und Zeugen sagen.
Eine kongeniale, aufs absolute Minimum beschränkte und kommentarlose Inszenierung. Um so eindrücklicher entfaltet sich die Wirkung. Hochspannung während 22 Minuten. Ein kinematografischer Scharfschütze offenbart seine Kunst.
Plausibles Wunder
Der russische Film „Ich bleibe“ von Grigory Kolomytsev nimmt eine völlig verblüffende Wende mit der Auferstehung eines Toten. Was eine Peinlichkeit sein könnte oder ein kitschiger Geisterspuk, erlebt der Zuschauer als sich aufdrängendes Wunder. Es fügt sich ein in eine nüchterne Regiearbeit, die strikte der Linearität vertraut und gleichwohl Spannung aufbaut. Die Beziehung zweier Brüder ist filmisch ausserordentlich subtil und schön gezeichnet.
Programmatischer Trailer
Lobende Erwähnung verdient auch der in Zürich tätige Jan-Eric Mack für seinen Trailer, mit dem die Kurzfilmtage in eigener Sache werben. Es sind 45 programmatische Sekunden als Antwort auf die Frage, was den attraktiven vom banalen Kurzfilm unterscheidet: die Prägnanz als die Kunst, in der Kürze die Würze zu kondensieren, eine überraschend neue Erkenntnisse erhellende Optik, gestalterische Fantasie und die Befreiung aus dem Irrtum, die Moral von der Geschichte ersetze deren professionelle Verfilmung.
Klug vermiedene Belehrung
Jan-Eric Mack gebührt auch grosse Anerkennung für seinen dokumentarischen Kurzspielfilm „Facing Mekka“, mit dem international reputierten Student Academy Award geehrt und im Rahmen des Schweizer Wettbewerbs gezeigt. Das Werk durch die so sachliche wie präzise und von starken Bildern geprägte Schilderung des Bemühens, eine in der Schweiz verstorbene Syrierin nach muslimischem Ritus zu bestatten.
Ein natürlicher und ohne Arg geäusserter Wunsch strapaziert die hiesige Bürokratie und hinter ihr glaubensmässige Überzeugungen, die sich gegen Mitgefühl und Toleranz sperren. Ein Lehrstück mit einem humanen Standpunkt, das jede Belehrung klug vermeidet und über den Einzelfall hinaus mit eindringlicher Ruhe für den gegenseitigen Willen zur Verständigung plädiert.
Preisverleihungen
Für die sehr geschätzten Couverts, die den Preisgekrönten in die Hand gedrückt wurden, standen 50’000 Franken zur Verfügung.
Der Hauptpreis ging an die beiden Schweizer Mark Olexa und Francesca Scalisi für „Ligne noire“, der Förderpreis an den Portugiesen Jorge Jácome für „Flores“, der Publikumspreis an Jan-Eric Mack für „Facing Mecca“.
Den Preis für den besten Schweizer Film erhielt Lora Mure-Ravaud für „Valet noir“, den Schweizer Kamerapreis Florian Berutti für „Premier amour“ und den Preis für den besten Schulfilm Kim Allamand für „Kinder der Nacht“.