Schüler wurden verhaftet. Wie es ihnen ergeht, weiss niemand, auch ihre Eltern nicht. Doch man muss das Schlimmste befürchten. Die Unruhen begannen in Deraa, im Süden Syriens, im März dieses Jahres, weil Schüler gefangen genommen und misshandelt worden waren.
Meldungen aus Kreisen des Widerstandes besagten, dass der Ort Rastan von mindestens 60 Tanks umzingelt worden sei. Die Sicherheitskräfte gingen von Haus zu Haus, um alles zu durchsuchen. Rastan ist ein kleiner Fleck, an der Strasse zwischen Homs und Hama gelegen. Warum dort ein Grossaufgebot der syrischen Armee auffahren soll, versteht man nicht auf den ersten Blick.
Doch dann kommt ein Bericht von Reuters. Ein Bewohner von Rastan habe übers Telephon mitgeteilt, es gebe in seiner Stadt Hunderte von Überläufern aus der syrischen Armee, sie hätten sich dort verschanzt und wollten sich dort verteidigen. Sie besässen sogar Tanks. Die Armee habe sie angegriffen, und die ganze Nacht sei geschossen worden. Reuters fügt hinzu, viele der syrischen Soldaten, Sunniten, kämen traditionell aus Homs und aus den naheliegenden Orten. Die Offiziere jedoch seien "alle" Alawiten.
Jagd auch auf Überläufer
Die beiden Meldungen zusammen machen die Lage verständlich. Die syrische Armee sucht nicht nur der Organisatoren der Demonstrationen habhaft zu werden, sondern verfolgt auch ihre Überläufer. Jede Armee weiss: Deserteure gilt es, besonders riguros zu bestrafen, wenn man verhindern will, dass ihre Bewegung sich ausbreitet und die Disziplin der Armee untergräbt. Dies gilt natürlich ganz besonders in einer Armee, deren Offizierscorps überwiegend aus den Angehörigen einer Gemeinschaft besteht, deren Mannschaften aber aus anderen Verbänden stammen: Alawiten und Sunniten im Falle Syriens.
Von angeblichen Überläufern hat man in Syrien immer wieder gehört. Oft kamen die Meldungen darüber aus den Grenzgebieten. Dort besteht die Möglichkeit für Deserteure, sich über die Grenzen zu retten, nach der Türkei im Norden und nach Jordanien im Süden. Inmitten des Landes scheinen die Deserteure es vorzuziehen, zu kämpfen als lebendig in die Hände der (meist alawitischen) Sicherheitstruppen zu fallen. Dabei sind ihre Aussichten gering, in solchen Kämpfen zu siegen oder davon zu kommen.
Schiessbefehle
Sogar wenn es ihnen gelingt, mit ihren Waffen zu desertieren, gar ihren Tanks, wie aus Rastan verlautete, dürfte ihnen doch bald die Munition und der andere Nachschub ausgehen, ohne die erfolgreiche Kämpfe nicht zu führen sind. Verzweifelte Kämpfe wurden zum Beispiel aus Deir az-Zor, der syrischen Provinz Hauptstadt am Euphrat, gemeldet, nun offenbar auch aus Rastan.
Einer Journalistin der BBC, die den syrischen Grenzen in Jordanien und in der Türkei entlang reiste, um mit Syrern aus dem Inneren Kontakt aufzunehmen, erzählten Soldaten, die ihr ihre Ausweise als Soldaten vorlegten, sie seien gezwungen worden, auf die Zivilbevölkerung zu schiessen. Zuerst hätten ihre Offiziere ihnen gesagt, es gehe darum ausländische Eindringlinge zu bekämpfen. Doch als sehr deutlich geworden sei, dass es sich um syrische Zivilisten handelte, hätten die Offiziere dies eingeräumt, aber befohlen, es sei trotzdem zu schiessen. Sich dem Befehl zu widersetzen, wäre lebensgefährlich gewesen. Man habe eben versucht, in die Luft zu schiessen, etwas über die Ziele hinweg. Doch schliesslich sei man bei passender Gelegenheit davon gelaufen.
Die Verluste der Armee
Wenn die syrische Regierung behauptet, sie habe in den Kämpfen gegen "Banden" etwa 500 Soldaten verloren (manchmal werden auch 700 genannt) dürfte es sich in Wirklichkeit um Kämpfe handeln, die in der Armee ausbrechen. Schon weil nicht sichtbar ist, woher diese Banden sonst kommen sollen. Die Demonstranten haben keine Waffen und bestehen darauf, gewaltlos vorzugehen. "Die Kameras sind unsere Waffen" sagte einer von ihnen der britischen Journalistin. Natürlich ist nicht ganz auszuschliessen, dass hier und dort Teile der Bevölkerung, etwa Verwandte und Freunde der desertierten Soldaten, sich mit ihnen solidarisieren und ihnen helfen, auch mit Waffen, soweit sie solche erhalten können.
Es gibt weiter Berichte, diese aus diplomatischer Quelle, nach denen Unruhe und Unzufriedenheit auch unter Alawiten bestehe. Dabei, so kann man vermuten, handelt es sich um alawitische Syrer, die nicht die führenden Regierungsstellen und die Schlüssel Positionen in den Armee- und Sicherheitseinheiten einnehmen. Natürlich gibt es auch unter den Alawiten, die nach Schätzungen etwa 15 Prozent der Syrier ausmachen, Volkskreise, die nichts oder wenig mit der Regierung zu tun haben. Diese Leute sind in der Lage, zu realisieren, dass sich die Wut der sunnitischen Mehrheit der Syrer gegen "die Alawiten" immer mehr aufstaut. Sie wissen, wenn es zum Zusammenbruch des Regimes kommt, gilt für sie: "mitgefangen mitgehangen", und sie sehen nicht ein, warum ihre Gemeinschaft ein solches Risiko eingehen soll.
Auf die Dauer Spaltungsgefahr
Derartige Befürchtungen sind nur allzu berechtigt. Wenn die gegenwärtige unheilvolle Entwicklung sich fortsetzt, werden die Sunniten und die Alawiten in der Armee immer mehr auseinanderfallen und sich in wachsendem Ausmass konfrontieren. Wobei die Alawiten lange Zeit hindurch eine übermächtige Position einnehmen dürften, weil sie über den Machtapparat der syrischen Armee und Sicherheitskräfte verfügen. Doch je länger die Aufstandsbewegung andauert, desto wahrscheinlicher wird, dass sich am Ende die Mehrheit auswirken und schliesslich durchsetzen wird. Diese Mehrheit, auch innerhalb der Armee, besteht aus Sunniten.