Deutschlands turbulentem Jahr 1923 ging die Ermordung Walther Rathenaus im Juni 1922 voraus. Mark Jones nimmt Rathenaus Bedeutung und das Attentat zum Ausgangspunkt, um das Jahr 1923 in seinen Facetten wie unter einer Lupe zu beobachten. Jones bringt «Mikrogeschichte» mit den grossen Entwicklungen zusammen.
Geschichte ist bei näherem Hinschauen wesentlich komplizierter, als es zunächst scheint. Denn die Abfolge von Ereignissen auf einer Zeitskala ist nur die Oberfläche. Man kann diese Abfolgen lernen und damit Prüfungen bestehen oder gesprächsweise als historisch gebildet gelten. Aber damit ist noch gar nichts verstanden worden. Denn jedes Ereignis hat mehrere Ursachen und es bildet zusammen mit anderen Ereignissen ein Geflecht der Historie, das um so schwieriger zu durchdringen und zu interpretieren ist, je näher man ihm kommt.
Geschichtlicher Zufall
Alles könnte anders sein, wenn zum Beispiel banale Umstände anders gekommen wären. Der in Dublin lehrende Historiker Mark Jones stellt in seinem Vorwort und in seinem Schlusskapitel eine kurze, aber durchaus frappierende Überlegung an: Wer ist Erwin von Scheubner-Richter, und wer kennt ihn? Das war jener Mann, der sich im November 1923 während des Putsches in München beim Marsch auf die Feldherrenhalle bei Hitler untergehakt hatte. Von einer Polizeikugel tödlich getroffen, sackte er in sich zusammen, und Hitler renkte sich ein Schultergelenk aus. Wäre die Kugel etwas weiter rechts geflogen, wäre Hitler, so Mark Jones, heute gänzlich unbekannt. Der mehr oder weniger zufällige Flug einer Kugel war weltgeschichtlich bedeutsam.
Spekulationen dieser Art sind schon mehrfach angestellt worden, aber Mark Jones überzeugt in seiner Darstellung des deutschen Jahres 1923 durch sein inneres Engagement und eine Fülle von Details. So beschreibt er, welche Papiere man bei dem ebenfalls während des Putsches zu Tode gekommenen Theodor von der Pfordten gefunden hat. So hat dieser, seines Zeichens «Oberstlandesgerichtsrat», ganz genau festgelegt, wann Nationalsozialisten, einmal an der Macht, Todesurteile verhängen und vollstrecken werden: «Der Entwurf enthielt Vorkehrungen für Massenhinrichtungen, Konzentrationslager und gegen Juden gerichtete Sondermassnahmen.» Für das gesamte «Reich» sollte der «Belagerungszustand» ausgerufen werden. Das liest sich so, als wäre die tatsächliche Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten ab 1933 schon eine Abmilderung dieser wahnhaften Radikalität.
Erbitterte Auseinandersetzungen
Aber das Jahr 1923 barg mehr in sich als nur die Bahn in den Abgrund. Es hätte auch die Möglichkeit bestanden, dass Deutschland und die Siegermächte Auswege finden, so verschlungen sie auch waren. Ausführlich beschreibt Jones die Konflikte zwischen Grossbritannien und Frankreich. Unter der Führung des Franzosen Raymond Poincaré, einem Deutschenhasser, der bei anderen Staatsmännern als höchst unsympathische Figur äusserst unbeliebt war, konnte es keinen Ausgleich mit Deutschland bei den Reparationsverpflichtungen im Zusammenhang mit dem Vertrag von Versailles geben. Die Wende kam entsprechend spät: Das Buch endet mit dem amerikanischen Dawes-Plan, der Deutschland auf Jahre hinaus zum ersten Mal eine wirkliche Perspektive bot.
Das Jahr 1923 war aber die längste Zeit durch erbitterte Auseinandersetzungen geprägt. So besetzten die Franzosen das Ruhrgebiet, weil sie meinten, nur auf diese Weise an die Reparationen zu kommen, die ihnen Deutschland vermeintlich vorenthielt. Mark Jones schildert die damit verbundenen Repressionen, Übergriffe bis hin zu Plünderungen und Vergewaltigungen aus dem Erleben der damaligen Zeit. Nicht nur hier zeigt sich, dass seine Methode, Geschichte am Beispiel zahlreicher Einzelschicksale anschaulich zu machen, überzeugt. Der heute unvorstellbare Hass zwischen den französischen Besatzern und den Deutschen wird in diesen Schilderungen erschreckend nachvollziehbar.
Elementare Not
In der heutigen Zeit wird an die Inflation von 1923 in Deutschland erinnert. Auch hier bestechen die lebensnahen Schilderungen von Mark Jones. Man sieht förmlich die Druckmaschinen für die immer wertlosen Geldscheine mit den aberwitzigen Beträgen rotieren und fragt sich unwillkürlich, wie es möglich ist, dass Menschen einem derartigen Wahn verfallen. Aber gegen Ende des Jahres gelang es der Regierung unter Führung des Zentrumspolitikers Wihelm Marx, eine Reform durchzusetzen, die die Währung auf eine stabile Basis stellte. Mark Jones beschreibt auch, wie bitter es für die meisten Menschen war, mit der damit verbundenen elementaren Not zurecht zu kommen.
In diesem Klima gediehen die Ressentiments. Mit grosser Akribie schildert Jones das Aufkommen des Nationalsozialismus. Er profitierte nicht nur von der materiellen Not, sondern auch von dem stillschweigenden Einverständnis reaktionärer Kreise in der Politik, der Verwaltung, zum Teil des Militärs, der Polizei und Justiz. München und Bayern haben in dieser Hinsicht eine besonders unrühmliche Rolle gespielt. Es ist gut, die heutigen Leser daran zu erinnern, dass Bayern in der Weimarer Republik eine Sonderrolle gespielt hat.
Vertrag von Rapallo
Mark Jones hat die Kapitel seines Buches mit den Monaten des Jahres 1923 überschrieben. Das Buch setzt aber nicht mit dem Jahresbeginn von 1923 an, sondern mit dem Mord an Walther Rathenau am 24. Juni 1922. Mit Recht sieht Jones in der Gestalt Rathenaus und in dem Hass auf ihn, der zu seiner Ermordung führte, zwei entgegengesetzte Pole, ohne die das Klima des Jahres 1923 nicht erklärbar ist. Dabei geht es nicht nur darum, dass Rathenau ein überragender liberaler Geist war, der für Deutschland gerade international politisch viel erreicht hätte. Vielmehr bietet die Person Rathenau, der nolens-volens am Zustandekommen des Vertrags von Rapallo beteiligt war, Mark Jones die Gelegenheit, die Vorgänge im Zusammenhang mit der Vertragsschliessung noch einmal darzustellen und zu erläutern. Damals wurden entscheidende Weichen gestellt. Diese Weichenstellung hatte wiederum auf das Verhältnis der Siegermächte untereinander starken Einfluss, was für das Jahr 1923 von grösster Bedeutung war.
Bis heute färbt der Vertrag von Rapallo international den Blick auf Deutschland ein, wenn es um die speziellen Beziehungen Deutschlands zu Russland geht. Denn den Deutschen wird eine heimliche Nähe zu Russland nachgesagt, die in diesem Vertrag ihren Ausdruck gefunden hat. Das ist aber nur eine Linie, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart führt. Das Jahr 1923 wird ganz gewiss als ein Jahr angesehen werden, das zum Verständnis Deutschlands eine Schlüsselrolle spielt.
Mark Jones: 1923. Ein deutsches Trauma. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Propyläen Verlag, Berlin 2022, 384 Seiten, 26 Euro