Der Schlawiner („fripon“) ist einer der einflussreichsten Philosophen der letzten Jahrhunderte. Gut drei Jahre lang lebte er hier auf 735 Metern Höhe im damals vergessenen Tal.
Môtiers – ein Wallfahrtsort, ein Magnet für Rousseau-Liebhaber? In jedem andern Land würde sich die Tourismus-Branche ins Zeug legen und den Ort vermarkten. Hier – nichts dergleichen. Rousseaus Haus muss man erst einmal suchen.
Schämen sich nicht nur die Genfer, wie sie mit Rousseau umgegangen sind? Schämen sich auch die Bewohner von Môtiers? Auch sie haben ihn davongejagt, wie man ihn in Paris und Genf davonjagte.
Dort werden seine Bücher verbrannt. Er wird zur Verhaftung ausgeschrieben. Die Obrigkeit und die Kirche hassen ihn, weil er ihren Machtanspruch in Frage stellt. Überstürzt verlässt er Paris. Doch wohin?
Hilfe vom „Alten Fritz“
Er gelangt nach Yverdon. Dort trifft er die reiche Madame Boy de La Tour. Sie verehrt seine Schriften und besitzt ein leerstehendes Haus hinter dem Berg im neuenburgischen Val de Travers.
Das Dorf liegt etwa 16 Kilometer von der französischen Grenze entfernt. Im 18. Jahrhundert stranden hier Schmuggler, Flüchtlinge und Salzhändler. Sie kommen von Montbenoît in der französischen Franche-Comté. Von dort führt ein Weg über einen tausend Meter hohen Pass hierher. Schon damals ist Môtiers eine Absinth-Hochburg. Artemisia absinthium, die Absinth-Pflanze, erlebt im 18. Jahrhundert im Val de Travers einen ersten Boom. Hier wird die „Grüne Fee“ gebraut, der grünflüssige Schnaps, der lange Zeit verboten war.
Das Tal gehört damals weder zur Schweiz noch zu Frankreich. Seit dem Jahr 1707 ist Neuenburg ein preussisches Fürstentum. Kein Geringerer als der preussische König Friedrich II., der Grosse, gewährt Rousseau politisches Asyl und gewährt ihm das Bürgerrecht. Nicht nur das: Der „Alte Fritz“ mit seinem offenen Geist zahlt dem verfolgten Genfer einen jährlichen Geldbetrag für seinen Unterhalt.
Rousseau in Môtiers im Val de Travers
Rousseau zögert zunächst, ins Fürstentum Neuenburg zu ziehen. Aus moralischen Gründen. Er mag den König nicht. Dieser scheint – so Rousseau – „die Achtung für das natürliche Gesetz und die menschlichen Pflichten mit Füssen zu treten“. Auch etwas anderes gefällt ihm nicht: Friedrich II. ist eng mit Voltaire befreundet, dem ewigen Gegenspieler Rousseaus.
Doch nicht nur moralische Gründe lassen ihn zögern. Rousseau, der die Machthabenden attackiert, fürchtet, dass ihn auch Friedrich früher oder später rauswerfen würde. Doch dann kommt der Philosoph zum Schluss, dass „die niedrigen Eigenschaften nur die schwachen Menschen unterjochen“. Kurz: „Ich glaube, dass seine Regierungskunst es verlangt, sich grossherzig zu zeigen.“ Es ist die Zeit, als der siebenjährige Krieg zu Ende geht und sich Preussen als Grossmacht etabliert.
So kommt Rousseau nach Môtiers. Unterstützt wird er hier vom alten schottischen Lordmarschall George Keith. Er ist Gouverneur des Fürstentums und vertritt Friedrich den Grossen. Während seines Aufenthaltes im Val de Travers kann Rousseau stets auf seine Hilfe zählen.
Für die Neuenburger, zu denen Rousseau jetzt zieht, hat er wenig übrig. Sie würden „nur Tand und Flitter lieben“, sie würden „sich gar nicht auf echten Stoff verstehen“. Und: Sie würden „lange Phrasen für Geist halten“.
Er singt italienische Arien
Doch Rousseau ist zunächst glücklich in Môtiers. Er lebt mit seiner Lebensgefährtin Thérèse in einer Fünf-Zimmer-Wohnung im ersten Stock eines Hauses am Dorfrand. Endlich kann er wieder seine geliebten Spaziergänge unternehmen. Er streift durch die Wälder, sammelt Pflanzen – und singt italienische Arien. Er liebt es, am Wasserfall oberhalb des Dorfes zu träumen. „Ich fand den Aufenthalt in Môtiers als sehr angenehm“, schreibt er in seinen „Bekenntnissen“. Der Pfarrer schreibt ihm, es sei eine Ehre für die Gemeinde, dass er sich hier niederlasse.
Er schwatzt mit Dorfbewohnern, vor allem mit der schönen Isabelle. Er schreibt an seinem „Wörterbuch der Musik“. Um sich die Zeit zu vertreiben, webt er Schnürbänder, die er dann jungen Frauen schenkt – mit der Auflage, ihre Kinder selber zu stillen. In Môtiers schreibt er die ersten vier Bücher seiner zwölfbändigen „Confessions“ (Bekenntnisse).
Rousseau ist berühmt. Viele Besucher strömen jetzt ins Val de Travers, um ihn zu sehen und mit ihm zu schwatzen. Das gefällt ihm nicht immer. Denn viele Besucher haben keine Zeile von ihm gelesen; eine inhaltliche Diskussion ist so nicht möglich. Aus Genf, Frankreich und der Schweiz kommen auch Besucher, die ihm die Leviten lesen und seine Schriften attackieren.
*Ein „Abgrund der Leiden“ tut sich auf
Rousseau ist jetzt 50 Jahre alt. Sein Leben steht an einem Wendepunkt. Zwölf Jahre lang hat seine Glanzzeit gedauert. Jetzt sind die Hauptwerke geschrieben, vorbei der Ruhm, die Verehrung. Vorbei auch die Einladungen an den Hof und in die reichen Pariser Salons. Von jetzt an geht’s bergab.
„Jetzt beginnt das Werk der Finsternis“, schreibt er. 16 Jahre wird er noch leben. Es ist eine Zeit von „erschreckendem Dunkel“. Er geht unter in den „Abgrund der Leiden“. Rousseau übertreibt immer. Seine Memoiren strotzen vor Übertreibungen, vor Superlativen: positiven und negativen.
Er kapselt sich immer mehr ab. Er beschreibt seine Depressionen. Später werden Ärzte vermuten, er habe an Porphyrie gelitten, einer Stoffwechselkrankheit. Er leidet unter Angstzuständen und hat krampfartige Unterleibsschmerzen.
Ist er der Vater seiner Kinder?
Vor allem macht sich sein altes Leiden wieder bemerkbar. Seit seiner Geburt hat er eine verkrümmte Harnröhre. Stechende Schmerzen sind die Folge. Bei der kleinsten Aufregung muss er Wasser lösen. Zeit seines Lebens hat er Dutzende Ärzte konsultiert und Dutzende Kuren gemacht. Erfolglos. Um Erleichterung zu schaffen, haben ihm Ärzte Sonden verordnet, die er einführt.
Seine Harnröhren-Probleme haben Forscher immer wieder vor die Frage gestellt, ob er denn überhaupt zeugungsfähig gewesen sei. Sind die fünf Kinder, die seine Lebensgefährtin Thérèse geboren hat und die er im Findelhaus abgeben liess, etwa nicht seine Kinder?
Das käme Rousseau-Anhängern gelegen. Es würde ihn von viel Schmach befreien, denn nichts wird ihm so angekreidet, wie das Weggeben seiner Kinder. Wären es aber tatsächlich nicht seine Kinder, wäre die Tat zumindest verständlicher.
Und doch deutet nichts darauf hin, dass es nicht seine Kinder sind. Mediziner betonen, dass sein Harnröhren-Problem die Zeugungsfähigkeit nicht einschränke. Zudem gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass Thérèse, die mit ihm durch dick und dünn ging, einen Liebhaber hatte. Und wieso hätte Rousseau in seinen späteren Jahren so sehr darunter gelitten, die Kinder weggegeben zu haben, wenn es nicht seine gewesen wären? In seinen Schriften bezeichnet er sich selbst als „Schuft“.
Salamaleikum Jean-Jacques
Die Sonden, die er einführen muss, behindern ihn, vor allem beim Gehen. So kommt er auf die Idee, eine Art Kaftan zu tragen, unter dem er die Sonden verbergen kann. Ein armenischer Schneider kommt oft nach Môtiers. Bei ihm bestellt Rousseau einen armenischen Kaftan mit Pelzhut. Das Gemälde von Allan Ramsay, das Rousseau als Armenier zeigt, gehört zu den meistverbreiteten Porträts von ihm.
Rousseau fragt den Pfarrer des Dorfes, ob er in dieser Tracht nicht Anstoss errege. Der Pfarrer antwortet, er könne sogar so in der Kirche erscheinen. Und Lord Keith begrüsst den „Armenier“ Rousseau mit einem freundlichen „Salamaleikum“. Doch im Dorf ist man weniger freundlich. Der Kaftan und der Pelzhut erregen Aufsehen und Kritik.
In Paris und Genf geht inzwischen die Polemik gegen ihn weiter. Seine beiden „Discours“, sein Erziehungsroman „Emile“ und der „Gesellschaftsvertrag“ treffen die Mächtigen und die Kirche im Mark. Da Rousseau in der Bevölkerung und vor allem bei den Intellektuellen immer mehr Anhänger hat, gehen die Machthaber immer härter gegen ihn vor.
Kirchliches Mobbing
Ein obrigkeitliches Mobbing beginnt. Flugblätter, die er nie verfasst hat, tauchen auf; sie tragen seine Unterschrift. Bücher mit läppischen Ideen werden vertrieben, unter seinem Namen. Er hat sie nie geschrieben, und sie liefern den Behörden einen Vorwand, um gegen ihn zu wettern.
Dem Erzbischof von Paris gefällt es gar nicht, dass Rousseau im Erziehungsroman „Emile“ schreibt, die Kirche solle sich aus der Erziehung der Kinder heraushalten. Er verfasst einen Hirtenbrief. Darin wird Rousseau arg zerzaust. Das will der Angegriffene nicht auf sich sitzen lassen. Er schreibt eine Schmähschrift gegen den Erzbischof.
Nicht nur die katholische Kirche in Frankreich fühlt sich angegriffen: auch die protestantische in Genf und Bern. Das Mobbing beginnt Wirkung zu zeigen. Ist Rousseau eben vielleicht doch ein „Anti-Christ“? Wurden seine Bücher vielleicht doch zu Recht verbrannt? Die Genfer Calvinisten und die französischen Katholiken beginnen Druck auf die Neuenburger Geistlichkeit aufzubauen.
“Von der Lustseuche zerfressen“
Nach dem Druck folgt die Hetze. Sogar von der Kanzel herab wird Rousseau angegriffen. Thérèse wird beschimpft und mit Kieselsteinen beworfen. Jetzt wird die Geschichte verbreitet, dass die beiden ihre fünf Kinder „auf die Strasse gesetzt haben“. Steine werden gegen ihr Haus geworfen, immer grössere.
Rousseau lässt sich nicht provozieren. Standfest geht er täglich spazieren, lässt sich beschimpfen und mit Steinen bewerfen. „Man verfolgte mich wie einen Werwolf“. Ein Bauer habe gesagt: „Bring mir mein Gewehr, damit ich ihm eins auf den Pelz brennen kann.“ Die Bewohner behaupten, er „schleppe eine Soldatendirne hinter sich her“, er sei „durch Ausschweifungen verbraucht“ und „von der Lustseuche zerfressen“.
In der Nacht nach dem Jahrmarkt in Môtiers versucht man in sein Haus einzubrechen. Wieder werden Steine geworfen. Rousseau schreibt, ein schwerer Brocken sei durch das Küchenfenster im ersten Stock bis zu seinem Schlafzimmer geschleudert worden. Wäre er dort gestanden, wäre er verletzt worden.
Die Wache registriert den Fall. Die Behörden werden aufgescheucht. Jetzt bittet man Rousseau und Thérèse das Dorf zu verlassen. Die Neuenburger Pastorengesellschaft, die „Vénérable Classe et Compagnie des Pasteurs“, hat ihr Ziel erreicht. Der Pfarrer von Môtiers, der Rousseau zunächst freundlich gesinnt war, ist längst eingeknickt.
Genug von den kalten Wintern
So müssen denn Jean-Jacques und Thérèse wieder ihre Sachen packen. Vielleicht tun sie das gar nicht ungern. Vielleicht haben beide längst genug von Môtiers, seinen bäurischen Bewohnern und seinen kalten Winter. Vor allem Thérèse leidet darunter.
Rousseau kennt die Petersinsel im Bielersee schon. Im Jahr zuvor hat er sie besucht. Er war begeistert. Die Halbinsel ist für ihn das Paradies.
Hat er die Steinwürfe in der Nacht des Jahrmarktes etwas aufgebauscht? Es würde viel Kraft brauchen, einen grossen Steinbrocken von der Strasse durch die Küche im ersten Stock ins Schlafzimmer zu schleudern. Hat Rousseau den Zwischenfall nicht zum Vorwand genommen, um Môtiers zu verlassen?
Diese Ansicht schliesst Roland Kaehr nicht aus. Er ist Ethnologe in Neuenburg und Konservator des Rousseau-Museums in Môtiers. Das Musée befindet sich im Haus, in dem Rousseau und seine Gefährtin gelebt haben. Viel ist seither zerstört und umgebaut worden. Doch die Sammlung, die Kaehr hier zusammengetragen hat, ist faszinierend: alte Stiche, alte Gravuren, alte Gemälde. Mit Kaehr könnte man stundenlang über Rousseau reden. Er kennt jedes Detail. Er weiss, in welcher Ecke Rousseau geschlafen hat, er weiss, dass er stets stehend geschrieben hat.
Rousseaus Aufenthalt in Môtiers hat auch ein Heer von Künstlern angezogen. Das Val de Travers wird damals gemalt und gezeichnet, was das Zeug hält. Von keinem andern Neuenburger Tal gibt es so viele Gemälde, Stiche und Zeichnungen. Da sieht man Rousseau vor dem Wasserfall, den er so liebte, oder vor der geheimnisvollen Grotte, die er bewunderte. Manche dieser Gemälde sind im Museum zu sehen.
Doch in Neuenburg hat das Museum in Môtiers einen bescheidenen Stellenwert. Das Budget ist minim. Besucher sollten sich anmelden, damit sie nicht vor verschlossenen Türen stehen.
“Ich kann nur denken, wenn ich gehe“
So flüchten denn Jean-Jacques und Thérèse auf die Petersinsel im Bielersee. Die gehört zwar zu Bern. Doch Freunde von ihm wollen erfahren haben, dass die Berner den Philosophen dort ungestört leben lassen wollen. Er zieht mit Thérèse ins einzige Haus auf der Halbinsel, in jenes des Steuereinziehers.
Rousseau unternimmt lange Spaziergänge, träumt vor sich hin und tut jetzt das, was er am liebsten tut: Er widmet sich der Botanik. Wer den einstündigen Fussweg von Erlach durch das Naturschutzgebiet auf sich nimmt, kann das Zimmer von Rousseau im Restaurant St. Petersinsel besuchen. „Ich habe an so manchem reizendem Orte geweilt; nirgends aber fühlte ich mich so wahrhaft glücklich wie auf der St. Petersinsel,“ schreibt er.
Doch schnell ist es mit der Idylle vorbei. Die Berner erfahren von seinem Aufenthalt und weisen ihn aus. Rousseau flüchtet nach Strassburg, dann über Paris nach England. Schliesslich kehrt er nach Frankreich zurück, wo er in Paris 66-jährig stirbt.
Auf der Petersinsel und im Val de Travers erlebt Rousseau zum letzten Mal die romantische Natur, die er so liebt. Täglich ist er mehrere Stunden zu Fuss unterwegs. „Ich kann nur denken, wenn ich gehe“, sagt er einmal. „Wenn ich stillstehe, denke ich nicht mehr.“
Musée Jean-Jacques Rousseau
Rue Jean-Jacques Rousseau 2
2112 Môtiers
Kontaktsadresse:
Roland Kaehr
Rue J.-de-Hochberg 16
2000 Neuchâtel
+41 (0) 32 860 11 94
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[email protected]
www.rousseau300.ch
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