Zurzeit haben bekanntlich Experten das Wort. Wir hören gebannt, was sie zu sagen haben, aber zugleich wächst auch die Skepsis gegenüber ihren Ratschlägen und ihrer Legitimität. Man hört Unkenrufe über eine Expertokratie oder „Medicokratie“, über den „virologischen Imperativ“, gar über einen von Epidemiologen definierten Ausnahmezustand. Immer regt sich dabei eine gewisse Indigniertheit gegenüber einer „staatlichen Bevormundung“ des souveränen Bürgers, der doch selber wisse, was er zu tun habe und wie er sich verhalten solle.
Wir befinden wir uns zweifellos in einem Suk der Experten. Kein Politiker, kein Konzern, keine Organisation, die auf lokaler oder globaler Bühne ihren Part spielen möchte, kann heute noch auf das Expertenurteil verzichten. Das zieht sich mittlerweile bis in unseren Alltag hinein. Die Regale der Buchhandlungen biegen sich unter der Last der Ratgeber. Wie es scheint, gibt es vor, während und selbst nach dem Leben kaum noch etwas, worüber nicht schon Expertenmeinungen abgesondert worden wären.
Schwindendes Vertrauen in Experten
Nun beschleicht einen schnell der paradoxe Eindruck, dass proportional zur Expertenschwemme das Vertrauen in die Leute vom Fach schwindet. Ein zentraler Grund liegt darin, dass sich das Verhältnis des kritischen Bürgers zur Wissenschaft generell gewandelt hat. Lange Zeit war diese Beziehung geprägt von einem Idealbild des Wissenschafters auf erhöhtem Podest, der – eigentlich gar nicht von dieser Welt – uns sagt, wie die Welt wirklich tickt. Noch Einstein konnte seinesgleichen zu „Tempeldienern“ der reinen Erkenntnissuche hochstilisieren.
Uns Heutigen erscheint dieses Bild zunehmend als Augenwischerei, vielleicht aus enttäuschten Erwartungen in ein wissenschaftliches Ethos, das sich regelmässig diskreditiert sieht. Wir sind irritiert, wenn uns die eine Studie Kohlenhydrate empfiehlt, die andere davon abrät. Wir sind indigniert, wenn ein Mediziner wie Andrew Wakenfield 1998 einen Zusammenhang zwischen Autismus und einem Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln konstruiert, nur um diesen Impfstoff im Auftrag einer Interessengruppe in Misskredit zu bringen.
Wie viel Expertentum verträgt eine liberale Demokratie überhaupt? Politiker müssen immer mehr Entscheidungen auf der Grundlage von Kompetenzen treffen, die sie selber nicht haben, sondern an moderne wissenschaftliche „Geheimräte“ delegieren. Sie sind abhängig von Ausschüssen, Stäben, Kommissionen, deren Zusammensetzung sich vielfach einer demokratischen Kontrolle entzieht. Zudem spielt hier so etwas wie eine gegenseitige Verführung hinein: Wenn Politiker ihre Entscheidungen auf wissenschaftliche Basis stellen, dann können sie sich dabei verleitet fühlen, auch einen Teil ihrer Verantwortung an die Wissenschafter zu delegieren; was wiederum diese verleiten kann, unter dem Mantel der neutralen Expertise Verfügungsgewalt auszuüben, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.
Gerade weil Politik und Wissenschaft untrennbar verflochten sind, sollte man die Legitimitäten klar trennen: Politiker sind (auf Zeit) legitimiert, Entscheidungen für die Gesellschaft zu treffen, Wissenschafter nicht. Wissenschafter sind legitimiert, z. B. die Schadstoffkonzentration in der Luft festzustellen. Sie können daraus legitimerweise gewisse Szenarien für die Gesellschaft ableiten und womöglich gewisse Massnahmen empfehlen. Aber sie können nicht legitimerweise selber Schadstoffgrenzen festsetzen. Denn dies ist letztlich ein politisches (demokratisches), kein wissenschaftliches Problem: Welche Luft wollen wir? Suchte Wissenschaft solche Fragen zu entscheiden, so überforderte, ja, missbräuchte sie ihre Legitimität. Ohnehin riskiert Wissenschaft ihre Vertrauenswürdigkeit, wenn sie sich zu sehr in die öffentliche Sache – ein Minenfeld von Normen, Interessen, Vorurteilen – einmischt. Was umso schwerer wiegt, als eine offene Gesellschaft auf das Vertrauen in die Wissenschaft baut.
Der Wissensbürger
Eine demokratische Wissensgesellschaft braucht deshalb einen neuen Typus Bürger: den Wissensbürger, Menschen also, die sich nicht nur durch ein Mindestmass an wissenschaftlicher – und wissenschaftstheoretischer! – Bildung auszeichnen, sondern über wissensbürgerliche Kompetenzen verfügen. Ein entsprechendes Unterscheidungsvermögen scheint mir vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie an Gewicht zu gewinnen: Wie unterscheiden wir den Experten vom Nicht- oder Pseudo-Experten?
Darauf gibt es keine einfache und allgemeine Antwort. Expertise ist ein weites Feld. Und genau aus diesem Grund werden wissensbürgerliche Kompetenzen im Suk der Experten in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen. Das meiste, was wir wissen, glauben wir zu wissen. Das erscheint heute unumgänglich. Aber wir sollen qualifiziert glauben.
Qualifizierter Glaube beruht auf einer scheinbar paradoxen Mischung aus Skepsis und Vertrauen gegenüber dem täglichen Ausstoss an Wissen. Er bedeutet, dass der Wissensbürger sich nicht für dumm verkaufen lässt von Lobbyisten, die ihm erzählen, gewisse wissenschaftliche Debatten seien noch nicht abgeschlossen. Der Wissensbürger misstraut Erklärungen, die komplexe Phänomene auf simple Kausalmechanismen oder patente Kalkulationen reduzieren. Er vertraut dem Expertenurteil, das ihm Lösungen als Handlungsoptionen verständlich offeriert und nicht als Handlungzwänge („Fakten“) auferlegt. Er schenkt dem Wissenschafter Glauben, der – um hier Bismarks berühmtes Wort aus der Politik zu übernehmen – als „ehrlicher Makler“ des Wissens auftritt.
Eine Wissens- und Vertrauensgemeinschaft
Das Informationszeitalter mutiert insgeheim zu einem Zeitalter der Desinformation. Die Überinformiertheit macht uns nicht kognitiv autonomer, sondern vielmehr abhängiger vom Urteil anderer Leute oder auch künstlicher Ratingsysteme. Der Appell an die Autorität erstarkt. Aber an welche? Als tendenziell fatal stellt sich jetzt heraus, dass die Wissenschaft in der Postmoderne an Autorität eingebüsst hat – aus welchen Gründen auch immer. Sie muss sich mit pseudo- und parawissenschaftlichen „Autoritäten“ messen, mit medialen Schlaubergern und Schlitzohren, mit Ideologen und politischen Fatzkes. Und dies ausgerechnet in einer Situation, in der wir – nicht nur politische Entscheidungsträger, sondern jede Bürgerin und jeder Bürger – vital auf „gesunde“ Informationen angewiesen sind.
Sheila Jasanoff, Professorin für Wissenschaftspolitik an der Harvard University, hat schon in den 1990er-Jahren das Ideal einer Wissens-und Vertrauensgemeinschaft in die Diskussion gebracht. Eine Gemeinschaft, die für sich bestimmte Verbindlichkeiten ausgehandelt hat und diese nun in Wissen umzusetzen sucht. Nur so lasse sich verhindern, dass der unvermeidbare Dissens der Experten in lange und gesellschaftlich unfruchtbare Debatten ausarten würde. Der viel gehörte Ruf „mehr Forschung“ ist zwar wichtig, aber zuviel Forschung kann die politische Entscheidungsfindung hemmen oder auf die lange Bank schieben. Wissenschaft öffnet uns bestenfalls die Augen, aber sie begründet keinen „zwingenden“ politischen Gang. Wer so etwas beansprucht, ist entweder ein Ignorant oder ein Ideologe (oder meist beides).
Das Expertentum eigener Erfahrung
Nicht zuletzt aber löckt der Wissensbürger immer wieder mit der subversiven kleinen Frage gegen den Stachel der Expertise: Sind wir Laien denn wirklich so inkompetent, dass wir stets und überall die Meinung des Experten einholen müssen? Sind wir nicht selber auch Experten im alten Sinn des Wortes „expertus“, was so viel bedeutet wie „erfahren sein“? Genau darum geht es nämlich: die „Expertise“ eigenen Lebens, eigenen Denkens und Handelns einzufordern und zu fördern. Sie ist die schlechteste nicht. Und vor allem ist sie unverzichtbar. Denn gewisse Probleme sind zu ernst, um der Wissenschaft allein überlassen zu werden.
Vor allem aber geht es nicht bloss um die Frage, ob wir mit hinreichender Genauigkeit und Gewissheit die Zukunft voraussehen können, sondern darum, dass wir einen gewissen Common Sense nicht verlieren, der uns lehrt, nicht nur traditionelle und liebgewordene Perspektiven zu hätscheln, sondern sie auch zu verabschieden, wenn es an der Zeit ist. Das Risiko der Wissensgesellschaft lauert nach wie vor in jenem Zustand, aus dem zu befreien sie uns verspricht: in einer neuen selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen.