Jedes Zeitalter hat seine Heldenepen. Unseres erzählt mit Vorliebe Geschichten von technischen Tausendsassas: Diesel, Edison, Ford, Tesla, Gates, Jobs, Musk. Wer aber kennt zum Beispiel Bill und Lizzy Ott? Der Farmer aus Kansas und seine Tochter bauten in der Depressionszeit der 1920er Jahre ein Modell T von Ford zu einer Waschmaschine um. Genauer gesagt, entfernten sie den Reifen eines Hinterrads und befestigten einen Transmissionsriemen, um dadurch den Automotor als Antrieb einer Wäschemangel zu benutzen. Bill und Lizzy Ott kommen in keiner Geschichtsschreibung der Technik vor; und zwar nicht nur, weil ihre Innovation auf den Hausgebrauch beschränkt blieb, sondern auch, und das ist in diesem Zusammenhang wichtiger, weil die gängige Historiographie der Technik keinen Platz für diese kleinen Exploits der Ingeniosität hat. Ja, wir lächeln bestenfalls etwas mitleidig über sie. Aber dieses Lächeln sollte uns zu denken geben.
Innovate or die
Der Zeitgeist liebäugelt mit der Innovation. Das „neue grosse Ding“ hat Sex-Appeal. Technik, so lautet eine weitverbreitete Ansicht, verändert Gesellschaft und Kultur durch Innovationen. Der Weg dieser Veränderung wird dabei in der Regel als eine Einbahnstrasse gezeichnet, in Richtung Verbesserung, Fortschritt, Beherrschung der Welt.
Nun sei keineswegs in Abrede gestellt, dass Innovationen eine Triebkraft ökonomischen Wachstums darstellen, obwohl unter Wirtschaftwissenschaftern umstritten ist, in welchem Mass sie dies tun. Auf jeden Fall entpuppt sich unser Zeitalter als geradezu innovationssüchtig. Und Innovationssucht fördert das Geschäft. Unter dem Diktat des Neuen werden wir im fiebrigen elektronischen Basar fast täglich mit aktualisierten Versionen irgendeines Gadgets oder einer App überschüttet, ohne uns zu fragen, ob und wozu wir den Schnickschnack überhaupt brauchen. Ja, wir werden darauf abgerichtet, nicht mehr zu fragen, sondern nur zu nutzen. Der Nutzer ist die Ratte in der Skinnerbox der Marketingpsychologie.
Die kurze Geschichte der Innovation
Der Begriff der Innovation schaut auf eine kurze Geschichte zurück. Er kam auf, als in den 1980er Jahren in den USA Wirtschaftssektoren wie etwa die Autoindustrie zu stagnieren begannen, und ein neuer Schlager dringend nötig war, den die Geschäftswelt mitsingen konnte. „Innovationspolitik“ hiess das Zauberwort, das serbelnde Wirtschaftszweige in blühende Äste verwandelte. Silicon Vally wurde zum stellvertretenden Inbegriff technischer Innovation. Heerscharen junger Zauberlehrlinge aspirierten nach technischen „Durchbrüchen“, welche die Gesellschaft von Grund auf aufmischen würden.
Dabei entdeckte man auch den österreichischen Wirtschaftstheoretiker Joseph Schumpeter wieder und stilisierte ihn gleich zur Kultfigur hoch. Er war es, der den Doppelbegriff Innovation–Unternehmen prägte, wodurch der innovative Unternehmer zur griffigen Leitfigur der Ära wurde. Vor allem setzte sich das Konzept der schöpferischen Zerstörung durch – Schumpeter gebrauchte auch die biologische Analogie der „industriellen Mutation“ – , wonach Altes zuerst zunichte gemacht werden müsse, um Neues zu bauen. Ein zutiefst unhistorisches Konzept, das eigentlich Technikgeschichte als alten Hut erscheinen lässt. Es gibt die Geschichte der Innovationen, der Rest ist Schrott.
Kreolen: Indigene Techniknutzer
Aber mit Schrott lässt sich sehr kreativ umgehen. Das zeigt ein Blick auf die Technik in sogenannt traditionellen Gesellschaften. Technikgeschichte hat ja ohnehin ein westliches, vom weissen Mann geprägtes Bias. Dadurch weist sie auch einen blinden Fleck auf gegenüber einem Typus von Technikentwickler, der vor allem in nichtwestlichen, ärmeren Ländern von grosser Bedeutung ist: der kreolische Techniker. Der Begriff des Kreolischen mag in diesem Zusammenhang etwas gewöhnungsbedürftig sein – hat er doch primär in der Linguistik Fuss gefasst –, aber er eignet sich sehr gut zur Charakterisierung einer Form von technischer Entwicklung eigener Art. Ganz allgemein könnte man von derivativer Technologie sprechen: Technologie also, die von ihrer ursprünglichen Zwecksetzung und Funktion abgeleitet wird.
Wir verstehen das Verhältnis von reichen zu armen Ländern der Welt in der Regel als sogenannten Technologietransfer. Nun verrät schon der Begriff eine Asymmetrie: Etwas wird vom technisch entwickelteren zum technisch weniger bis unterentwickelten Partner transferiert. Wellblech, Eternit oder Zement zum Beispiel wurden nicht in der armen Welt erfunden, sie wurden in sie transferiert, anschliessend lokal hergestellt und sie erfreuen sich hier weiter Verbreitung.
Das Innovationspotenzial kreolischer Technologie
Kreolische Technologie ist aber nicht einfach transferierte Technologie. Sie zeigt immer Merkmale eines anderen, indigenen Gebrauchs. Oft ist sie eine Mischform aus Tradiertem und Neuem. So findet man in asiatischen Ballungszentren alte Fortbewegungsmittel „kreolisiert“, zum Beispiel die Rikscha, eine Fortentwicklung der Sänfte. Die von Menschen gezogene Laufrikscha kam nach dem 2.Weltkrieg ausser Gebrauch, da als herabwürdigend empfunden. Aber die Fahrrad-, später die Motorradrikscha traten ihre Nachfolge an und sie sind heute in vielen asiatischen, neuerdings auch in europäischen Städten, ein populäres Transportvehikel.
Sie sind eine Hybridisierung von Altem und Neuem, die man etwa auch bei den sogenannten „country-boats“ auf den Gewässern Bangladeschs beobachten kann. Diese schmalen Holzkähne, handgemacht von armen Wanderarbeitern, wurden in den 1980er Jahren umgerüstet, das heisst, mit billigen chinesischen Dieselmotoren versehen, die eigentlich für die Bewässerungspumpen gedacht waren. Weil sie die meiste Zeit des Jahres unbenutzt blieben, sah man in ihnen eine neue Verwendung als Bootsmotoren. Später wurden zudem die Materialien erneuert, statt aus Holz begann man die Boote nun aus Eisenblech und rezykliertem Stahl zu fertigen. Neuerdings werden sie sogar mit Radar und Sonar ausgerüstet.
Innovations-Kolonialismus
Der Innovationsbegriff selbst übt ja – ob intendiert oder nicht – einen kolonisierenden Einfluss aus. Er ist asymmetrisch, usurpiert die Definitionsmacht, was als seriöse technische Entwicklung zu gelten hat. Der Kolonialismus war immer geprägt von der Zentralperspektive der Macht. Auf sie hin wurde die Welt und ihre Geschichte orientiert: Hier das Zentrum, darum herum gelagert der Rest. Auch der Begriff der Innovation führt eine solche Zentralperspektive ein. Sie definiert, was innovativ ist. Was nicht der Definition genügt, fällt aus dem Gesichtsfeld heraus, existiert eigentlich nicht. Setzt man dann noch Innovation mit Digitaltechnologie gleich, baut man einen systematischen blinden Fleck für alles Nicht-Digitale in seinen Blick ein, wie auch der europäische Kolonialismus meist blind war für alles Nicht-Europäische.
Indigenes Wissen
So werden allgemein anerkannte technologische Durchbrüche wie zum Beispiel die sogenannte grüne Revolution gern mit westlichem Bias gezeichnet: als Triumph einer innovativen Methode mit chemischen und gentechnologischen Mitteln. Man unterschlägt dabei, dass der Erfolg der neuen „disruptiven“ Technologien auf indigenes Wissen über traditionelle Zucht- und Pflanztechniken abstellte, die sich den lokalen Bedingungen anpassen, was ja durchaus auch als innovative Leistung zu sehen ist. Die grüne Revolution in Indien verdankte den einheimischen Bauern viel, die mit Engagement und Experimentierbereitschaft dafür sorgten, dass die „transferierte“ Saat auf ihren kargen Böden gedieh. Manchmal tüftelten die Bauern selber mit Saatgut weiter, das die Forscher aufgegeben hatten.
Das geschah zum Beispiel mit der Reissorte IR24. Sie wurde gegen eine schädliche Pilzart entwickelt, zeigte aber nicht die gewünschte Wirkung. Einheimische Bauern verwendeten die Reissorte weiter und erzielten einen anderen Erfolg. Sie entdeckten zwar nicht eine pilzresistente Reissorte, dafür eine andere, die grössere Resistenz gegen eine lokale Insektenplage aufwies als die von der Wissenschaft anerkannten Sorten. Ähnliche Entwicklungen sind auch in Afrika oder Südamerika zu beobachten. Das lokale Wissen über wandelbare Umweltbedingugen ist gerade in der Landwirtschaft oft unverzichtbar, weil viel adaptiver und flexibler als das universelle Wissen unter kontrollierten Laborbedingungen.
Der proto-totalitäre Anspruch
Die obsessive Beschäftigung mit stets Neuem lenkt vom eigentlichen Problem ab: Wir betrachten Technisierung und Industrialisierung als Massstab unserer kulturellen Entwickeltheit. Dieser Massstab wird der Evaluation unserer Lebenswelten viel zu selbstverständlich angelegt, im Sinn und Geist des Axioms: Mehr Technik ist immer gut. Dagegen lässt sich solange nichts einwenden, als ein Problem eindeutig als technisches definierbar ist. Genau dies wird freilich immer schwieriger. In einer Gesellschaft, in welcher der Mensch in zunehmend engerer Symbiose mit der Technik lebt, lassen sich die Probleme auch nicht mehr einfach „entmischen“. „Wenn wir es gut machen, glaube ich, dass wir alle Probleme der Welt lösen können“, posaunte Eric Schmidt von Google 2012, und die Chuzpe, mit der er dies tat, verrät oder besser: verbirgt die Machtaspiration des Techno-Unternehmens, unilateral das zu definieren, „was wir gut machen“. „Solutionismus“ nennt der Technikkritiker Evgeny Morozov diesen proto-totalitären Anspruch.
Eine Geschichte der nicht eingeschlagenen Wege
Als wie überkandidelt man solche Visionen auch ansehen mag, sie akzentuieren die Notwendigkeit einer anderen Erzählung. Die Siegergeschichtsschreibung der Technik sieht nur die eingeschlagenen Wege zur Gegenwart. Sie müsste ergänzt werden durch eine Geschichte der nicht eingeschlagenen Wege, die bevölkert sind von Bill und Lizzy Otts in allen Gebieten der Erde. Man betreibt auf diese Weise nicht einfach eine nostalgische Aufwertung der Schrottplätze. Man rückt den Nutzer der Technik in den Fokus. Es geht also um eine anthropozentrische Technik, statt um eine technozentrische Anthropologie, um die Frage: Welche Technik will der Mensch? und nicht: Welchen Menschen will die Technik?
Vergessen wir dabei vor allem nicht, dass „die“ Technik eigentlich nichts „will“. In ihr verbergen sich immer menschliche Interessen, nicht selten: Machtinteressen. Sie zu entlarven gehört zu einer anderen, zu einer subversiven Technikgeschichte. Sie wäre Teil einer Emanzipation des Menschen, die gerade heute, durch den technischen Fortschritt, gefährdet ist.