Der Paladar San Cristóbal in Havanna ist kein durchschnittliches Privatrestaurant. Auf antik getrimmtes Geschirr, «made in USA», edle Kristallgläser, Stoffservietten. Koloniales Mobiliar, ausgesuchte alte Fotografien und Dekorationen an den Wänden, Kristalllüster hängen von hohen Decken, angenehmer Service und ausgezeichnetes Essen. Man fühlt sich mitten im zerbröckelnden Zentrum von Havanna in die guten, schlechten alten Zeiten vor der Revolution zurückversetzt. Die Preise sind moderat, zu zweit kommt man mit einigen Mojitos, einer guten Flasche Wein und einem ausführlichen Gelage auf weniger als 100 Franken. Eine Zigarre und ein kleines Schmuckstück für die Dame gibt’s als Abschiedsgeschenk des Hauses. Allerdings hat man so fast das Jahresgehalt eines durchschnittlichen Kubaners verfuttert.
Es wird immer farbiger
Während vor wenigen Jahren noch vor allem in ländlichen Gebieten tristes Grau als Gebäudefarbe vorherrschte, sind jetzt flächendeckend bunte Farben für fröhliche Tropenstimmung besorgt. Und an Massen von besonders herausgeputzten Häusern prangt ein Schild: «se vende», zu verkaufen. In Havanna liegen unzählige Bauernmärkte mit üppigem Angebot in hartem Konkurrenzkampf, Sammeltaxis transportieren auf festen Routen Touristen und Ausländer für 10 Pesos (umgerechnet 40 Rappen) von einem Ende der Riesenstadt ans andere.
Eine Fahrt zum 120 Kilometer entfernten Flughafen von Varadero mischelt man sich für 40 Franken. Der Privatunternehmer erkundigt sich vorher, ob man lieber einen Oldtimer oder einen klimatisierten Neuwagen möchte. Das müde Haupt kann man in einem der vielen Casas Particulares betten, mit oder ohne Familienanschluss, mit oder ohne Pool. Die Prostituierten sind fast restlos aus den Strassen Havannas verschwunden, nur in den einschlägigen Discotheken findet der lüsterne Tourist ein umfangreiches Angebot.
Es wird immer widersprüchlicher
Die kommunistische Partei, immer noch mit dem politischen Machtmonopol ausgestattet, hat fürs kubanische Kleinunternehmertum die Schleusen so weit geöffnet, dass man wohl von einem unumkehrbaren Prozess sprechen kann. Zum ersten Mal in der 54-jährigen Geschichte der Revolution wurden zwar zögerlich, aber doch ein paar hunderttausend Staatsangestellte entlassen. Die Libreta, Rationierungskarte, existiert nur noch als Schatten ihrer selbst. Auch ein kubanischer Hungerkünstler kann mit der Handvoll Reis, Bohnen, Zucker, Brot, ein paar Tropfen Speiseöl und ab und an einer fleischähnlichen Draufgabe zu staatlich subventionierten Preisen nicht mehr überleben. Mit seinem Durchschnittseinkommen von rund 300 Pesos kann er sich vielleicht einmal im Monat einen Besuch auf dem Markt leisten, um für eine vierköpfige Familie höchstens eine Wochenration einzukaufen. Dennoch herrscht kein Hunger. Ein Mülltonnen durchwühlender Bettler ist die absolute Ausnahmeerscheinung. Niemand weiss, wahrscheinlich nicht mal der immer noch muntere Fidel Castro, wie das möglich ist.
Die Gekniffenen
Genauso unerklärlich ist, wie Schulen und Spitäler – manchmal mehr schlecht als recht, aber immerhin – weiter funktionieren. Lehrer, Ärzte, Wissenschaftler, Architekten, Krankenschwestern, überhaupt Staatsangestellte verdienen weiterhin ein Trinkgeld im Vergleich zu einem geschickten Händler oder Kleinunternehmer. Produziert wird im Land fast nichts, der Export von verfeinerten Produkten, wenn man Zigarren mal ausnimmt, ist nicht nennenswert. Dafür werden weiterhin über 80 Prozent des Ölbedarfs, über 90 Prozent der Nahrungsmittel, dazu alles von Kühlschränken, Ventilatoren bis hin zu Papierservietten importiert. Auch Fidel Castro weiss, dass das solange gut geht, wie Venezuela den grossen Zahlmeister spielt. Aber diese Geld- und Ölquelle wackelt, politisch und wirtschaftlich.
Andererseits hat Kuba zum grossen Erstaunen aller selbsternannten Kubaexperten schon fast 25 Jahre seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers, das die Insel über Wasser hielt, überstanden. Also herrscht bei allen Kubanern die Überzeugung, gespeist aus revolutionärem Elan oder völlig apolitischer Geschäftstüchtigkeit: Die Insel ist unsinkbar, irgendwas geht irgendwie immer.
Aber die Jugend
Vor einer geradezu titanischen Aufgabe stehen aber alle kubanische Eltern, die ihre Sprösslinge dazu überreden wollen, eine anständige Ausbildung, natürlich am besten an der Universität, zu absolvieren. Ist weiterhin gratis und gut. Aber all die Mühe, um dann allenfalls 500 oder maximal 800 Pesos zu verdienen? Jahrelanges Schuften dafür, während Altersgenossen legal, halblegal oder illegal mit Handeln, Mischeln, Bescheissen oder Abzocken ohne grosse Mühe an einem Abend mehr verdienen als Vater und Mutter zusammen in einem Monat? Wenn schon Ausbildung, dann mit dem Ziel: anschliessend nichts wie weg von der Insel. Das ist die Meinung der überwältigenden Mehrheit der kubanischen Jugend.
Andererseits, sonst wäre es nicht Kuba, ist das nach der weitgehenden Abschaffung aller Ausreisehürden leichter denn je. Aber auch der junge Kubaner ist ein anhängliches Wesen, liebt Mama, Papa, Onkel und Tante, die Grosseltern, seine Geschwister, die Freunde, den Geruch, den Geschmack, die Musik, die Kultur, die Mentalität Kubas. Und der Traum, dass bald mal alles besser wird, der ist unsterblich. So wie der Comandante en Jefe. Das befürchten zumindest viele Kubaner, andere sind davon überzeugt. Denn immerhin hat er seine eigene Diktatur überlebt, wieso sollte ihn da sein Regime nicht überleben?