Wissenschaftliche Suche nach Erkenntnis führt nicht immer vom Nichtwissen zum Wissen. Oft führt Forschung vielmehr zum Nichtwissen. Das ist schwierig, weil Wissenschaft sich ja auch «verkaufen» muss. Umso mehr sollten Hochschulen das Ethos des Nichtwissens hochhalten.
Ein altes Bonmot sagt: Es ist schwierig, eine schwarze Katze in einem dunklen Raum zu finden; vor allem, wenn es darin keine Katzen gibt. Man tappt buchstäblich im Dunkeln und sucht nach der Katze, ohne zu wissen, ob sie überhaupt existiert. Viele naturwissenschaftlichen Forschungsgebiete sind in diesem Sinn dunkle Räume. Man ist auf Vermutungen über schwarze Katzen angewiesen.
Immer wieder erfolgen entscheidende Erkenntnisdurchbrüche dadurch, dass man hypothetische schwarze Katzen einfach postuliert. Hier ein Beispiel aus der Physik: Der geniale Theoretiker Paul Adrian Dirac formulierte 1928 ein höchst elegantes Bewegungsgesetz für Elektronen mit hoher Geschwindigkeit. Es galt allerdings auch für positiv geladene Elektronen. «Gibt es nicht!», riefen die Physiker. Aber Dirac blieb fest: Ich tue einfach so, als ob es sie – die schwarze Katze – gäbe, und rechne damit. Und siehe da: 1932 wurde das Teilchen in der kosmischen Strahlung nachgewiesen. Heute gehören positiv geladene Anti-Elektronen – Positronen – zum festen Inventar der modernen Physik. Das PET-Verfahren (Positronen-Emissions-Tomographie) als bildgebende Medizintechnologie kommt nicht aus ohne sie.
Inexistente schwarze Katzen
Die schwarze Katze kann sich aber durchaus als inexistent erweisen. Die Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit ist auch eine Geschichte von Diskursen über inexistente Dinge: über Lichtkorpuskel bei Newton, den Wärmestoff Phlogiston in der älteren Chemie, den Lichtäther in der Elektrodynamik, den sonnennächsten Planeten Vulkan in der Astronomie, morphogenetische Felder in der Biologie, Neurotelepathie in der Hirnforschung, Computronium – programmierbare Materie – in der Künstlichen Intelligenz. Es handelt sich dabei nicht um Science Fiction, sondern um zeitweilig ernsthaft diskutierte Forschungsprobleme. Ludwig Wittgensteins Satz «Die Welt ist alles, was der Fall ist» trifft auf die Wissenschaft nicht zu, vielmehr: Die Welt ist alles, was möglich ist.
Nichtwissen bedeutet, dass etwas fehlt. Dies wiederum kann zweierlei bedeuten: Uns fehlen die Daten oder uns fehlt das Konzept. Das Suchen nach Daten heisst Empirie, das Suchen nach einem Konzept heisst Theorie. Stellen wir uns die Theorie als Lichtkreis einer Laterne vor. In diesem Lichtkreis lässt sich empirisch vieles finden. Wissenschaft bringt Licht ins Dunkel, sagt man. Das stimmt indes nur zur Hälfte. Wissenschaft erschliesst uns auch neue dunkle Räume.
Was ist Materie? Wir wissen es nicht
Das Standardmodell der Materie ist eine solche Laterne. Die Physiker haben in ihrem Lichtkreis viele Antworten auf die Frage «Was ist Materie?» gefunden. Aber zunehmend sind sie sich bewusst, dass sie eigentlich eine weiter leuchtende theoretische Laterne benötigen. Immer leistungsstärkere und exaktere Detektoren liefern Daten über die Elementarteilchen, die nicht ins Standardmodell passen. Fast scheint es, als seien die Physiker richtig erpicht darauf, Fingerzeige auf das Dunkel ausserhalb des Lichtkreises zu erhaschen. Und das geschieht vor allem in der schlecht belichteten Randzone.
Zum Beispiel untersucht ein Team am Paul Scherrer Institut das Verhalten von Neutronen und Myonen, das nicht ins Standardmodell passt. Das Motiv umschreibt der Teamleiter Klaus Kirch mit beachtlichem Freimut: «Wir können es uns nicht leisten, in diese sehr dunkle Ecke nicht hineingeleuchtet zu haben.» Das deute ich so: In der Elementarteilchenphysik muss man ins Dunkle hineinleuchten, um eines guten wissenschaftlichen Rufs willen. Ohnehin kennt die Physik nach Schätzungen lediglich etwa fünf Prozent der Materie im Universum. Der Rest ist – buchstäblich – dunkle Materie. Da dürften einige schwarze Katzen lauern, etwa hypothetische Teilchen wie das Axion oder das Wimp («weakly interacting massive particle»).
Das Nichtwissen würdigen
Der Nobelpreis würdigt oft die Entdeckung einer schwarzen Katze, in wissenschaftlicher Terminologie: die empirische Bestätigung einer Hypothese. Man deutet dies gewöhnlich so: Was vorher eine blosse Vermutung, also eigentlich Nichtwissen war, verfestigt sich zu Wissen. Damit verknüpft man das traditionelle Bild einer Einbahnstrasse des Fortschritts, die vom Nichtwissen zum Wissen führt. Aber der umgekehrte Weg charakterisiert den wissenschaftlichen Geist ebenso. Das Nobelpreiskomitee deutet dies an, wenn es in die Begründung des Preises Bemerkungen einfliessen lässt wie «hat ein neues Feld aufgetan» oder «hat die Disziplin in eine unerwartete Richtung geführt».
Natürlich profitieren Forscher vom traditionellen Bild. Wie sonst sollten sie ihr Tun plausibel machen. Niemand erhält Fördergelder, um das Nichtwissen zu erweitern. Ein bisschen Aufschneiden schadet nicht. Nun vernimmt man gegenwärtig speziell aus Gebieten wie Gehirn- und Computerwissenschaften grossspurige Verlautbarungen über «disruptive» Erkenntnisschübe: etwa über ein universelles Prinzip in der Erklärung des neuronalen Geschehens; oder den Durchbruch zu einem bewussten Roboter.
Hier wäre proportional zur wissenschaftlichen Extravaganz ein «abkühlender» Wissenschaftsjournalismus angesagt, der auch ein Gegenbild über den Stand des Nichtwissens auf diesen Gebieten zeichnet, uns kritisch über dunkle Räume und schwarze Katzen informiert.
Der Slogan «Der Wert der Wissenschaft liegt ebenso im Nichtwissen wie im Wissen» richtet sich nicht zuletzt gegen ein eindimensionales «finalisierendes» Forschungsverständnis. Wissenschaft ist nicht Wissensdienst, kein Unternehmen, das unter Vorgabe von Zielen und Plänen seine problemlösenden Produkte – «silver bullets» – liefert. Und Wissenschaft lässt sich nicht, wie das Mantra «Rohstoff Wissen» suggeriert, als blosse Ressource für industrielle Anwendung und Vermarktung vereinnahmen. Wissen ist ohne Zweifel ein Produktionsfaktor, aber Erkenntnissuche setzt Nichtwissen voraus als eine Tugend, ein Ethos, als eigentlicher Beweger der Forschung! Neugier speist sich von Nichtwissen. Daher wäre es angezeigt, statt vom «Rohstoff Wissen» vom «Treibstoff Nichtwissen» zu reden. Zumal Hochschulen sollten den intellektuellen Mut an den Tag legen, dieses Ethos neben aller Exzellenzhuberei öffentlich hochzuhalten.
Das 21. Jahrhundert – ein Zeitalter schwarzer Katzen
Meine Beispiele stammen vorwiegend aus der Physik, weil sie im Ruf eines wissenschaftlichen Leuchtturms steht. Sie zeigt anderen Disziplinen, «wo es lang geht». Aber die Deutung ihres Erfolgs ist eigentlich ein Missverständnis. Ihre Vorbildrolle sollte nicht bloss darin bestehen, dass sie viel erklärt, sondern auch, dass sie ebenso viel zum Rätsel macht. Erinnern wir uns an den Anfang des 20. Jahrhunderts: «In der Physik gibt es nichts Neues mehr zu entdecken. Was uns bleibt, sind immer präzisere Messungen.» Man schreibt die Aussage Lord Kelvin zu, einer Koryphäe der damaligen Physik. Welch epochaler Irrtum! Das 20. Jahrhundert hat sich als eine Ära physikalischer Entdeckungen nie vorgestellten Ausmasses herausgestellt.
Im 21. Jahrhundert dürfte ein Disziplinenkonglomerat aus Mikrobiologie, Neurogenetik, Quanteninformatik, KI-Forschung die Leuchtturmfunktion übernehmen. Und wenn dieser Leuchtturm auch hoch und lichtstark sein wird, braucht es weder besondere Kühnheit noch Hellsichtigkeit, ein Zeitalter schwarzer Katzen vorauszusagen.