Seit der Zürcher Philippe Jordan die künstlerische Leitung der Pariser Oper übernommen hat, zeigt diese Überragendes in musikalischer Hinsicht. Beide Orchester spielen unter seiner Leitung präziser und ausdrucksvoller als früher. Er hat für jeden Komponisten eine eigene Konzeption, und die Stimmen der Sänger sind nun speziell aufeinander abgestimmt. Jordan begeistert damit das Publikum so sehr, dass er oft frenetisch bejubelt wird.
Was die Inszenierungen angeht, hat Paris allerdings gegenüber der Intendanz seines Vorgängers verloren. Gerard Mortier setzte auf Regietalente wie Luc Bondy und Kristof Warlikovsky, probierte viel Neues aus, und bescherte den Parisern Triumpfe und Skandale. Das Publikum des Abonnements aber wollte keine Überraschungen und liess Mortier gerne nach Madrid ziehen.
Haarige Männerbeine
Jetzt ist es an der Pariser Oper ruhiger und übersichtlicher geworden. Überraschendes kommt eher aus der Provinz und Lyon hat sich da den Spitzenplatz erobert. Zuerst liess die Stadt sich das Opernhaus von Jean Nouvel umbauen und erweitern. Es wurde ganz ausgehöhlt und erinnert nun von aussen an einen griechischen Tempel, von innen an einen Kinokomplex; ganz in Schwarz gehalten, mit Rolltreppen und männlichen Platzanweisern in seitlich hoch geschlitzten Trainerhosen, die haarige Männerbeine in zerschlissenen Turnschuhe bewundern lassen. Auch der Zuschauerraum ist ganz in Schwarz gehalten, um den Blick direkt zur Bühne zu lenken.
Hier werden unter der Indendanz von Serge Dorny Produktionen gegeben, die schon mal experimentell und oft politisch geprägt sind, und die auch flamboyanten Regisseuren eine Plattform bieten.
Chinesisches Schttenspiel
Auch der Kanadier Robert Lepage ist so ein Ausnahmetalent. Er inszenierte für die ’Growing Up’ Tour von Peter Gabriel, und für den ‚Cirque de Soleil’. Seine Truppe ‚Ex Machina’ experimentiert mit neuen Technologien und kreierte zum 400. Geburtstag von Quebec die grösste Architekturprojektion, die es je gab. Auch für die Stravinsky Oper liess er sich einiges einfallen.
Für die erste Hälfte, die russischen Fabeln in Versform, hatte er mit Philippe Beau ein chinesisches Schattenspiel entworfen, dass die Füchse, Katzen, Kaninchen, Hähne und Mäuse so lebendig werden liess, dass die Kinder im Zuschauerraum vor Vergnügen quietschten.
Der zweite Teil, das Märchen nach Hans Christian Andersen vom Rotkehlchen, das den chinesischen Kaiser entzückt und sogar von seiner tödlichen Krankheit heilt, ist aufwendiger gestaltet. Der Orchestergraben wurde zum See; das Orchester spielte auf der Bühne. Auf diesem See wurden die Marionetten als Darsteller in Booten bewegt. Die Sänger agierten auf Nebenbühnen oder dahinter. Die Produktion ist märchenhaft und ihre Ausführung, die Flüge des Rotkehlchens, wie die Verschiebung der Szenerie, meisterlich.
Bezüge zu Modest Mussorgski
Leider brachten diese Wundertaten ältere Damen ob des Staunens ins laute Sprechen. Sie mussten sich gegenseitig mit weit ausholenden Bewegungen die wunderbaren Vorkommnisse auf der Bühne zeigen und laut kommentieren. Dies beeinträchtigte die tadellose Interpretation von Stravinskys Musik durch das Orchester und den Chor der Opera de Lyon unter der kundigen Leitung von Alejo Perez. Besonders ärgerlich aber waren Störungen während des wirklich zu Herzen gehenden Gesangs des ‚Rotkehlchens’, der jungen Anna Gorbachyova aus dem Ural. Sie hat ihre Stimme mit einem seltenen Schmelz am Royal College of Music in London ausgebildet und war die eigentliche Entdeckung des Abends.
Igor Stravinsky hatte die Komposition der Musik 1911 auf seinem Gut in Russland begonnen; noch ganz unter musikalischen Einfluss seines Meisters Rimski-Korsakov. Dann aber in der Schweiz, in Morges, Salvan und Chateau-d’Oex, bis 1919 weiter daran gearbeitet und seine eigene Form gefunden. Der ‚Rossignol’ erinnert allenfalls in Partien an Modest Mussorgski. Bei der Erstellung des Libretto arbeitete Stravinski eng mit dem Westschweizer Schriftsteller Charles-Ferdinand Ramuz zusammen, der über diese Zusammenarbeit sogar ein Essay schrieb.
Lyon ist seiner Oper willen eine Reise wert. Schon allein wegen dieser Produktion.