Jeder Italienreisende kennt die uralten Dörfer mit ihren engen Gassen, mit dem Dorfplatz und dem Kirchturm, die von felsigen Anhöhen emporstreben, als wollten sie dem Himmel näher sein als der Erde. In einem solchen Dorf spielt Ignazio Silones frühester und bekanntester Roman «Fontamara». Schauplatz der Handlung ist die Gebirgsgegend der Abruzzen; wir befinden uns in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts.
Archaische Welt
Der Autor, im Jahre 1900 in dieser Gegend als Secondino Tranquilli geboren, kannte das Land, und seine Schilderung zeugt von tiefer Vertrautheit mit seinen Bewohnern. Es sind arme Menschen, die in Fontamara leben, einer Örtlichkeit, die sich auf keiner Karte findet. «Das Elend», schreibt Silone, «war in Fontamara so althergebracht und naturgegeben wie Regen, Wind und Schnee. Das Leben der Menschen, der Tiere und der Erde schien in einem unveränderlichen Kreise eingeschlossen zu ein wie in einem Gefängnis... Ein Jahr war wie das andere, eine Generation wie die andere. Niemand konnte sich vorstellen, dass diese alte Art zu leben sich jemals ändern würde.»
Die Bauern von Fontamara, die Cafoni, bebauen entweder ein kleines Stück eigenes Land oder arbeiten als Tagelöhner bei den Grossgrundbesitzern unten in der fruchtbaren Ebene. Sie sprechen einen Dialekt und können die italienische Hochsprache nur mit Mühe lesen und schreiben. Man hört sie selten singen, wohl aber klagen und fluchen. In den Städten fühlen sie sich unwohl, und der industrielle Fortschritt erreicht sie nicht. Die Cafoni sind es seit jeher gewohnt, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Von Regierung und staatlicher Verwaltung wissen sie nichts und wollen nichts davon wissen. Da sie keine Steuern zahlen, wird ihnen die Stromzufuhr abgeschnitten. Ihre Einkünfte sind so gering, dass für Vergnügungen nichts und zum Essen wenig bleibt: ein Stück Brot, etwas Käse, eine Zwiebel und ein Glas Wein.
Das Wasser abgegraben
Die eigentliche Geschichte beginnt damit, dass eines Tages Strassenarbeiter in Fontamara erscheinen, um einen Teil des Wassers umzuleiten, welches das Dorf seit alters her versorgt. Eine Gruppe von Frauen macht sich auf den Weg in die Kreisstadt, um beim Bürgermeister dagegen zu protestieren. Die Frauen erfahren, dass der bisherige Bürgermeister abgesetzt und durch einen Fremden, einen Unternehmer, ersetzt worden ist. Sie treffen den Unternehmer und die angetrunkenen Honoratioren der Kreisstadt nach einem Festbankett, können aber in ihrer Angelegenheit nichts erreichen. Die Strassenarbeiter fahren damit fort, von bewaffneten Wächtern geschützt, das Wasser abzugraben.
Doch die Dorfbewohner geben ihre Hoffnung nicht auf. Von den Respektspersonen der städtischen Gesellschaft erhalten sie keine Unterstützung. Der Geistliche Don Abbacchio weiss nur den einen Rat: «Verhaltet euch ruhig und betet zu Gott, das ist das einzige, was euch übrig bleibt.» Auch ein Anwalt, Don Circonstanza, der sich mit seiner verlogenen Jovialität den Ruf eines Volksfreundes erworben hat, hilft nicht weiter.
Aufkommender Faschismus
Als sich das Gerücht verbreitet, an einer grossen Versammlung aller Cafoni in Avezzano könne man seine Wünsche vorbringen, begeben sich die Männer von Fontamara dorthin. Sie zählen auf die neue Regierung in Rom und hoffen, ein Teil des Landes, das durch die Trockenlegung des Sees von Fucino gewonnen worden ist, könne ihnen vielleicht zugesprochen werden. Doch darüber ist längst ganz anders entschieden worden, und das gewonnene Land ist dem neuen faschistischen Podestà zugeteilt worden. Die Dorfbewohner müssen erkennen, dass sie lediglich beigezogen worden sind, um Spalier zu bilden und beim Besuch eines Ministers als Jubelkulisse zu dienen. Die Szene, von Silone mit ironischem Sarkasmus geschildert, erinnert an den opernhaften Pomp eines Mussolini-Auftritts in Fellinis Film «Amarcord».
Die Unbotmässigkeit der Dorfbewohner von Fontamara beunruhigt die Behörden. Eines Tages, als die Männer auf den Feldern arbeiten, überfällt ein motorisiertes Sonderkommando von zweihundert faschistischen Schwarzhemden das Dorf. Es handelt sich nicht um eine ideologisch geschulte und disziplinierte Truppe, sondern um Angehörige des städtischen Proletariats, die mit den Cafoni das Schicksal der Armut und existentiellen Ausweglosigkeit teilen. «Manche sahen aus wie Cafoni», schreibt Silone, «aber keiner besass ein Stück Land. Es waren vor allem Diener, Makler, Barbiere, stellungslose Kellner und wandernde Musikanten, die wenig verdienten und meistens vom Diebstahl oder von Gefängniskost lebten: Menschen ohne Familie, ohne Ehre und ohne Glauben.»
Diese Soldateska dringt in die Häuser ein und sucht nach Waffen. Man hört das Klirren von Fensterscheiben und die Schreie vergewaltigter Frauen. Als die Cafoni von ihrer Feldarbeit zurückkommen, werden sie, die von Politik kaum je gehört haben, einer Überprüfung ihrer politischen Gesinnung unterworfen. Die Szene, wie sie historisch vielfach verbürgt ist und wie sie Silone schildert, ist von kaum zu übertreffender Absurdität. Die Dorfbewohner, die nicht wissen, wie ihnen geschieht, werden dummdreisten Verhören unterzogen und entsprechend ihren konfusen Antworten in Kategorien eingeteilt: Reaktionäre, Anarchisten, Kommunisten, Sozialisten, Liberale. Doch das Sonderkommando kann seine Befragung nicht zu Ende führen. Als in der Glockenstube des Kirchturms die schmale Gestalt der jungen Frau Elvira erscheint, glauben die Schwarzhemden an eine Erscheinung der Madonna und ergreifen schreckerfüllt die Flucht.
Realismus und Sentimentalität
Der erste Teil von Silones Romans vermag noch heute durch die Nüchternheit und Strenge des Stils zu überzeugen. Wieder wird das Problem der Modernisierung thematisiert. Die traditionelle Gemeinschaft einer Dorfbevölkerung wird, anders als in den damals viel gelesenen Heimatromanen, in keiner Weise verklärt oder idealisiert. Einzelne Bewohner des Dorfes, von Arbeit und Entbehrung gezeichnete Männer und Frauen, werden knapp und treffsicher porträtiert. Der Leser spürt, dass diese Menschen nicht mehr über die Kraft verfügen, sich gegen ein Schicksal aufzulehnen, welches von den meisten als gottgewollt akzeptiert wird.
Weniger überzeugend ist die Liebesgeschichte, welche Silone in den Roman einbringen zu müssen glaubte. In Fontamara lebt ein junger, kräftig gebauter Mann, Berardo Viola, dem man zutraut, die Anliegen der Dorfbewohner durchsetzen zu können. Er liebt die schöne junge Frau Elvira, deren Erscheinung die Schwarzhemden in die Flucht schlug. Elvira liebt ihn. Doch Berardo besitzt kein Land, und sein Stolz verbietet ihm, um die Hand der jungen Frau anzuhalten, bevor er selbst Landbesitzer ist. Obwohl er wie ein Lasttier arbeitet, verdient er auf dem Land zu wenig. Er fährt mit einem andern Dorfbewohner nach Rom, um Arbeit zu finden. Sie werden zusammen mit einem fremden Unbekannten, einem Kommunisten, der zu ihnen gestossen ist, bei einer Razzia verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.
Helden, Opfer und Märtyrer
Der Unbekannte erzählt Berardo, er sei derjenige, der in den Abruzzen antifaschistische Flugblätter verteilt habe und polizeilich gesucht werde. Da fasst Berardo den Entschluss, in die Rolle dieses Agenten zu schlüpfen. Die Nachricht vom Tod der Elvira bestärkt ihn darin, den Opfertod zu sterben, damit der Kommunist freigelassen wird und seine subversive Tätigkeit fortsetzen kann. Berardo stirbt an den Folgen der Folter. Der Dorfbewohner, der ihn begleitet hat, muss unterschriftlich bezeugen, sein Freund habe Selbstmord begangen. Dann wird er freigelassen.
Berardo und Elvira erscheinen am Schluss des Romans als Märtyrer: christlicher Glaube und kommunistische Überzeugung verbinden sich in merkwürdiger Allianz. Der Gefolterte wird mit Christus am Kreuz verglichen: «Am Ende des Verhörs», schreibt Silone, «brachten sie ihn in die Zelle zurück, indem sie ihn an Armen und Beinen schleiften wie man es mit Christus getan hat, als er vom Kreuz genommen wurde.» Elvira aber wird auf einer Pilgerfahrt von einer plötzlichen Krankheit heimgesucht. In ihren Fieberfantasien wendet sie sich an Berardo, opfert ihm ihr Leben und bittet Gott um die Gnade, in Fontamara sterben zu dürfen.
Am Schluss des Romans überfallen die Faschisten Fontamara und bringen die Bewohner, die nicht fliehen können, um. Der Roman endet mit den Worten: «Was tun?» Es sind dies dieselben Worte, die Wladimir Iljitsch Lenin 1902 als Titel über eine seiner wichtigsten Kampfschriften setzte.
Silones Weg zum Kommunismus
Der Roman «Fontamara» ist im Jahre 1929 in einem Davoser Sanatorium, wo sich der exilierte Schriftsteller zur Behandlung einer Tuberkulose aufhielt, entstanden. Das Buch wurde ausserhalb Italiens zum Erfolg, machte den Namen des Autors bekannt und schuf ihm eine materielle Lebensgrundlage. Schon in früher Jugend hatte sich Silone, aus bescheidenen Verhältnissen stammend, für die Landbevölkerung seiner Heimat eingesetzt. Bei einem Erdbeben hatte er seine Mutter und fünf Geschwister verloren.
Gravierende Mängel bei der Behebung der Erdbebenschäden machten ihn auf die sozialen Missstände und die verbreitete Korruption aufmerksam. Mit siebzehn Jahren schrieb er seine ersten kritischen Artikel für die sozialistische Zeitung «Avanti». Im Jahre 1921 gehörte Silone zu den Gründern der kommunistischen Partei Italiens und nahm im Juni am III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale in Moskau teil. Dann arbeitete er als Redaktor bei der kommunistischen Zeitung «Lavoratore» in Triest. Hier begegnete er seiner langjährigen Partnerin und Genossin Gabriella Seidenfeld.
Zweifel am Stalinismus
Nach Mussolinis Machtergreifung verliess Silone Italien und erhielt den Auftrag, für die Jugendinternationale in Madrid zu wirken. Er wurde verhaftet, kam wieder frei, gelangte nach Barcelona, wurde erneut verhaftet, entfloh nach Paris und wurde von dort nach Italien abgeschoben. In den Jahren 1925 und 1926 arbeitete er, für Presse und Propaganda zuständig, im Untergrund. Nochmals fuhr er nach Moskau, und es meldeten sich bei ihm erste Zweifel an der Diktatur des Proletariats, wie sie Stalin nach Lenins Tod zu verwirklichen begann.
Im November 1927 emigrierte Silone in die Schweiz; sein Bruder Romulo starb als politischer Häftling im Gefängnis. In den folgenden Jahren kam es zwischen dem Schriftsteller und der Parteiführung zu Differenzen, und Silone wurde 1931 aus der Partei ausgeschlossen. Jahre später hat er sich in seinem autobiografischen Bericht «Notausgang» dazu so geäussert: «Was mir bei den russischen Kommunisten auffiel, auch bei so aussergewöhnlichen Persönlichkeiten wie Lenin und Trotzki, war ihr absolutes Unvermögen, mit einem Minimum an Loyalität über Ansichten zu diskutieren, die nicht den ihrigen entsprachen. Durch die blosse Tatsache, dass man ihnen zu widersprechen wagte, war man zum Opportunisten oder zum Verräter gestempelt.»
Schweizer Exil
In der Schweiz verkehrte Silone im Kreis der emigrierten Schriftsteller; Zürcher Literaten wie François Bondy und Rudolf Jakob Humm waren mit ihm befreundet. Zwischen 1931 und 1933 unterhielt er ein Liebesverhältnis mit der Schriftstellerin Aline Valangin, der Ehefrau des in moralischen Dingen grosszügigen jüdischen Anwalts Wladimir Rosenbaum. In ihren Erinnerungen äusserte sich die Schriftstellerin über Silone. «So gescheit er war, empfand er mich doch immer als Bourgeoise, als Feindin, jedenfalls als ein unwichtiges, wenn auch gefälliges Anhängsel.» Die Beziehung endete, als Aline Valangin an der Fasnacht 1933 im ersten Stock des Café Odeon, den es leider nicht mehr gibt, mit Humm Küsse tauschte. Kein Zweifel: In Silones Leben behauptete die Politik immer den ersten Platz.
Im Jahre 1934, kurz nach Hitlers Machtergreifung, erschien im Zürcher Europa-Verlag Silones Werk «Der Fascismus» [sic!]. Dieser Verlag, von Emil Oprecht geleitet, machte sich einen Namen mit der Edition von Büchern, die in Nazi-Deutschland nicht oder nicht mehr erscheinen konnten; sein grösster Erfolg war Hermann Rauschnings «Die Revolution des Nihilismus». Auch das von persönlichen Erfahrungen geprägte Sachbuch «Der Fascismus» war erfolgreich. In einem weiteren Werk unter dem Titel «Die Schule der Diktatoren» setzte Silone seine Kritik am italienischen und deutschen Totalitarismus auf geistreiche Art fort. Er kleidete seine Kritik in die Form von Gesprächen, die zwei seltsame Amerikaner, Mr. Döbbl Juh und Mr. Pickup, mit einem italienischen Emigranten führen – eine Form der Camouflage, die den Autor vor dem Vorwurf der Schweizer Behörden, er betätige sich politisch, schützen sollte.
Neben diesen politischen Büchern schrieb Silone weiter Romane und Erzählungen, so den Roman «Brot und Wein» der erneut in den Abruzzen spielt und unverkennbar autobiografische Züge trägt. Erzählt wird die Geschichte von Pietro Spino, der sich dem Kommunismus zuwendet, und, um nicht erkannt zu werden, in die Rolle eines Priesters schlüpft. Camus, selbst überzeugter Antifaschist und Angehöriger der «Résistance» im Zweiten Weltkrieg, sah in dieser Figur den klassischen Typus des «homme révolté» verwirklicht.
Antikommunistische Wende
Nach dem Weltkrieg setzte Silone seine journalistische und politische Tätigkeit fort, in der Hoffnung, im Kalten Krieg beim Aufbau einer dritten Kraft zwischen den Machtblöcken des westlichen Kapitalismus und des östlichen Kommunismus mithelfen zu können. Im Jahre 1950 nahm er in Westberlin am «Kongress für kulturelle Freiheit» teil, der von Melvin Lasky, dem Chefredaktor der Zeitschrift «Der Monat» veranstaltet wurde. Weitere prominente Teilnehmer waren der Historiker Benedetto Croce, die Philosophen Karl Jaspers und Bertrand Russell sowie der Schriftsteller André Malraux. Der Kongress wurde durch den amerikanischen Nachrichtendienst, die CIA, finanziert, um dem Einfluss der sowjetischen Kulturpropaganda auf die westeuropäischen Intellektuellen entgegenzutreten.
Im Jahre 1956 gründete Silone die Zeitschrift «Tempo presente», welche ebenfalls Zuwendungen von der CIA erhielt. Die Niederschlagung der Freiheitsbewegungen in Budapest (1956) und Prag (1968) bestärkten Silone in seinem Antikommunismus; zugleich war er davon überzeugt, dass der westliche Kapitalismus «kein Modell für den Postkommunismus» sein könne. In den sechziger Jahren war Ignazio Silone als begehrter Vortragsreisender in Sachen geistiger Freiheit tätig, als «Christ ohne Kirche und Sozialist ohne Partei», wie er von sich sagte. Er starb 1978 in Genf.