Das Literaturcafé „Sphères“ in Zürich West ist bis auf den letzten Platz besetzt. In der vordersten Reihe sitzen die über 90-Jährigen. Sie sind die Stars in diesem Buch, das hier vorgestellt wird *). Hinter ihnen befinden sich ihre Angehörigen, Töchter, Söhne, Enkel, Urenkel. Der jüngste ist einige Monate alt.
Vorne auf dem Podium sprechen die renommierte TV-Dokumentarfilmerin, Journalistin und Buchautorin Marianne Pletscher und der Fotograf Marc Bachmann. Sie zeichnen ein überraschendes Bild dieser alten Menschen und räumen mit vielen Klischees auf.
Wer glaubt, im hohen Alter würde man nur noch lethargisch herumhängen, sei lebenssatt und lebe in den Tag hinein, wird hier eines Besseren belehrt. Viele der hier anwesenden Ü-90-Menschen benutzen das Handy und den Computer, skypen, fahren Auto, lesen, sind politisch interessiert, helfen anderen. Viele haben einen dichten Terminkalender.
Acht Frauen und zwei Männer haben die Autoren porträtiert. Frauen leben nun mal länger, deshalb kommen sie in diesem Buch häufiger vor.
Journal21.ch: Marianne Pletscher, wie haben Sie die Leute ausgesucht?
Marianne Pletscher: Ich habe Freunde und Bekannte gefragt, ob sie Menschen kennen, die über 90 sind und bereit wären, sich porträtieren zu lassen. Ich habe dann telefonisch Kontakt mit ihnen aufgenommen. Aus fast 20 Kandidaten habe ich neun ausgewählt und sie dann besucht.
Wie verliefen die Besuche?
Ich besuchte sie zwei-, dreimal. Viele haben sich schön angezogen, Sonntagsbluse und so. Die Gespräche dauerten jeweils zwischen zwei bis fünf Stunden. Eine Tochter war misstrauisch. Sie glaubte, ich sei eine Enkelbetrügerin und sass als Aufpasserin eine halbe Stunde neben ihrem Vater. Doch der ist selbstsicher und wäre nie auf einen Enkelbetrüger reingefallen.
Die ausgewählten Personen sind kein repräsentativer Querschnitt der über Neunzigjährigen.
Nein, das soll es auch nicht sein. Ich habe Menschen ausgewählt, die im hohen Alter eine positive Ausstrahlung haben. Ich will mit meinem Buch Mut machen. Ich will zeigen, dass man das hohe Alter gut leben kann, aber man muss auch selber etwas dazu beitragen.
Würden Sie sagen, die ausgewählten Personen sind privilegiert?
Sie sind insofern privilegiert, als alle ein teils enges Beziehungsnetz haben. Sie werden betreut von Kindern, Enkeln, Nachbarn und anderen Helfern. Viele von ihnen wohnen in der Nähe. Das Generationenwohnen wird da und dort neu entdeckt.
Wer soll das Buch lesen?
Wir möchten, dass das Buch auch von Jüngeren gelesen wird: als Vorbereitung für das Alter. Zudem geben die Texte Impulse für den Umgang mit den älter werdenden Eltern.
Hedy Rieser, 95-jährig
Sie lebt in einem Alterszentrum bei Zürich. „Ich helfe allen, die nicht mehr gut zu Fuss sind, ich schiebe die Leute mit dem Rollstuhl, wohin sie auch immer wollen, und berate sie bei ihren Problemen.“ „Dass ich nicht immer einkaufen und kochen muss und trotzdem immer etwas Gutes zu essen kriege, finde ich toll.“
- „Ich weiss eigentlich gar nicht, wie alt ich bin. Ich fühle mich nicht alt, nur als der älteste Sohn pensioniert wurde, merkte ich es kurz.“
Sie empfinde alt sein als etwas Positives. Sie nehme nichts mehr besonders ernst und tragisch. „Nichts mehr belastet mich wie früher.“ „Wenn ich in den Spiegel schaue, gibt es schon ein paar Falten, die mich stören.“
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Johanna Fischer, 91-jährig
Auf dem Tisch liegt die „Finanz und Wirtschaft“. Sie sitzt am Computer. Ihr Tag ist ausgefüllt.
- „Im Moment habe ich gerade Stress.“
Sie lebt allein in einer Wohnung, hilft anderen beim Ausfüllen der Steuererklärung. Seit jeher handelt sie mit Aktien, auch für enge Freunde und Bekannte. Hat sie Erfolg damit? „Ja, es geht immer rauf und runter, aber ich bin mehr im Plus als im Minus.“ Ist sie eine Spielernatur? „Eigentlich schon, aber ich gehe nur bei meinen eigenen Aktien Risiken ein.“
Silvana Lattmann, 100-jährig (Bild siehe oben)
Die Italienisch-Stämmige ist ausgebildete Biologin, Schriftstellerin. Ihr Lebensthema sei ein Kampf gegen den Krieg, sagt sie.
- „Seit ich Schriftstellerin bin, kämpfe ich mit der Feder ... Ich kämpfe so intensiv, dass ich eigentlich den Friedensnobelpreis verdient hätte.“
„Nata il 1918“ heisst ihr autobiografischer Roman, der 1942 endet. Jetzt schreibt sie eine Fortsetzung. Mit dem neuen Buch habe sie sich zu viel zugetraut: Auftritte in Zürich, an der Buchmesse in Mailand, in London, auf Elba. „Das war zu viel.“
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Leni Altwegg, bald 95-jährig
„Jetzt muss ich nichts mehr, nicht kochen, nicht putzen, ich darf nur noch.“ Sie hat auf dem zweiten Bildungsweg Theologie studiert und wurde als eine der ersten Frauen Pfarrerin, und zwar in Schlieren und Adliswil. „Ich fand es immer lustig, dass ich Pfarrerin sein durfte und noch nicht einmal das Stimmrecht hatte.“ Sie trat dann aus der EVP aus. „Die waren so rechts, es war nicht mehr auszuhalten.“ „Es mag seltsam tönen, aber am meisten liebte ich Abdankungen, da kommt man den Menschen am nächsten. Allerdings musste ich immer aufpassen, dass ich nicht weinen musste, wenn ich über eine mir nahestehende Person sprach. ... Einmal gab mir die Tochter eines Verstorbenen ein Valium, dass ich durchhielt.“
Leni Altwegg war eine sehr politische Person, engagierte sich unter anderem in der Anti-Apartheid-Bewegung und wurde deswegen in der Schweiz fichiert. Nach gesundheitlichen Problemen dachte sie an Exit. Exit und Theologin? Für sie kein Widerspruch. „Wenn Gott den Freitod ausschliessen würde, müsste man auch die Schmerzbekämpfung verbieten. Freiwilliger Alterssuizid? „Ich glaube schon, dass man es erlauben sollte, aber man muss einen Grund haben, um sich umzubringen, man kann mit dem Leben nicht so liederlich umgehen und es einfach wegschmeissen ... Vielleicht wenn man allein oder einsam ist, ist das anders.“
- „Ich bin manchmal schon lebenssatt und möchte gehen, anderseits ist meine Lebenslust viel grösser seit ich so alt bin ... Jetzt ist mir viel klarer, wer ich bin. ... Ich habe erst jetzt angefangen, wirklich zu geniessen.“
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Ernst Gerber, 95-jährig
Er arbeitete mit seiner Frau in der Zigarrenfabrik in Pfeffikon. „Ich gehe noch heute jeden Tag eine Stunde laufen, und zwar wandern, nicht einfach nur ein bisschen spazieren.“
- „Die Berge werden niedriger, aber die Lust am Laufen bleibt.“
Er wohnt allein und ist viel unterwegs. Eine Frohnatur. Auf dem Matterhorn war er zweimal. Er war Präsident in der Sektion Homberg des Alpenklubs und schwärmt noch immer von den Bergen. Mit 93 hörte er auf, Auto zu fahren. „Ich hätte den Service machen müssen und neue Pneus kaufen. Das wäre teuer gewesen ... Da habe ich mir gesagt, da hörst du lieber grad auf.“ Mit Fahrplänen und Wanderkarten organisiert er seine Zugreisen. „Der Stationsvorstand sagt mir oft, viele können heute schon gar keine Fahrpläne mehr lesen.“
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Rösli Vogel, 95-jährig, Willi Vogel, 94-jährig
Sie ist überzeugt, dass genetische Gründe ausschlaggebend für die Langlebigkeit sind. Er meint, sein Bewegungsdrang habe ihm zum hohen Alter verholfen. Er war Mitglied des Arbeiter-Fussballclubs Zürich und spielt heute noch Tennis. Die beiden trafen sich immer wieder auf der Zürcher Allmend zum Velofahren, Baden und Spielen. „Sogar ein Badehäuschen mit Sanitätsraum, Bademeister und Kiosk gab es dort“, erzählen sie. Alles gratis, das war wichtig, denn Geld besassen sie nicht viel. Röslis Eltern waren nicht begütert, der Vater war oft arbeitslos. Trotzdem nahmen sie während des Krieges unterernährte Kinder aus Frankreich und Österreich auf.
„Ich habe damals gelernt, was Solidarität heisst,“ sagt Willi Vogel.
Er wurde dann selbständiger Zahntechniker und das Geschäft lief wunderbar. Sie erledigte die Buchhaltung. Er trat der SP bei. Während des Vietnam-Krieges nahmen sie zwei kriegsgeschädigte vietnamesische Mädchen auf. Dreissig Jahre später besuchten Rösli und Willi Saigon. Da stand in der Ankunftshalle am Flughafen eine Frau und rief: „Vater, Mutter“. Übers Sterben reden sie mit Humor: „Wir können ja dann unsere Körper zu Studienzwecken bereitstellen“, witzelt Rösli. „Weh tut es ja dann nicht mehr, wenn sie an uns herumschnetzeln.“
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Vreni Marbacher: 94-jährig
Sie wohnte im Sensebezirk und war mit einem Spanienkämpfer verheiratet. Der Spanienkrieg war in ihrer Ehe sehr präsent. Nach der Franco-Zeit besuchten sie oft das Land. Ihr Mann starb 2003. Sie hatte viele Kontakte im Dorf, Mittagstisch, Mitglieder der Landfrauenvereinigung, Mitglied beim Naturhistorischen Museum, beim Tierpark Bern usw. Sie bezeichnet sich als Linke.
- „Denken die Grosskapitalisten denn nicht an die Zukunft ihrer Kinder? Wieso tun sie nicht mehr für die Umwelt?“
Würde sie eine Million gewinnen, würde sie die Bauern in Südamerika und Afrika unterstützen. „Über Gebresten reden ist nicht mein Ding, das interessiert doch niemanden.“ „Jung sein in der heutigen Zeit möchte ich nicht mehr. Ich sehe zu schwarz für die Zukunft.“ Sie lese jetzt alle Bücher in ihrem Regal, die sie nicht fertiggelesen habe. Kurz bevor das Buch in Druck ging, ist sie friedlich gestorben.
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Agnes Guler, 95-jährig
Sie war Kantonsrätin in Zürich und arbeitete früher in einer Wolldeckenfabrik in Sils im Domleschg. Der Fabrikherr, ein unangenehmer Mensch, wollte keine Gewerkschaften, keinen Gesamtarbeitsvertrag und zahlte keine Überstunden. Sie verdiente 20 Rappen die Stunde. Schon 1952 hatte sie an einem „Marsch auf Bern“ teilgenommen. Damals protestierten Textilarbeiterinnen und -arbeiter gegen Entlassungen. Alle, die am Marsch teilgenommen hatten, wurden vom Silser Fabrikherrn entlassen. Auch 1969 nahm sie am „Marsch auf Bern“ teil, als Emilie Lieberherr das volle Stimmrecht für Frauen forderte. „Wenn ich meine Jugend in die heutige Zeit verlegen könnte, würde ich vielleicht auch in ein Flüchtlingslager reisen, um dort zu helfen.“ Sie ist heute noch politisch sehr engagiert. Früher nahmen sie und ihr Mann auch ein Kleinkind einer fahrenden Familie auf, dessen Mutter nach der Geburt starb.
- „Abstimmen, mitdenken, mich informieren, diskutieren, das gehört zu mir.“
Jeden Sonntag politisiert in ihrer Wohnung ihre Familie bei einem guten Mittagessen.
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Vreni Weiss, 101-jährig, die Älteste der Interviewten
Sie lebt allein in einer Dreizimmerwohnung. Als sie in Luzern heiratete, mussten alle Gäste die Rationierungsmarken mitbringen, damit es genug zu essen gab. Ihr Mann kam mit einer Tuberkulose aus dem Militär zurück, war dann zeitlebens geschwächt und sie musste in die Hosen steigen. Sie ist viel gereist; sie war am Nordpol, in Australien und Südafrika. Vor zwei Jahren gab sie ihr GA ab. „Ohne GA bin ich fast in ein Loch gefallen, weil ich das Gefühl hatte, jetzt ist das Leben vorbei, jetzt ist meine Freiheit weg. Es war dann aber nicht so. Jetzt finde ich meine Freiheit auf dem Balkon und lese gerne.“ Sie ist glücklich, noch allein in einer Dreizimmerwohnung leben zu dürfen.
- „Nie könnte ich in ein Heim all die vielen Souvenirs und Fotos mitnehmen ... Sie sind meine Geschichte und mit ihnen fühle ich mich wohl.“
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Natürlich geht es nicht allen alten Menschen so gut, wie diesen, die in diesem Bildband porträtiert sind. Die Autoren lassen im Vorwort Dr. Roland Kunz, Geriatrie-Chefarzt des Zürcher Stadtspitals Waid, zu Wort kommen. „Trotz all dieser Mut machenden Geschichten von aktiven, hochaltrigen Menschen bin ich mir als Geriater aber auch bewusst, dass es viele betagte Menschen gibt, die auf Grund von Krankheiten und Einschränkungen auf fremde Hilfe angewiesen sind.“ Und er betont: „Das vorliegende Buch macht Mut und fordert heraus, unsere zementierten Vorstellungen von alten Menschen zu revidieren und ein neues Altersbild zu entwickeln.“
*) Marianne Pletscher, Marc Bachmann: „90 plus – mit Gelassenheit und Lebensfreude“. Zürich: Limmat Verlag, Mai 2019. 252 Seiten mit 145 farbigen Fotografien, CHF 38.--