Als sie denn einmal erfunden war, hat die Wäscherin Hanna die Bühnen der Welt im Sturm erobert. Doch wie viel sehr persönliche Suche, wie viel Arbeit dies erfordert hat, das zeigt Denise Schmids Biografie der Clownerin Gardi Hutter.
Den 24. Dezember 1972 verbringt die bald zwanzigjährige Gardi Hutter im Wald beim Schloss von Vincennes bei Paris und hat ein besonderes Erlebnis. Ein Freund hat ihr vom Théâtre du Soleil erzählt, das hier in einer ehemaligen Pulverfabrik das Revolutionsstück «1789» von Ariane Mnouchkine spielt. Der ganze Raum ist erfüllt von Lärm und Energie, Gardi Hutter «steht da, geht mit, staunt, schaut, lauscht und ist wie vom Blitz getroffen».
So beschreibt Denise Schmid in ihrer heute erscheinenden Biografie der Clownerin – diese Bezeichnung gefällt ihr selber am besten – jenes Erweckungserlebnis, das die junge Frau aus der Ostschweiz in Richtung Theater schubst. Noch einige Zeit wird es dauern, bis sie ihren Beruf findet, und noch länger, bis sie zu jener Figur gelangt, die sie seither nicht mehr loslässt: die dicke, lustige Hanna.
«Sie haben Talent, aber Sie sind klein, Sie werden nie eine Hauptrolle spielen,» sagt man ihr am Beginn ihrer Ausbildung. Doch seit 1981 spielt sie genau dies: die Hauptrolle. Es ist eine Hauptrolle, die unserer Gesellschaft mit ihrer glatten Oberfläche und ihren Schönheitsidealen den Spiegel vorhält. Zwischen Gardi Hutter und ihrer Welt pendelt Denise Schmid gekonnt hin und her.
Ablösung vom elterlichen Milieu
Erstaunlich dabei bleibt die Herkunft. Denn Gardi Hutter kommt aus einer ganz andern, einer kleinbürgerlichen und sehr katholischen Welt. Mit drei Brüdern wächst sie in Altstätten im sanktgallischen Rheintal auf. Unten im Haus ist das Kleidergeschäft der Eltern, oben wohnt die Familie. Sie besucht die katholische Primarschule, dann wird die rebellische Jugendliche in ein katholisches Internat geschickt und besucht schliesslich in St. Gallen die Kantonsschule. Wo sie in jenen grossen 68er-Aufbruch gerät, der die Ablösung von der elterlichen Welt entschieden beschleunigt.
Doch was sie einmal werden will, das weiss sie auch mit dem Handelsdiplom in der Tasche nicht. Jenes Gefühl des Fremdseins, das Gardi Hutter schon als Kind in sich trägt, begleitet sie weiter. In Paris erwacht die Theaterleidenschaft. Sie will jetzt an die Schauspielschule, will Theaterpädagogin werden.
Sie schafft die Aufnahmeprüfung, doch die Ausbildung verstärkt ihr Gefühl der Minderwertigkeit noch. Denn, sagt sie, «Männer dürfen klein, dick oder dünn sein, das trägt zu ihrem besonderen Charisma bei. Das Profil der Frauen aber ist viel enger, mit klaren Massen, ohne viele Varianten. Das war damals so und gilt weitgehend immer noch. Das Theater hält krampfhaft an den alten Frauenbildern fest, noch mehr als die Gesellschaft, der es vorausgehen sollte».
Gardi Hutter findet ihren Seelenzwilling
Den Ausweg findet sie weit weg von zu Hause, in Italien, bei einem zweimonatigen Clownkurs in Rom. Im Park der Villa Borghese kommt es im Sommer 1978 zu jener Begegnung, die ihr Leben verändert. Künstler zeigen unter freiem Himmel ihre Produktionen, sie lernt die drei Clowns des Teatro Ingenuo kennen. «Die drei Clowns hatten eine natürlich-absurde Art, die ich so noch nie gesehen hatte. Naiv, aber auch raffiniert, berührend und lustig.» Einer der drei, Ferruccio Cainero, wird ihr Partner, dann ihr Ehemann, er ist der Vater ihrer beiden Kinder, und noch heute, lange nach der Scheidung, ein sehr wichtiger Mensch in Gardi Hutters Leben. Ferruccio nennt sie «Anima gemella», seinen Seelenzwilling.
Doch so schön das anmutet, schwierig ist es auch. Als neues Mitglied des Teatro Ingenuo findet sie die ihr gemässe Rolle nicht, es gibt auch kaum Vorbilder für komische Frauen oder gar Clowninnen. Eine kleine Tür öffnet sich, als sie in Mailand in einem Clownstück eine dicke Sklavin spielt, und die «bravissima ragazza svizzera» weitherum Beachtung findet. Hier stösst sie auf die Urform für die später charakteristische clowneske Silhouette. Und als eine andere Nebenrolle ausfällt und sie den Leerraum füllen muss, macht sie die Erfahrung: Sie kann auch allein spielen. «Zuvor hätte ich mir ein solches Solo nie vorstellen können und habe es auch nicht angestrebt. Nun merkte ich: Das ist mein Ding.»
Ferruccio hilft ihr, die Grundidee für ein Stück umzusetzen. Langsam schält sich die Figur der Wäscherin Hanna heraus, die ein Buch über Jeanne d’Arc liest und davon träumt, selbst eine Heldin zu sein. Am 22. Mai 1981 ein erstes Mal aufgeführt, ist «Die tapfere Hanna» ihr Durchbruch. «Ich habe das, was ich negativ erlebt hatte, in der Figur Hanna überspitzt», erklärt sie rückblickend. «Ich erinnere mich an eine meiner Tagträumereien: Ich, ungewaschen, ungekämmt, hässlich und mürrisch, und alle lieben mich.»
Genauso ist es gekommen.
Denise Schmid: Trotz allem. Gardi Hutter, Verlag Hier und Jetzt, 2021 (Cover-Gestaltung: Vera Isler)