Die Welt verändert sich. Unsere Zuwanderungspolitik gerät angesichts der ungemütlichen Realität wachsender Flüchtlingsströme unter Druck. In Italien stauen sich an der Schweizergrenze Menschen auf der Suche nach einer besseren Welt. Dass darauf mit Misstrauen und Abschottungsversuchen reagiert wird, ist auf den ersten Blick nachvollziehbar.
Wie finden wir, bei näherem Hinsehen, jene Argumente, die uns erlauben, einem Teil dieser bedauernswerten Menschen Chancen in unserem Land zu eröffnen? In der Schweiz, dem Hort für Freiheit und Gleichheit aller?
Wie sagte Martin Buber: Das Prinzip des Dialogs als Grundlage menschlicher Beziehungen, das „Ich und Du“ als Menschlichkeitsprinzip meint, dass wir den anderen als unseresgleichen ansehen.
Grossvater, geboren in Italien
„Mein Grossvater Robert kam aus dem benachbarten Elsass. Bei einem Dorffest im Wallis lernte er eines Abends ein hübsches Mädchen aus der Nachbarschaft kennen, das später meine Grossmutter wurde. Mein anderer Grossvater, Gianni, kam aus Italien. Durch das Engadin und seine Seitentäler gelangte auch er ins Wallis und verliebte sich in die Frau, die meine andere Grossmutter werden sollte.“ Etwa so beginnt Johan Rochel seinen Essay „Die Schweiz und der Andere“, sein Plädoyer für eine liberale Schweiz.
Ähnliche Geschichten über ihre Vorfahren können Tausende von Schweizerinnen und Schweizern erzählen. Seit rund 70 Jahren überqueren sogenannte Fremdarbeiter unsere Landesgrenzen und strömen in die Schweiz. Anfänglich hatten sie unfreundliche Kommentare, problematische Witze, Misstrauen und scheele Blicke zu ertragen. Die Älteren unter uns erinnern sich zweifellos auch des Ohrwurms „I bin en Italiano und spiele guet Piano, I gange I d’Fabrigg und mache Stugg für Stugg.“
Der Rückblick in die Vergangenheit lässt uns realisieren, wie in relativ kurzer Zeit das Neue zum Alltäglichen mutierte. „Die Schweiz des 21. Jahrhunderts bietet uns riesige Freiräume, in denen wir unsere Lebensentscheidungen treffen können. Unsere Überzeugungen und unsere Träume führen uns zu neuen Freundschaften und auf neue Lebenswege.“ Der politische Philosoph (und foraus-Vizepräsident) Johan Rochel plädiert über 150 Seiten kompromisslos für die zentralen Werte Freiheit und Gleichheit im Umgang mit den Anderen.
Respekt und politische Teilhabe
Wenn Johan Rochel (Jahrgang 1979), der Politische Philosophie und Rechtswissenschaften an der Universität Bern studiert hat, in seinem „Projekt Schweiz“ eindringlich für Respekt und politische Teilhabe plädiert, meint er damit, dass jedes Mitglied dieses Projektes als gleichwertig anerkannt und respektiert werden muss. Er denkt dabei an einen neuen Patriotismus jenseits von Nationalität und Geburtsrecht; er fokussiert auf einen Patriotismus der Werte. Mit anderen Worten: Dem Autor schwebt eine Schweiz vor, welche die Realität einer sich ändernden Welt zur Kenntnis nimmt. Diese Schweiz wäre nicht von einem politischen Klima des Misstrauens und der Abschottung verunsichert. Eine Schweiz, in der die Gültigkeit der Schlüsselwerte des Liberalismus über die Grenzen politischer Meinungsunterschiede hinausgeht.
Theorie und Praxis
Dass diese Werte, die auf dem theoretischen Feld der Freiheit und Gerechtigkeit basieren, von vielen Menschen belächelt und deren Praxisbezug kopfschüttelnd in Frage gestellt wird – dieses Hindernisses ist sich der Autor sehr wohl bewusst. „Mehr als einmal wird der Leser denken, dass im Land der Philosophen der Traum süss und das Ideal allmächtig sind. Wie könnten also diese Überlegungen auch nur den geringsten Nutzen haben?“, fragt er deshalb.
Nicht explizit erwähnt bleibt das Spannungsfeld zwischen gelebtem, politischem Alltag mit seinen Zwängen und Vorschriften, also jenes aufgeheizten Politbereiches einer Zuwanderungsinitiative, einer allfälligen Begrenzung der nationalen Aufnahmefähigkeit, der europäischen gemeinsamen Werte, zu denen sich auch unser Land bekannt hat.
Dennoch bestechen die philosophisch geprägten Lösungsvorschläge durch ihre Ehrlichkeit und breit abgestützte Basis einer politischen Moralphilosophie. Sie überzeugen ebenso durch die nicht in Frage gestellten Erfahrungen der Zuwanderung in unserem Land: Die Schweiz hat immer dann am meisten von seinem Immigranten profitiert, wenn sie ihnen die Chancen zur Verwirklichung ihrer eigenen Wünsche geboten hat.
John Rawls‘ Gerechtigkeitstheorie
Rochel hat offensichtlich das Hauptwerk des US-amerikanischen Philosophen John Rawls genau studiert, dessen „A Theory of Justice“ (1971) als eines der einflussreichsten Werke der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts gilt. Rawls (1921–2002) der als Professor an der Harvard University lehrte, entwickelte seine Gedanken des egalitären Liberalismus, indem er die Gerechtigkeit als massgebliche Tugend sozialer Institutionen setzt, die aber die Freiheit des Einzelnen nicht verletzen darf.
Ein Kernsatz dieser Theorie lautet: „A theory however elegant and economical must be rejected or revised if it is untrue […].” Wenn also eine noch so elegante und ökonomische Theorie nicht wahr ist, muss sie fallen gelassen werden, so der Befund Rawls. Daraus folgert er weiter, dass auch gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetzte und Institutionen abgeändert werden müssen, wenn sie ungerecht sind. Denn jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann.
Mobilität und Migration
„Die Mobilität kann nicht gestoppt, gelöst oder ausgelagert werden. Sie schöpft ihre Kraft aus der denkbar mächtigsten Quelle: dem Drang und der Notwendigkeit von Freiheit, um die Lebensperspektiven für sich und seine Nächsten zu verbessern.“ Diesen Kerngedanken Rochels mögen viele zustimmen. Eindrückliche Zeugen dieses Wunsches sind die Abertausende von Schweizern, die ab Mitte des 16. bis im 19. Jahrhundert, vornehmlich aus Gründen der lokalen und prekären Lebensbedingungen, unser Land verlassen mussten.
Markige Worte à la Orban über Grenzschliessungen in Europa oder jene des Trumpschen Mauerbaus zwischen den USA und Mexiko sind nicht akzeptabel, da sind wir uns einig. Mit der Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention hat sich die Schweiz auch zu einem juristischen Rahmen verpflichtet, der Regeln für Menschen auf der Flucht vor Verfolgung festlegt.
Wieviel Migration? Colliers Einwände
An dieser Stelle erlaube ich mir einen kurzen Einschub als Ergänzung zu Rochels Gedankengängen. Wie der britische Entwicklungsökonom Paul Collier in seiner Streitschrift „EXODUS“ rät, müssen wir auch über „die Gewinner und Verlierer, über Chancen und Risiken von Migration sprechen“. Collier vertritt die Meinung, dass die Migration bei fehlenden Einwanderungsbeschränkungen rasch einen Punkt erreichen würde, ab dem sie nachteilige Folgen sowohl für die Aufnahmegesellschaften als auch für die in den ärmsten Ländern Zurückgeblieben hätte.
Er spricht sich deshalb für das Recht auf nationale Steuerungssysteme aus. „Nationen sind wichtige, legitime moralische Einheiten; tatsächlich sind es die Früchte erfolgreicher Nationalstaatlichkeit, die auf Migranten anziehend wirken.“ Er meint deshalb, die Frage, ob Migration gut oder schlecht wäre, sei falsch gestellt, vergleichbar mit der Frage, ob zu essen gut oder schlecht sei. „Wieviel am besten ist?“, darüber sollten wir uns unterhalten.
Ein adäquater Wertekatalog
Zurück zu Rochels Plädoyer. Es ist eine Tatsache, dass Menschen migrieren. Die Migration kann man ablehnen und Abwehrreaktionen zeigen, zu verhindern ist sie nicht. Die zentrale Frage, die sich die Schweiz und alle anderen europäischen Gesellschaften stellen müssen, lautet deshalb: Welche Werte müssen wir mobilisieren, um kohärente, glaubwürdige und den Wohlstand sichernde Antworten auf die Herausforderungen der menschlichen Mobilität zu finden?
Damit wir auf diesem heiklen Weg zwischen den philosophischen Ansprüchen wie Prinzipien, Verantwortung, Verpflichtungen und den politischen Gegebenheiten des geforderten Pragmatismus, der begrenzten Mittel und dem Druck der Wählerschaft nicht stolpern, gibt Rochel diese Beispiele als Überlegungsanstoss. „Mit dem Prinzip des Respekts und dem Prinzip der politischen Teilhabe“ beschreibt er zwei Aspekte. Der erste ist selbstredend, der zweite erklärungsbedürftig.
Lokale politische Teilhabe und Familiennachzug
„Niemand verlangt, dass jeder, der in die Schweiz kommt, sofort alle denkbaren Rechte der politischen Teilhabe erhält. (Heute sind 28,8% der Schweizer Erwerbsbevölkerung ohne politische Rechte). Der zeitliche Aspekt spielt eine wichtige Rolle.“ Acht Kantone kennen inzwischen Möglichkeiten der kommunalen oder kantonalen politischen Beteiligung. Von einer frühen Beteiligung am politischen Alltag könnten wir alle profitieren, sie sollte also gleichermassen als Verantwortung und Chance wahrgenommen werden.
Der zweite bedenkenswerte Aspekt dieses „Orientierungslaufes“ ist das stabile Recht auf Familiennachzug für die Kernfamilie (Eltern, Kinder) und weiterer Familienbeziehungen bei der Bewertung eines Zuwanderungsanspruchs. Wenn wir in unserem Land den Wert der Familie immer wieder betonen, können wir dessen Stichhaltigkeit, so Rochel, nicht bei der Zuwanderungspolitik ablehnen. (42,3% aller heute in der Schweiz geschlossenen Ehen sind bi-national).
Dieses Buch ist geeignet, die persönliche Haltung zum drängenden Thema der Migration zu bedenken. Die erwähnten Werte sind keineswegs das Privileg einer einzigen Partei, sondern verdienen eine klare Verankerung in allen politischen Parteien und einer engagierten Gesellschaft.
Johan Rochel: „Die Schweiz und der Andere – Plädoyer für eine liberale Schweiz“ (2016), Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich.