Wir lebten in einer handvergessenen Zeit, heisst es. Das Manuelle wird vom Digitalen bedrängt, gar verdrängt. Wie wichtig das Hand-Werkliche ist, zeigte kürzlich ein Symposium an der Cultura Suisse in Bern. Ein paar Gedanken als Postskriptum.
Denken ist ein Abkömmling des Tuns. Dieser Gedanke zählte zu den wichtigen Grundsätzen des Berner Hochschullehrers und Didaktikers Hans Aebli (1923–1990), des wohl bedeutendsten Schülers des Kognitionspsychologen Jean Piaget. Der Zusammenhang von Denken und handwerklichem Tun kam mir in den Sinn, als ich vor Kurzem die Cultura Suisse in Bern und das Symposium zur Perspektive des Handwerks besuchte. Eine Werkgemeinschaft engagierter Kleinunternehmer will mit dem Projekt «Dorf des Handwerks» nachhaltige Impulse an künftige Generationen von Handwerkern vermitteln. Das Symposium bildete die Plattform.
Die Hände: der äussere Verstand
Die Informationsgrafik mit den beiden Händen erinnert an das weltberühmte Gemälde «Die Erschaffung Adams». Es ist das zentrale Werk des Deckenfreskos von Michelangelo Buonarotti (1475–1564) in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan. Bekannt geworden ist es als Genesis-Fresko. Wer dieses Bild betrachtet, spürt vielleicht den Zusammenhang von «mens» als dem Verstand, dem Geist und «manus», der Hand. Es ist das Wechselspiel von Kognition und Haptik, die Interdependenz von Sinn und Sinnen. Davon haben Dichter und Philosophen immer eine Ahnung gehabt – und pädagogische Denker auch. Aristoteles hat von den Händen als dem äusseren Verstand gesprochen. Der Frühromantiker Friedrich Schlegel sah in den Händen gar «die Fühlhörner des Verstandes».
Die moderne Evolutionstheorie bestätigt diesen engen Zusammenhang zwischen Denken und Tun. Nicht umsonst heisst es beim Kindergartengründer Friedrich Fröbel: «Vom Greifen zum Begreifen». Die Verstandeseinsicht geht eben zuerst durch die Hände. Dem Denken wohnt eine affektive, körperliche Dimension inne. Viele Denkspuren und Denkbilder haben ihre tiefen Wurzeln im Körperlichen.
Genesis, dieses altgriechische Wort, steht für Er-Schaffung, Schöpfung, Kreation. Nicht umsonst sprechen gute Pädagogen von den genetischen Prozessen des Lernens: Da entsteht etwas. Das sah man auch in der Schmiedewerkstatt der Ausstellung Cultura Suisse. Wer den Handwerkern bei ihrem kreativen Tun zuschaute, ihr Werken und Wirken betrachtete, dem kam vielleicht Goethes Schauspiel «Faust» in den Sinn. Faust fährt ja im zweiten Teil der Tragödie mit allen Händen in die Welt hinein.
An dieses Hand-Werkliche und das Bedeutsame des kreativen Tätigseins wollte das Symposium erinnern – und daran, dass das digitale Zeitalter eine Epoche der Handvergessenheit ist. Die Hand büsst an Ansehen ein. Computermaus und Touchscreen bestimmen immer mehr, wie wir auf die Wirklichkeit zugreifen. Eine Art Secondhand-Leben, in der die Hand vom Finger zurückgedrängt wird, vom Digitalen. Digitus ist lateinisch und bedeutet Finger.
Sucht und Isolation
Unser Leben verliert das, was das Erlebnis von Gegenwärtigkeit ausmacht: Körperlichkeit und physische Präsenz. An ihre Stelle tritt eine vermittelte Weltwahrnehmung. Touchscreens und Monitore haben sich zwischen die Welt und uns geschoben. Wir sind fast immer online – nicht nur die Jugendlichen – und fühlen uns laufend aufgefordert, irgendwie auf die Welt zu reagieren, auch wenn das, was wir als Welt bezeichnen, mehr und mehr aus Daten und elektronischen Signalen besteht. Eine virtuelle Welt, eine Parallelwelt. Viele von uns sind Tipperinnen und Wischer geworden. Die Hand verliert das Bedeutsame früherer Tage.
Die Realität zeigt es: Das Spielen mit dem Smartphone nimmt mittlerweile den ersten Platz unter den Aktivitäten der 6- bis 13-jährigen Kinder ein. Viele Jugendliche verbringen zwischen vier bis acht Stunden täglich im Netz. Manche sehen ihre Freundinnen und Kollegen mehr online als real. Das hat Folgen. Dazu zählen beispielsweise die Internetsucht und eine vermehrte soziale Isolation, die Abnahme von Kreativität und Empathie fürs Gegenüber sowie der Fähigkeit, geduldig auf etwas zu warten und auszuharren. Viele Kinder können kaum mehr vertieft spielen, diagnostizieren Sozialpsychologen. Die Aufmerksamkeitsspanne werde spürbar kleiner, die Unselbständigkeit nehme zu.
«Erst in der Werkstatt habe ich das Denken gelernt»
Die digitalen Zauberinstrumente eröffnen ungeahnte kognitive Möglichkeiten, doch sie müssen an die Hände rückgekoppelt werden, sie müssen den Zugang zu realen Welten gewähren. So sagen Hirnforscher, so fordern es Lernpsychologen. An diese realen Welten knüpft das Handwerk an. Und zwar ganz konkret. Das Symposium «Perspektive Handwerk» machte es deutlich. Es war ein Plädoyer für die Kunst des Haptischen, des Handwerklichen.
Auf dem Heimweg dachte ich über das Glück nach, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen. So lautet der Untertitel einer anregenden Lektüre mit René Descartes’ Anklang: «Ich schraube, also bin ich.» Vor Jahren hatte ich dieses geistreiche Buch gelesen. Verfasser ist der promovierte Philosoph und gelernte Motorradmechaniker Matthew B. Crawford. Sein Fazit: «Erst in der Werkstatt habe ich das Denken gelernt.» Oder etwas nüchterner formuliert: Das Denken ist ein Abkömmling des Tuns. Auch das hat das Symposium «Perspektive Handwerk» in Erinnerung gerufen.