Journal21: Frau Schmid-Federer, Sie sind jetzt acht Jahre Nationalrätin. Wie hat sich der Politbetrieb in Bern in dieser Zeit verändert?
Barbara Schmid-Federer: Die Online- und die Boulevard-Medien haben eine viel grössere Hektik in den Politbetrieb gebracht. Zum Teil unerfahrene, junge Journalisten müssen in allerkürzester Zeit Antworten auf komplizierte Fragen publizieren. Das kommt natürlich den Pol-Parteien zugute, die immer schon am Anfang wissen, was gut und falsch ist. Doch gerade die Mitte-Parteien, die nach Lösungen suchen und die nicht nur Schlagworte als Antworten geben möchten, kommen in dieser Hektik zu kurz. Ich denke gerne nach und recherchiere, bevor ich Antwort gebe. Doch das ist heute nicht mehr gefragt. So verkommt die politische Diskussion oft zu einem Austausch von Stereotypen.
Geht man unanständiger, „brutaler“ miteinander um?
Nein, menschlich hat sich nichts verändert. Aber wir haben weniger Zeit füreinander. Alles ist schneller geworden. Früher trank man am Abend ab und zu noch ein Glas miteinander und dachte über Lösungen nach. Das ist selten geworden. Es gib immer mehr Vorstösse und Kommissionssitzungen finden schon um sieben Uhr morgens statt. Vor acht Jahren kriegte ich während der Session für einen Abend zehn Einladungen, heute sind es dreissig.
Was sind das für Einladungen?
Meistens laden Verbände ein, die einen auf den neuesten Stand bringen wollen.
Das heisst: Verbände, die Sie beeinflussen wollen.
Ja, klar. Doch manchmal können diese Informationen wertvoll sein. Wichtig ist, dass man abwägt, sich eine eigene Meinung bildet und sich nicht beeinflussen lässt.
Der CVP werden bei den bevorstehenden Wahlen Verluste vorausgesagt. Laut dem gfs/SRG-Barometer kommt sie noch auf zwischen elf und zwölf Prozent der Stimmen. Böse Zungen sagen, die CVP sei zu einer Bouillabaisse-Partei geworden, von allem etwas. Etwas links, etwas rechts, etwas grün, etwas katholisch, etwas protestantisch, etwas KMU. Ist die empfundene Profillosigkeit der Grund für die schlechten Prognosen?
Die Mitte-Parteien argumentieren nicht mit Schlagworten und fahren keinen scharfen Kurs. Deshalb haben sie grundsätzlich mehr Mühe, sich zu verkaufen.
Die CVP war schon immer eine Volkspartei mit verschiedenen Flügeln und Strömungen. Auch in der stärksten Zeit der Partei war dies nicht anderws. Dieser Pluralismus, diese Vielfalt von Meinungen, dieses Abwägen, dieses Suchen nach Kompromissen ist doch etwas sehr Schweizerisches und war auch immer eine Chance. Die Grundwerte der CVP sind immer die gleichen geblieben: die soziale Marktwirtschaft.
Wegen der Polarisierung zwischen links und rechts, zwischen der SP und der Grünen einerseits und der FDP und der SVP andererseits, drohen Sie aufgerieben zu werden.
Mit dieser zunehmenden Polarisierung haben die Mitte-Parteien grundsätzlich ein Problem, sich zu behaupten. Doch wir wollen um vernünftige Lösungen ringen, wir suchen Kompromisse. Zugegeben: diese Politik ist nicht sehr sexy, aber wir brauchen Lösungen, nicht laute Töne und Schlagworte.
Ich habe viel Hoffnung in die neue Mitte gesetzt. Jetzt nimmt die Polarisierung wieder zu. Das ist unschweizerisch. Das macht uns unstabil. Viele Länder, die völlig polarisiert sind, machen uns vor, dass man so nicht weiterkommt.
Die CVP wurde ja lange Zeit vor allem als katholische Partei wahrgenommen. Ist das nicht heute noch ein Handicap?
Die CVP hatte früher den Auftrag, die Katholiken salonfähig zu machen. Ich habe noch selber im Kanton Zürich erlebt, wie ich als Katholikin diskriminiert wurde. Im akademischen Bereich erhielten Katholiken zum Teil keine Arbeitsstelle. In Männedorf liess man Katholiken nicht zu Gemeindeversammlungen zu.
Das ist vorbei. Da hat die CVP diesen Auftrag erfüllt. Unterdessen hat sie sich längst andern Konfessionen geöffnet. Gerade im Kanton Zürich gibt es sehr viele Reformierte in unserer Partei. Das sozial-liberale Profil, das wir haben, spricht viele Leute aus allen konfessionellen Lagern an. Aber er stimmt: Wir müssen deutlicher zeigen, was die CVP heute ist: Eine Partei mit einem klaren, konfessionsunabhängigen sozial-liberalen Credo.
Einige Leute bringen die CVP noch immer in Verbindung mit der Kirche. Schadet Ihnen Bischof Huonder?
Ja, leider. Es gibt Leute, die übertragen Huonders Aussagen auf die CVP, was natürlich völlig absurd ist. Auch auf den sozialen Medien gibt es entsprechende Einträge. Ich muss dann den Leuten erklären, dass wir eine unabhängige Partei sind und nichts mit seinen Aussagen zu tun haben. Als CVP-Vertreterin und als Katholikin werde ich natürlich gefragt, was ich von Bischof Huonder halte. Ich habe mich mehrmals öffentlich von seinen Aussagen über Homosexualität distanziert.
Sie sind im Kanton Zürich sowohl Ständeratskandidatin als auch Nationalratskandidatin. Als Ständeratskandidatin erleben sie wesentlich mehr Medienecho als als Nationalratskandidatin. Besteht nicht die Gefahr, dass man sie als Ständerätin wählt, aber als Nationalrätin vergisst? Dann würde Ihre Abwahl drohen.
Diese Gefahr besteht tatsächlich. Deshalb mache ich an allen Veranstaltungen deutlich, dass ich auch für den Nationalrat kandidiere, in dem ich seit zwei Legislaturen mitarbeite.
Die Mitte besteht aus vier Parteien: der CVP, den Grünliberalen, der BDP und der EVP. Wäre es angesichts der Probleme, die die Mitte hat, nicht angezeigt, dass sich diese vier Parteien vereinen würden?
Man hat es oft versucht und ist schliesslich immer gescheitert. Ich plädiere für eine Union der Mitte. An Wahlpodien stelle ich immer fest, dass wir ideologisch nicht weit voneinander entfernt liegen. Bei wichtigen Fragen halten wir plötzlich total zusammen. Und wir verdrehen nicht selten die Augen, wenn wir sehen, welche extremen Ideen von links oder rechts kommen.
Würde dann die „Union der Mitte“ unter einem neuen Parteinamen auftreten?
Mit dieser Frage dürfen wir sicher nicht Einigungsgespräche beginnen.
Und wieso gelingt es nicht, sich zu einigen?
Da spielen historische Gründe eine Rolle. Und natürlich geht es um Köpfe. Lieber die Nummer eins in einer kleinen Partei als die Nummer zwei oder drei in einer Union. Zudem hat in einigen Kantonen die CVP noch immer ihr katholisches Image, dem sich die andern nicht fügen wollen.
Christophe Darbelley wird bald zurücktreten. Urs Schwaller ist schon zurückgetreten. Fehlen Ihnen nicht profilierte Köpfe?
Wir haben profilierte Köpfe. Zum Beispiel den Luzerner Ständerat Konrad Graber oder der Bündner Ständerat Stefan Engler oder den Solothurner Nationalrat Stefan Müller-Altermatt, der sich zu einem absoluten Energiepolitiker entwickelt hat. Natürlich braucht es etwas Zeit, Urgesteine wie Darbellay und Schwaller zu ersetzen und neue Persönlichkeiten aufzubauen. Wir haben auch viele neue Hoffnungsträger. Ich erwähne nur die Berner Grossrätin Alexandra Perina-Werz. Wenn sie den Sprung in den Nationalrat schafft, kann sie im Parteigefüge eine wichtige Position einnehmen.
Werden Sie für Eveline Widmer-Schlumpf stimmen, wenn sie wieder antritt?
Ich habe Eveline Widmer-Schlumpf immer unterstützt und werde sie weiter unterstützen. Sie leistet hervorragende Arbeit. Die Mehrheit der CVP-Fraktion hat sie immer unterstützt und würde sie auch jetzt wählen. Sie hat ausgezeichnete Dossier-Kenntnisse. Ich weiss, dass es in meiner Partei ein paar Leute gibt, die sie nicht wählen wollen, aber die Mehrheit wird sie wählen, sofern sie wieder antritt Man wählt nicht so schnell jemanden ab, der gut ist.
Was Eveline Widmer-Schlumpf nach ihrer Wahl ertragen musste – das hätten nicht viele durchgestanden. Das konnte sie wohl nur ertragen, weil sie aus einer politischen Familie kam und weiss, wie man brutal angegriffen werden kann, wenn man in der Öffentlichkeit steht. Aber Angriffe, wie sie sie erlebte – das Haben wir in diesem Land noch nie gesehen.
Die Grünen-Chefin Regula Rytz sagte in einem Journal21-Interview, dass die CVP gut daran täte, für Widmer-Schlumpf zu stimmen. Denn wenn an ihrer Stelle ein zweiter SVP-Vertreter gewählt würde, wäre die Mitte im Bundesrat ziemlich machtlos.
Ich sehe das nicht ganz so dramatisch. Erstens ist CVP-Bundesrätin Doris Leuthard eine sehr starke Figur, die Kompromisse finden kann, lösungsorientiert politisiert und einen grossen Einfluss hat. Zweitens darf man nicht vergessen, dass FDP und SVP keineswegs eine homogene Einheit bilden. In den zentralen aktuellen Fragen haben sie das Heu gar nicht auf der gleichen Bühne. Ich erlebe das jetzt fast täglich auf Wahlpodien. Die Bilateralen gefährden – das kommt nun wirklich nur der SVP in den Sinn. Die Menschenrechtskonvention kündigen oder ein Asylmoratorium verlangen – auch das kommt nur der SVP in den Sinn. Da stellt sich die FDP entschieden dagegen.
Was machen Sie besser als andere Parteien?
Wir sind gemäss Statistiken die Partei, die mit Abstand am meisten Abstimmungen gewinnt. Wir realisieren am meisten konkrete, dauerhafte Lösungen.
Thema Flüchtlinge: Sie sind ja auch Präsidentin des Roten Kreuzes des Kantons Zürich. Welche Position soll die Schweiz einnehmen?
Jetzt kann die Schweiz beweisen, dass sie ein humanitäres Land mit Vorbildcharakter ist. Die Schweiz ist vorbereitet und arbeitet sehr gut. Die Asylstrukturierung, die wir jetzt realisieren und die das Asylverfahren beschleunigt, findet von links bis rechts Anerkennung. Ausser bei der SVP. Sie hat aus wahltaktischen Gründen das Referendum ergriffen, obwohl sie jahrelang ein beschleunigtes Verfahren gefordert hatte.
Wie viele Flüchtlinge soll die Schweiz aufnehmen?
Alle wollen Zahlen hören. Ich sagte immer, wir könnten 30'000 aufnehmen und integrieren. Aber solche Zahlen sind nicht sakrosankt. Jetzt sagt SVP-Bundesrat Ueli Maurer, wir könnten kurzfristig sogar 50'000 aufnehmen. Da findet offenbar ein Meinungsumschwung statt. Selbst bei den SVP-Haudegen hat diese humanitäre Katastrophe zu einem Umdenken geführt.
Wichtig ist, dass die Flüchtlinge unsere Sprache lernen, dass sie ein Zuhause haben und arbeiten können. Ich selbst kenne eine syrische Flüchtlingsfamilie, die einen riesigen Willen hat, sich anzupassen und sich zu integrieren. Diese traumatisierten syrischen Flüchtlinge sind zum Teil gut ausgebildete Leute, die die Schweiz bereichern können – menschlich und wirtschaftlich.
(Das Gespräch mit Barbara Schmid-Federer führte Heiner Hug)