Eva Wipf (1929–1978), Künstlerin mit Kultstatus, wollte «Seismograf in Nacht und Licht» sein. Im Kunstmuseum des Kantons Thurgau, das sich in der Kartause Ittingen befindet, lässt sich erleben, was sie damit meinte.
«Altar für eine Bombe», ein Werk Eva Wipfs aus dem Jahr 1976, bringt zusammen, was nicht zusammenzugehören scheint: Es hat die Grundform eines traditionellen katholischen Altarretabels mit Schrein in der Mitte. Zwei «Schweizer Nationalzithern» – die eine mit Saiten bespannt, die andere ohne – der Firma Reto Stadler & Co. bilden die weit ausladenden Flügel. Im von klassischem Architekturelement bekrönten Schrein steht in der Mitte – wie eine Heiligenfigur im kirchlichen Altar – ein ramponiert-rostiges Geschoss, auf das ein kleines Schweizerkreuz aufgemalt ist. Ein kreisrunder Nimbus im Hintergrund unterstreicht den Sakralcharakter des Objekts. Zwei weisse Kreuze aus Mull in blutrotem Feld flankieren die Figur. Die dicht gedrängt vor dieser Szenerie aufgestellten kleinen Kreuze erinnern an Soldatenfriedhöfe.
Da irritiert alles: auf der einen Seite die Sakralität der Grundform und das Zitieren religiöser Bildstrukturen, das gleichzeitige Fehlen konkreter ikonografischer Hinweise und trotzdem die Kombination der Altarform mit den Themen Zerstörung und Tod; auf der anderen Seite das Verbinden von Kriegshorror und Kriegstrauma mit Emblemen schweizerischer Identität wie Schweizerkreuz, Nationalhymne (auf dem linken Flügel) und Schweizer Volkskultur.
Geht da jemand mit Sarkasmus ans Werk? Holt da jemand aus zu einer bitteren Anklage der Institutionen Kirche und Staat? «Altar für eine Bombe» ist entstanden zwei Jahre vor dem unvermittelten Tod der Künstlerin im Alter von 49 Jahren in einer Gasse der Brugger Altstadt. Das Werk steht in der Ausstellung «Eva Wipf – Seismograf in Nacht und Licht». Der Ausstellungstitel ist ein Zitat: In ihrem Tagebuch notierte die Künstlern 1949: «Ich möchte immer Seismograf sein, in Nacht und Licht – auch wenn ich einmal zerbrechen müsste.»
Seit den späten 1960er Jahren widmete sich Eva Wipf vor allem ihren Schreinen, die, zahlreich in der Ausstellung versammelt, Einblick geben in ein eigenwilliges, höchst persönliches und damit schwer zugängliches und in seiner Gegensätzlichkeit auch irritierendes Werk. Diese Arbeiten Eva Wipfs belegen eine Atmosphäre von beunruhigender Existenzangst und Weltuntergangsstimmung. In ihnen spiegelt sich die schwierige Lebenssituation einer hoch sensiblen und die Zeichen ihrer Zeit tatsächlich wie ein Seismograf registrierenden Künstlerin, deren Biographie kaum einem üblichen Künstler- und Künstlerinnenleben ihrer Zeit entsprach.
Missionarstochter
Geboren wurde Eva Wipf 1929 als älteste Tochter eines Schweizer Missionarpaares in Brasilien. Als Kind kehrte sie mit ihrer Familie in die Schweiz zurück, verbrachte die Kindheit im protestantischen Pfarrhaus von Buch im Kanton Schaffhausen, blieb, als die Eltern wiederum nach Brasilien reisten, in der Schweiz, brach eine Lehre als Keramikmalerin ab, entschied sich, Malerin zu werden und lebte einige Jahre als Autodidaktin in der Künstlerkolonie Südstrasse in Zürich. Hier lebten als eine Art Bohémiens Künstler wie Friedrich Kuhn, Secondo Püschel oder Mario Comensoli.
Wie diese Gruppe entzog sich auch Eva Wipf der Hegemonie der «Zürcher Konkreten». Sie malte Figuren, ihre Macht ausspielende Machos, schöne Gärten, Mandalas oder Traumvisionen. Sie ging ihren eigenen Weg, der sich bald von jenem der genannten Künstler absetzte, und liess sich 1966 in Merenschwand im Freiamt nieder. Hier, wie auch ab 1973 in der Brugger Altstadt, schuf sie ihre vielen Schreine und entwickelte einen ausgeprägten Sammeltrieb, der sie auf Floh- und Trödelmärkten zusammentragen liess, was sie als für ihren breiten Themenfächer verwendbar erachtete. Ihr Haus in Brugg war bei ihrem Tod 1978 ein einziges Lager an Materialien und halbfertigen Arbeiten. Eva Wipf hatte sie bis zuletzt weiterentwickelt im Bestreben, sie einer Vollendung zuzuführen.
Eva Wipf arbeitete weitgehend abgeschieden und auf sich gestellt. Dabei erfuhr sie grosszügige private und auch öffentliche Förderung (zum Beispiel mit einem Werkjahr des Kantons Aargau) und beteiligte sich hin und wieder an Ausstellungen, ohne aber einen eigentlichen Durchbruch zu erleben. Am aktuellen Kunstgeschehen nahm sie durchaus Anteil. So besuchte sie mehrfach die Ausstellung der bestürzend eindrücklichen Werke des Amerikaners Edward Kienholz im Kunsthaus Zürich (1971). Louise Nevelson, mit deren Schaffen ihr eigenes verwandt sein mag, war ihr ein Begriff, und sie bedauerte, wie sie mir bei einer Begegnung in den 1970er Jahren anvertraute, dass ihr Werk in Willy Rotzlers Buch über Objektkunst (DuMont 1972) keine Erwähnung fand. Es hätte sich ihrer Meinung nach bestens in den internationalen Kontext dieser Publikation einfügen lassen.
Legenden nach ihrem Tod
Eine Art Kultstatus erlangte sie nach ihrem Tod. Ihr Nachlass fand eine Heimat im eigens für sie gegründeten Museum Eva Wipf in Pfäffikon (ZH). 1980 erschien im Verlag Stiftung Nachlass Eva Wipf die Publikation «Eva Wipf – Die neue Sprache». Das Buch bietet kaum handfeste Information über die Künstlerin und keine dokumentierenden Abbildungen ihrer Werke, dafür mehrheitlich geheimnisvoll raunende Texte von Theo Kneubühler, von Marianne Eigenheer, von der Nachlassverwalterin Rosmarie Schmid und von Harald Szeemann, der sie eine «quer liegende Mystikerin» nannte. Diese Texte sagen mehr aus über die Autorinnen und Autoren als über die Künstlerin und ihre Werke, und sie prägten lange Zeit ein eher unscharfes, an die Grenzen zur Esoterik rührendes Bild Eva Wipfs. Ingeborg Lüschers Fotos gaben Einblick in das mit Objekten, Fundsachen und kaum vollendeten Werken vollgestopfte Haus Eva Wipfs in Brugg.
Zu Kultstatus und Legendenbildungen trugen nicht nur Zurückgezogenheit und Skepsis der Künstlerin gegenüber Kunstbetrieb und Mainstream sowie ihr häufiges Erwähnen depressiver Leiden bei, sondern auch, dem Zeitgeist entsprechend, ihr Experimentieren mit bewusstseinserweiternden Drogen oder Alkohol. (Sie habe den «Heiligen Pilz» versucht, sagte sie mir.) Das alles sowie ihre späte Reise nach Indien in einen Ashram gaben ihrer Persönlichkeit und ihrem Werk ein Omen des normensprengenden Ausserordentlichen. Um es versuchsweise auf einen Punkt zu bringen: Eva Wipf setzte mit ihrem Werk und ihrem Künstlerinnenleben einen radikalen, weil in seiner klaren Rückkoppelung an Persönliches und Intimes kompromisslosen Akzent in der Schweizer Kunst ihrer Zeit. Das Übrige möge Legende bleiben.
Ordnung und Chaos
Die grosse Retrospektive im Thurgauer Kunstmuseum informiert sachlich, umfassend und im Rahmen des in den wenig geeigneten Museumsräumen in der ehemaligen Kartause Möglichen über die Künstlerin und ihr Werk. Sie gibt auch Aufschluss über die weniger bekannten frühen Malereien, Collagen und Fotografien Eva Wipfs und, anhand einiger Werke befreundeter Künstlerinnen und Künstler, über das Klima in der Künstlerkolonie Südstrasse in Zürich.
Vor allem sind zahlreiche Schreine Eva Wipfs zu sehen, die zu Beginn von klassisch-harmonischer Schönheit geprägt sind. Beispiel dafür ist der «Schrein eines Alchemisten» (1968) mit leeren Schubladen, einem goldenen Ei und einem an Fernöstliches gemahnenden Mandala. Bald allerding werden die Schreine mit breiten Rändern aus angebranntem Holz düsterer. Ihre Grundstimmung wird dunkler. In Details aufscheinende Harmonien werden gestört und zerstört. Die Künstlerin greift, obwohl durch Herkunft reformiert geprägt, zu Elementen katholischer Ikonographie, zu Kruzifix, Madonna und Engeln.
Winden, Seile, Nägel, Stacheldraht, gar Folterwerkzeuge setzen Akzente des Schmerzes und der Angst. Pilze überwuchern ein traditionell geprägtes christliches Weltbild. Dichte Drahtgitter verunmöglichen die freie Sicht auf Kosmos, Christusikonen und Engel. Die Eingeweide elektrischer Apparate, von Transistor-Radios zum Beispiel, signalisieren eine technoide Gegenwelt. Der gepflegte Ordnungswille der mit Gold und edlem Purpur sorgfältig bearbeiteten frühen Materialbilder oder Meditationsschreine verschwindet und weicht dem Chaos und der Unordnung.
Ein Blick in ihre Tagebücher der 1970er Jahre lässt erahnen, dass Eva Wipf von Unsicherheiten, Selbstzweifeln, Existenzängsten und düsteren Ahnungen eingeholt wurde. 1977 notierte sie: «Ich kann nicht mehr, Chef … Melde dich! Unterstütze mich! … Ich gebe zu Protokoll, dass ich am 23.5.1929 hier notgelandet bin. Holt mich endlich zurück … Ich habe meine Existenz verraten.»
Kunstmuseum des Kantons Thurgau, Kartause Ittingen, Warth
bis 19. Dezember
kuratiert von Stefanie Hoch
Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem Museum Eva Wipf, Pfäffikon (ZH).
Begleitende Publikation: «Seismograf in Nacht und Licht – Tagebücher und Briefe», herausgegeben von Stefanie Hoch und Felix Pfister, Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, 39 Franken
Alle Fotos: Niklaus Oberholzer