Den Text einer Arie als Marschbefehl oder als einen stante pede umzusetzenden Entschluss zu begreifen, wäre ein Missverständnis. Arientexte sind Meditationen einer mit den eigenen Gefühlen ringenden Seele. Es sind meist Selbstgespräche eines konfliktbefangenen oder von Gefühlsregungen überfluteten Individuums.
Selbst gestorben wird auf der Opernbühne nicht mit einem Schlag, sondern extensiv und zeitraubend. Wir sind als Zuhörer ja auch dankbar, wenn die schön singende Figur möglichst lang hörbar bleibt und nicht unverrichteten Gesangs davoneilt oder stirbt.
Dramaturgie des verzögerten Abschieds
Eine diesbezüglich besonders eindrückliche Arie befindet sich in Mozarts später Oper „La clemenza di Tito“ (1791). Man hat viel darüber gerätselt, weshalb Mozart nach den bahnbrechenden Da-Ponte-Opern zur Form der kriselnden „Opera seria“ zurückkehrte, um die Milde, die Gerechtigkeit und den Grossmut von Kaiser Titus zu besingen.
Der Stoff des souverän verzeihenden Fürsten war aber auch in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts noch hochbeliebt. Metastasios Libretto, das auch als Theaterstück aufgeführt wurde, hatte bereits viele Komponisten angelockt und beschäftigt. Mozarts Variante – durch den Dresdner Hofdichter Caterino Mazzolà überarbeitet – hat freilich alle in den Schatten gestellt dank einer Musik, die ihresgleichen sucht und zum Wunderbarsten gehört, was Mozart in seinem letzten Lebensjahr schrieb.
Das Werk entstand im Eilverfahren, zwischen Mitte Juli und dem 6. September 1791, dem Tag der Uraufführung im Prager Ständetheater zur Ehre von Kaiser Leopold II., der dort zum böhmischen König gekrönt wurde. Mozart trug seine neue Oper eigenhändig in sein Werkverzeichnis am Tag vor der Uraufführung ein und vermerkte dabei, es handle sich um 24 Musiknummern. Die Rezitative hat Mozart offenbar frei vom Hammerflügel aus improvisiert, denn für das Notieren war keine Zeit mehr.
Die Arie, um die es uns geht, ist jene des Sextus, die Nummer 9 der Oper, die mit dem Wort „Parto – Ich gehe“ beginnt. Eigentlich eine Kastratenarie, die heute aber – gewiss nicht zu ihrem Nachteil – meist von einer Mezzosopranistin gesungen wird. Sextus ist der Freund von Titus, den die sich vom Kaiser verstossen glaubende Vitellia zum Mord anstiftet. Sextus ist Vitellia derartig liebeshörig, dass er sich bereit erklärt, sogleich zum Kapitol zu eilen, den Palast in Brand zu stecken und den Kaiser zu ermorden.
„Sogleich“ in der Oper
Man könnte sich nun vorstellen: Jemand ist liebestoll, macht ein Versprechen und bricht subito auf, um dieses einzulösen. Aber die Oper tickt anders. Beinah acht Minuten lang wird Sextus für die Schilderung seiner bedingungslosen Liebe brauchen, die ihn zum Werkzeug einer verletzten und rachsüchtigen Frau macht. Ja, er will gehen, unbedingt, aber zuvor muss etwas geklärt werden: „Geliebte, lass uns Frieden schliessen.“ Sextus will unbedingt so sein, wie Vitellia ihn haben will. Alles will er für sie tun. Aus Liebe sogar seinen Freund ermorden. Aber zuvor muss die Welt erfahren, wie es in seinem Innern ausschaut. Soviel Zeit muss sein!
Am Ende wird ohnehin alles anders kommen. Titus wird überleben – vor allem wird er mit denen, die ihm nach dem Leben trachten, Einsicht haben und ihnen verzeihen. Sextus erteilt uns in seiner Arie eine Lektion, was mit einem Liebenden geschieht: „Wenn du mich anschaust, vergesse ich alles!“ Er müsste eigentlich sagen: „Vergesse ich mich!“ In seinem Gedächtnis soll allein der liebende Blick überleben, alles andere möchte er gelöscht und vergessen haben. Die Arie endet mit einem grossen Staunen angesichts einer Kraft, die den Menschen zum Verbrecher zu machen vermag: „Ihr Götter, was habt ihr der Schönheit für eine Macht gegeben!“ Von dieser rätselhaften Macht der Liebe sollen die Opernbesucher eine Ahnung bekommen, bevor Sextus die Bühne verlässt.
Die Macht der Liebe und der Schönheit
Mozart hat die Macht der Schönheit und die Verführungskunst Vitellias nicht mit ihrer eigenen Stimme gestaltet, sondern indem er der Stimme des Sextus eine konzertierende Klarinette beigesellt hat. Im dritten Akt wird er dies ebenso für die Arie der Vitellia (Nr. 23) mit einem Bassetthorn tun: In beiden Fällen schenkt er uns zauberhaft weiche und einschmeichelnde, das Mitleid hervorlockende Töne, welche keinen hassenden und keinen liebenden Menschen unberührt lassen.
Sextus kann also gar nicht weggehen und zur verbrecherischen Tat schreiten, bevor wir nicht begriffen haben, was die im Liebesrausch aufleuchtende Schönheit für eine Macht hat und wie diese den von der Liebe befallenen Menschen zusetzt. Eine Arie, wie sie Mozart hier schreibt, ist nicht in erster Linie dazu da, um den verblüfften Zuhörern zu demonstrieren, wozu Stimme, Kehle, Lunge und Zwerchfell einer grossen Sängerin fähig sind. Es geht um Wichtigeres. Die Zeit selbst wird in Mozarts Arie angehalten, damit wir neu begreifen, wie die mächtigsten Gefühle des Lebens für alle Absichten, Ziele und Bestrebungen unseres Egos aufschiebende Wirkung haben. Zuerst also die Macht der Liebe und der Schönheit spürbar machen, dann erst Exit von der Bühne!
Liebe und Schönheit werfen uns vollkommen aus dem Zeitplan. Erst wenn die Arie vorbei ist, können wir uns wieder unseren Plänen zuwenden, unsere Intrigen weiter spinnen, den Lauf der Dinge verfolgen. Nach dieser Arie tun wir es ziemlich benommen, und doch weniger blind. Mozart sei Dank.
Dieses Einhalten und In-sich-Gehen erleben wir grandios mit der Sängerin Vesselina Kasarova, in einer an Drama, Intensität und bittender Innigkeit nichts aussparenden Aufnahme. Sie entstand unter Nikolaus Harnoncourt mit den Wiener Philharmonikern während der Salzburger Festspiele im Jahr 2003.