Wie gehen Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben, mit diesem furchtbaren Erlebnis um? Und kann frau darüber einen Film machen, wenn sie selbst betroffen ist? Zweieinhalb Jahre nach dem Verlust meines Partners stellte ich mir diese Frage. Ich begann zu recherchieren und stellte fest, dass in Zürich bald ein internationaler Suizid-Kongress stattfinden würde. Wenn ich diesen Kongress aushalte, kann ich auch den Film machen, sagte ich mir.
Nur betroffene Angehörige kommen zu Wort
Ich ging hin, fuhr psychisch Achterbahn, hatte aber auch so viele Aha-Erlebnisse, dass klar war: Ich MUSS diesen Film machen, ich will, dass Menschen bewusst wird, was es heisst, jemanden auf diese Weise zu verlieren. Ich will, dass sie Symptome einer Suizidgefahr besser erkennen können. Und ich will vielleicht sogar, dass jemand, der an Suizid denkt, weiss, was er bei seinen Angehörigen anrichtet.
Damit war auch schon der Aussagewunsch formuliert. Mir war klar, dass ich in irgendeiner Form meine eigene Betroffenheit thematisieren musste. Die meisten Faktenrecherchen hatten sich am Kongress schon erledigt. Ich lernte interessante GesprächspartnerInnen kennen, darunter einen führenden Suizidforscher, der einen Sohn durch Selbsttötung verloren hatte. Im Kontakt mit ihm wurde mir klar: In diesem Film sollen nur Betroffene vorkommen.
Die Angst vor zu viel Persönlichem
Ich begann „LeidensgenossInnen“ zu treffen. Die ersten Gespräche warfen mich zurück in die ersten Monate meiner Trauerzeit – fast hätte ich aufgegeben. Doch die journalistische Neugier war zu stark. Es war unglaublich spannend, nicht einfach nur zu fragen, sondern Gefühle auszutauschen. Nach rund 30 Gesprächen hatte ich eine erschreckende Coolness erreicht, die mich auch wieder verwirrte. Wo waren meine Gefühle geblieben? Für einen persönlichen Ansatz brauchte ich sie.
Gleichzeitig stieg die Angst, zu viel von mir selbst preiszugeben. Ich war unfähig, an erste Gestaltungsideen und an eine Dramaturgie zu denken, notierte einfach mal alle Elemente auf, die in den Film sollten. Ich kenne diesen Prozess, er überfällt mich bei jedem Film, gehört dazu und eine Seite von mir weiss immer, dass ich dann schon eine Lösung finden werde. Nur war diesmal noch alles etwas schwieriger. Es ging ja schliesslich auch um mich ganz privat.
Ein Traum bringt Hilfe
Ich tat, was ich immer tue in solchen Momenten der Verzweiflung: ich legte mich schlafen, mitten am Nachmittag. Und prompt brachte ein Traum Hilfe. Ich träumte, dass ich meinem Partner allein davonsegelte, in einem kleinen, weissen Schiff. Später fand ich nur noch seine nassen, kaputten Kleider in einem Seesack – ich akzeptierte, dass er tot war. Jetzt waren die Gefühle wieder voll da, und es gelang mir innerhalb weniger Tage, meine GesprächspartnerInnen auszuwählen und Bilder und Texte für die Titelsequenz und die Rahmengeschichte – meine eigene, zu finden. Alles sehr provisorisch, denn ein Dokumentarfilm muss lebendig und offen bleiben bis zum Schluss.
Wichtig ist, eine gute Struktur zu finden, wichtig ist, genügend Bilder bereit zu haben dass beim Schnitt nicht plötzlich etwas fehlt. Und so stürzte ich mich dann, wie immer mit einer Mischung von Angst und Selbstsicherheit in die Dreharbeiten. Alles war geplant und alles blieb offen bis zum Schluss. Der geschnittene Film hat sich dann gegenüber dem Drehplan nochmals stark verändert, wie immer.
Symptome einer Suizidgefahr besser erkennen
Fest stand von Anfang an der Aussagewunsch, und der hat sich überhaupt nicht verändert. Den schrieb ich mir, wie immer, auf die hinterste Seite meines Notizblocks, damit er im Aufruhr der Gefühle während dem Dreh nicht vergessen gehe. Ich will den Zuschauern bewusst machen was es heißt, jemanden auf diese Weise zu verlieren. Sie sollen Symptome einer Suizidgefahr besser erkennen. Denn eines war klar: psychisch Achterbahn fahren würde ich bei diesem Film bis zum Schluss.
Und Die Achterbahn wird vermutlich auch nach der Ausstrahlung des Films weiter in Fahrt bleiben. Ich werde wieder konfrontiert werden mit den Erfahrungen und Gefühlen anderer, die ähnliches erlebt haben. Und ich werde mich dem weder entziehen wollen noch können.
Marianne Pletscher arbeitet seit rund 40 Jahren für das Schweizer Fernsehen SF. Seit 20 Jahren ist sie Dokumentarfilmerin und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden. Ihr Film "Dein Schmerz ist auch mein Schmerz" - Wenn Angehörige sich das Leben nehmen, wird am 24.2. auf SF 1 um 20 Uhr gesendet.