Doch beginnen wir im Jahr 1726. Die begüterte, adlige und protestantische Madame de Warens ist in Vevey ihrem Mann davongelaufen. Sie will in Savoyen Katholikin werden. Jetzt trifft sie in Annecy ein. Und wird gleich ins Kloster gesteckt.
Dort soll sie für den neuen Glauben präpariert werden. In Vevey hat sie fast alles zurückgelassen: ihren Mann, ihre Freunde, ihre Güter, ihre Erbschaft. Sie versucht zu retten, was zu retten ist und schreibt ihrem sitzengelassenen Gatten.
Drei Mal besucht er sie im Kloster. Es kommt zu pathetischen Szenen. Sie empfängt ihn im Bett: Tränen, Vorwürfe, Erklärungsversuche. Die Nonnen versuchen, ihn zum Katholizismus zu bewegen. Er, ein Armee-Hauptmann, bleibt standhaft: „Ich verkaufe meine Seele nicht“.
Françoise-Louise beginnt zu zweifeln. In Evian hatte sie sich - nach ihrer Flucht - dem katholischen König zu Füssen geworfen und sich zum Katholizismus bekannt. Bereut sie diesen Schritt? Will sie ihren Mann doch nicht verlassen? Sie kann nicht mehr zurück.
Da sie den protestantischen Kanton Waadt (der damals zu Bern gehört) verlassen hat, kann der Staat ihre Güter konfiszieren. Sébastien, ihr Mann, erreicht, dass es nicht dazu kommt. Das Noch-Ehepaar schliesst ein Abkommen: die Güter gehen an den Mann. Dieser verspricht im Gegenzug, seiner Noch-Frau tausend Pfund zu überweisen.
Das Geld kommt nie an. Sie schreibt ihm wütend: „Ich bitte Sie, mich von jetzt an als tot zu betrachten und nicht mehr an mich zu denken“. Er ist tief verletzt und bezeichnet sie ein Leben als „Deserteurin“.
Fast ein Thriller
Die von der Westschweizer Gymnasiallehrerin Anne Noschis verfasste Biografie *1) ist keineswegs eine trockene historische Rekonstruktion. Sie ist voller Farbe und Details. Anne Noschis stellt viele Fragen, die sich die Leser auch stellen. Sie versucht Indizien zu interpretieren. Dabei stellt sie immer wieder Hypothesen auf. Es *könnte so gewesen sein, muss aber nicht. Diese Hypothesen sind immer klar als Hypothesen deklariert, was die Seriosität des Werks ausmacht. Die Autorin kommt immer wieder zu überraschenden, plausiblen Schlussfolgerungen. Das Buch liest sich streckenweise wie ein Thriller.
Von Victor Amédée, dem König von Sardinien, Savoyen und dem Piemont, erhält Madame de Warens eine jährliche Pension. Sie hat jetzt die Aufgabe, ein Heim für junge Leute einzurichten, die vom Protestantismus zum Katholizismus übertreten wollen. Jetzt nennt sie sich auch Baronin.
Die protestantische Hochburg Genf, der protestantische Kanton Waadt und das ebenso protestantische preussische Fürstentum Neuenburg sind König Victor Amédée ein Dorn im Auge. Er spielt mit dem Gedanken, diese „ketzerischen Gebiete“ militärisch zu erobern.
Dazu braucht er eine Informantin, eine Spionin: jemand, der den König über die militärischen Anlagen in der Waadt und über die dort stationierten bernischen Truppen informiert. Madame de Warens stellt für den König einen doppelten Glücksfall dar: Er kann sich damit brüsten, eine reiche Adlige aus dem protestantischen Teich geangelt zu haben. Zudem kürt er sie zur Spionin. Mehrere Dokumente, die Ann Noschis vorlegt, bezeugen dies.
Im Maison de Boëg, wo Madame ihr Konvertiten-Heim führt, lebt auch der zwanzigjährige Claude Anet aus Chailly-sur-Montreux. Er ist Gärtner, Schreiner und der Geliebte der Baronin. Anna Noschis stellt die Hypothese auf, dass dieser Claude Anet dazu ausersehen ist, die militärischen Anlagen in der Waadt auszuspionieren.
Legendäre Begegnung
Dann kommt der Palmsonntag des Jahres 1728. Es ist der Tag, an dem Jean-Jacques Rousseau in Annecy eintrifft. Er ist aus Genf geflohen und will katholisch werden. Ein katholischer Pfarrer schickt ihn zu Madame de Warens.
Die erste Begegnung zwischen der 29-jährigen Warens und dem noch nicht 16-jährigen Rousseau ist legendär. Sie treffen sich vor der Franziskanerkirche. Rousseau schreibt später: Wie oft habe ich diesen Ort „mit meinen Tränen genetzt und meinen Küssen bedeckt. Könnte ich diese glückliche Stätte mit einem goldenen Gitter umgeben“.
Sie schickt ihn nach Turin, wo er zum Katholizismus übertritt. Er kehrt zurück nach Annecy und wohnt wieder bei ihr. Eine glückliche Zeit beginnt. Madame führt ihn in die Literatur ein, gibt ihm Musik- und Gesangsstunden. Mit ihren 30 Jahren ist sie eine Frau von Welt, kultiviert, etwas kapriziös, humorvoll; sie frequentiert die Leute von Hof und Klerus.
Ménage à trois
Schliesslich hat Françoise genug von Annecy und zieht weiter südlich ins savoyische Chambéry am Lac du Bourget. Auch dort beherbergt sie Claude Anet und Rousseau. Ein Streit zwischen Madame und Claude Anet endet fast tödlich.
Anet will sich umbringen und trinkt einen Becher voll Gift (Laudanum). Die Baronin bemerkt es. Zusammen mit Rousseau bringt sie Anet dazu, sich zu übergeben – und weiter zu leben. Erst jetzt erfährt Rousseau, dass Madame de Warens und Anet seit längerem ein sexuelles Verhältnis haben. Das hindert die drei nicht, auch künftig eine ménage à trois zu führen.
Rousseau arbeitet jetzt im Katasteramt im Schloss und verdient endlich Geld. Während Claude Anet abwesend ist, schläft Rousseau zum ersten Mal mit der Baronin, die er stets seine "Mama" nennt. „Es war als ob ich Inzest begangen hätte“, schreibt er. Er bezeichnet sie als „wenig gefühlvoll“. Claude Anet kehrt zurück, erfährt die Neuigkeit und reagiert gelassen.
Doch schon bald endet sein Leben. Ein Arzt verlangt für einen seiner kranken Patienten die Heilpflanze Genepi (Alpenwermut), die vorwiegend im Hochgebirge wächst. Claude Anet, der Kräuterspezialist, steigt in die Berge, erkältet sich und stirbt. Für Françoise-Louise bricht eine Welt zusammen. Anne Noschis schliesst nicht aus, dass diese Todesversion eine Täuschung ist, um ein Suizid zu verbergen.
Eine wunderbare Zeit beginnt
Françoise und Jean-Jacques finden jetzt „ein wildes und zurückgezogenes Asyl vor den Toren von Chambéry“: Garten, Blumen, Obstbäume, ein Brunnen. „Les Charmettes“ heisst das Anwesen. Eine wunderbare Zeit beginnt. Die beiden machen Spaziergänge, lesen, plaudern, pflücken Blumen und pflegen ihren Kräutergarten.
Madame de Warens übt einen entscheidenden Einfluss auf den späteren Philosophen aus. Ohne sie wäre Rousseau nie, was er geworden ist. Lange sprechen sie über Mann und Frau – gleich geboren, ungleich behandelt. Man kann Rousseau vieles vorwerfen, doch er hat ein erstaunlich "modernes" Frauenbild. Er betrachtet die Frauen meist als stark, einflussreich und intelligent. Madame de Warens ist es, die dieses Bild geprägt hat. Sie ist es auch, die eine schlummernde Begabung in ihm entdeckt: die Schriftstellerei. Rousseau beginnt, Gedichte zu schreiben.
Sein Geist, so flach wie sein Gesicht
Jetzt tritt ein neuer Mann auf: der Waadtländer Jean-Samuel-Rodolphe Wintzenried, 21-jährig. Rousseau hasst ihn. Er sei dumm und laut; sein Geist sei so flach wie sein Gesicht. Doch Wintzenried hat etwas, was Rousseau nicht hat: er ist exakt, ein Arbeitstier und kann eine Buchhaltung führen. Das braucht die Baronin, denn sie bewirtschaftet jetzt ein Terrain von sechs Hektaren.
Rousseau verlässt für kurze Zeit Chambéry. Er will in Montpellier einen Arzt besuchen. Auf dem Weg dorthin hat er eine erotische Beziehung mit Mme de Larnage. Nach seiner Rückkehr stellt er fest, dass Françoise-Louise und Wintzenried bereits ein Paar sind. Wieder: eine ménage à trois. Doch schon bald verlässt Rousseau „Les Charmettes“ Richtung Lyon und Paris.
Nachfolger des savoyischen Königs Victor Amédée wird sein Sohn Charles-Emmanuel III. Savoyen wird jetzt während sechs Jahren von spanischen Truppen besetzt. Folge davon ist, dass die Baronin kein Geld mehr vom Königshof erhält. Mühsam hält sie sich finanziell über Wasser. Sie hat jetzt die Idee, eine Seifenfabrik aufzuziehen.
"Unerschöpflicher Tätigkeitsdrang"
Mit 46 Jahren unternimmt sie eine Reise in den Kanton Waadt – unter falschem Namen. Sie versucht, an ihr Erbe väterlicherseits heranzukommen. Ein Teil davon wird ihr zugesprochen – vorausgesetzt, sie kehrt zum protestantischen Glauben zurück. Das will sie nicht. Sie vermacht die Erbschaft ihren Verwandten und erhält dafür eine jährliche Rente von 200 Pfund. Damit kann sie überleben.
Ihre Passion für Geschäfte hatte sich schon in Vevey gezeigt, als sie mit ihrem Mann eine Strumpffabrik gründete. „Sie hat einen unerschöpflichen Tätigkeitsdrang“ kommentiert Rousseau. Jetzt will es die femme d’affaires wissen. Sie steigt ins Bergbau-Geschäft ein. In Sallanches unterhalb von Chamonix erwirbt sie eine Mine.
Auch am Montblanc, auf 2‘900 Metern Höhe, will sie Bohrungen veranlassen und Eisen, Kupfer und Blei gewinnen. Sie gründet eine Aktiengesellschaft. Als Abnehmer sieht sie Fabriken für Kirchenglocken, Rüstungsmaterial und Küchenutensilien. Auch selbst will sie eine Fabrik aufbauen.
Jetzt geht es ihr finanziell gut. Die Dokumente, die Anne Noschis präsentiert, widersprechen den Aussagen der ersten Biografen von Madame de Warens, die sie als verarmte Frau darstellen. Zusammen mit ihrem Geliebten Jean-Samuel Wintzenried bewirtschaftet sie auch eine Kohlenmine. Doch dann kommt der Rückschlag.
"Ich sah sie wieder, welcher Niedergang"
Plötzlich wendet sich das Blatt gegen sie. Ihre Teilhaber haben kein Vertrauen in sie und wollen ihr Geld zurück. Sie kann nicht bezahlen und verliert einen Prozess. Plötzlich steht sie vor dem Nichts. Aus der Traum. Wieso will man sie zerstören?
Anne Noschis schildert eindrucksvoll, wie einer der Teilhaber, Camille Per(r)ichon, ein reicher 75-jähriger Geschäftsmann, sie in den Konkurs treibt, indem er seine grosse Einlage zurückfordert. Bei der Versteigerung kauft er die Bergwerke selbst und wird noch reicher.
Im Juni 1754 erhält sie Besuch von Rousseau und seiner Lebensgefährtin Thérèse Levasseur. Die beiden befinden sich auf dem Weg nach Genf, wo Rousseau wieder in die protestantische Kirche eintreten will. Sie machen einen Abstecher nach Chambéry. In seinen Confessions beschreibt Rousseau die Begegnung mit Madame de Warens so: „Ich sah sie wieder … in welchem Zustand! Mein Gott, welcher Niedergang! … War das dieselbe Frau von Warens, damals so strahlend... Wie war mein Herz betrübt.“
Anne Noschis zweifelt an dieser Beschreibung. Rousseau hatte immer den Hang zur Übertreibung. Niedergang? Sie ist jetzt eine 55-jährige Frau, gealtert, aber mehr wohl nicht. Anne Noschis fragt: Hat Rousseau Madame de Warens erzählt, dass aus der katholischen Kirche austreten will?
In Grange Canal, einem sardischen Dorf vor den Toren Genfs begegnen sich Jean-Jacques und Françoise-Louise zum letzten Mal. Thérèse steckt ihr Geld zu, weil sie keines hat. Sie nimmt ihren Ring vom Finger und will ihn Thérèse geben, als Gegenleistung. Thérèse gibt den Ring zurück.
Abszess in der Brust
Nun erfährt die Baronin, dass ihr Ex-Mann in Lausanne gestorben ist. Nach ihrer „Desertion“ ging er nach Holland und England. 1734 kehrte er nach Lausanne zurück, wo er im Haus seines Vaters lebte. Er heiratete nicht mehr und wirkte verloren. Avancen einer Frau lehnte er ab. Er hatte genug vom Heiraten. Gebrannte Kinder …
Françoise-Louise kränkelte Zeit ihres Lebens. Mit 57 Jahren wurde sie wirklich krank. Sie spricht von einem Abszess in der Brust, Hände und Beine schwellen an. Doch sie rafft sich auf. Sie will noch ein Rezeptbuch für Medikamente herausgeben. Auflage: 200, auf „gutem Papier“ gedruckt. Zeit ihres Lebens hat sie chemische Experimente durchgeführt. Immer wieder glaubte sie, Zaubertränke erfunden zu haben. Sie bereitete Elixiere, Tinkturen und Balsame her.
Eine unglaubliche Tat
Viele Fragen muss auch Anne Noschis offen lassen. Warum wollte Madame de Warens zum Katholizismus übertreten? Hatte sie wirklich ein echtes religiöses Bedürfnis? Dafür legt die Autorin mehrere Indizien vor. Oder wollte sie ihrem etwas langweiligen Leben in Vevey entfliehen und nahm den Katholizismus zum Vorwand? Vielleicht stimmt beides. Doch eine frömmelnde Katholikin wurde sie nie.
Man bedenke: Wir sind in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Reiche Frauen werden von begüterten Männern geheiratet – nicht aus Liebe, sondern um an die Erbschaft der Frau zu gelangen. Françoise-Louise hat Glück: Ihr Gatte ist kein Wüstling, sondern ein kultivierter Mann. Doch ihr Leben in Vevey ist wenig aufregend. Vor diesem Hintergrund bricht sie aus, lässt alles zurück – eine für damalige Verhältnisse unglaubliche Tat.
Sie hätte ein Leben innerhalb ihres japanischen Porzellans führen können. Nein, sie spielt auf Risiko, ohne Netz – alles hätte schiefgehen können. Kaum eine reiche Frau lief damals davon. Üblich war, dass die begüterten Adligen sich einen Liebhaber hielten – aber einen Ausbruch wagten sie nicht.
Ein Geist - "immer in Bewegung"
Feministinnen, Frauenrechtlerinnen gab es damals noch nicht. Ein offener Kampf für die Rechte der Frau war fünfzig Jahre vor der Französischen Revolution undenkbar. Frau von Warens kämpfte nicht offen für die Rechte der Frau. Aber sie hat die starke Frau vorgelebt – die kluge, mutige, tatkräftige Frau. Sie, die nie eine Universität besuchte, hat sich ein riesiges Wissen angeeignet. Sie las all die Philosophen und Literaten. Sie hat nicht nur Rousseau erzogen, sie hat die savoyische Gesellschaft – inklusive der geistlichen – stark beeinflusst.
Sie war eine der ersten Geschäftsfrauen, die mit Mut und Ehrgeiz ihre Ziele verfolgte – und in der damaligen Männerwelt dann scheiterte. Trotz ihrem kämpferischen Leben: Sie ist auch Frau geblieben, liebenswürdig, verführerisch, sinnlich. Die exzellente (in Französisch verfasste) Biografie von Anne Noschi bringt sie uns näher.
Am 29. Juli 1762, also vor genau 250 Jahren, stirbt sie um zehn Uhr abends in Lémenc bei Chambéry. Sechs Jahre später besucht der jetzt 56-jährige Rousseau ihr Grab. Vier Tage bleibt er in Chambéry. Auf einem Hügel bei „Les Charmettes“ träumt er von dieser aussergewöhnlichen Frau, deren Geist, wie er sagt, „immer in Bewegung ist“.
*1) Anne Noschis: Madame de Warens, éducatrice de Rousseau, espionne, femme d'affaires, liberitne
Editions de l'Aire, 2012, ISBN 978-2-940478-27-9
[Siehe auch: 300 Jahre Rousseau - das Dossier(http://www.journal21.ch/rousseau-ich-bin-ein-prinz-aber-auch-ein-schuft)