Wenn früher von Hessen die Rede war, tauchte mit hoher Wahrscheinlichkeit der Slogan „Hessen vorn“ auf. Tatsächlich war das zwischen der Finanzmetropole Frankfurt im Süden und dem Brüder-Grimm-Gebiet an der Weser im Norden, der Domstadt Fulda im Osten und dem Weinparadies Rheingau im Westen gelegene Bundesland in vielen Bereichen führend. Hier wurde als erstes in der damaligen Bundesrepublik die Lehr- und Lernmittelfreiheit für Schüler und Studenten eingeführt, hier wurde das durch Krieg und Nachkriegszeit entwurzelte Heer der Flüchtlinge und Vertriebenen durch aktive Beteiligung am landespolitischen Geschehen schneller und nachhaltiger integriert als anderswo, hier (vor allem im Rhein/Main-Gebiet) gab es Arbeit und Perspektive.
Das ist allerdings schon eine gute Weile her. Es war vor allem die Zeit des Ministerpräsidenten Georg-August Zinn. Der in Frankfurt geborene, aber vor allem im nordhessischen Kassel tätige Jurist gehörte zu jener legendären Gruppe sozialdemokratischer Regierungschefs, die – durchaus parteiübergreifend – als „Landesväter“ verehrt wurden. Fast alle hatten im Dritten Reich Verfolgungen bis hin zu langjährigen Inhaftierungen zu erleiden. Nicht zuletzt wegen der Rückendeckung durch Zinn konnte der seinerzeitige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im Geheimen die Entführung des SS-Obersturmbannführers und Cheforganisators der Judendeportationen, Adolf Eichmann, durch den israelischen Geheimdienst aus Argentinien planen und die (von vielen „Altlasten“ im seinerzeitigen Justizdienst bekämpften) Auschwitz-Prozesse durchführen.
Ein Land im Wandel der Zeiten
Warum diese historische Reminiszenz? Weil sie ein Spiegel sein soll für das politische Gebilde, um dessen Zukunft es am 28. Oktober geht. Das Land mit seinen rund 6,2 Millionen Einwohnern ist soziologisch und gesellschaftlich ungewöhnlich unterschiedlich strukturiert. Das gilt in Sonderheit und traditionell für die SPD. „Südhessische SPD“ war, und ist es noch immer, sozusagen ein Synonym für weit links stehend, und zwar durchaus im Kontext der Gesamtpartei. Dagegen sind das eher landwirtschaftlich geprägte Mittel- und Osthessen konservativer ausgerichtet, auch die dortigen „Sozis“. Alles in allem war Hessen im allgemeinen Bewusstsein lange Zeit ein „klassisches SPD-Land“. Die CDU fristete – vergleichbar mit der SPD in Bayern – im Wiesbadener Landtag ein kümmerliches Dasein, so um die 20 Prozent.
Dann kam mit einem Mal der schneidige Oberbürgermeister von Fulda (und nachmalige langjährige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion), Alfred Dregger, und katapultierte die bis dahin verzagten Christdemokraten von 26,4 Prozent (1967) auf sage und schreibe 47,5 Prozent im Jahr 1974. Zwar schaffte er es nicht, trotz dieses (für heutige Verhältnisse) sensationellen Erfolgs eine Regierungsmehrheit in Wiesbaden zu bilden, aber es wurde damit im Prinzip eine politische Zeitenwende eingeläutet. Nicht nur mit dem regionalen Aufstieg der Christdemokraten, sondern weil die von Dregger erhoffte „Machtübernahme“ nur dadurch verhindert werden konnte, dass der im Herzen konservative Sozialdemokrat Holger Börner die aufmüpfigen „grünen“ Emporkömmlinge ins Boot holte und den in Turnschuhen erschienenen Joschka Fischer als für die Umwelt Verantwortlichen zum ersten Minister der Partei mit dem Sonnenblumen-Emblem in Deutschland überhaupt machte.
Nach Bildungschaos erstmals ein CDU-Mann
Und jetzt? Alles in allem steht Hessen immer noch sehr gut da. Oder, besser gesagt, wieder da. Denn zwischendurch gab es durchaus den einen oder anderen kräftigen Absturz. Allem voran in dem ursprünglich einmal vorbildhaften Bildungsbereich. Mitte der 70er Jahre startete der damalige Bildungsminister Ludwig-Ferdinand von Friedeburg (Sohn des Generaladmirals Hans-Georg von Friedeburg, der im Mai 1945 in Reims die Kapitulationsurkunde mitunterzeichnet und sich anschliessend erschossen hatte) einen radikalen Umbau der schulischen Strukturen und Inhalte. So wollte er z. B. das Lernziel Deutsch als Hochsprache abschaffen, Geschichte durch Gesellschaftskunde ersetzen, Mathematik sollte abwählbar sein zugunsten des Erlernens kritischen Denkens usw. Die Folge war ein Aufstand der Elternschaft mit dem Ergebnis, dass 1987 mit Walter Wallmann (zuvor Bundesumweltminister) erstmals ein Christdemokrat in die Wiesbadener Staatskanzlei einziehen konnte.
Tatsächlich sind die Hessen mittlerweile wieder einmal nach vorn marschiert. Nachdem nämlich bei der Landtagswahl vor fünf Jahren die FDP als bis dahin klassischer Koalitionspartner der CDU grosse Verluste erlitt, landeten zwei Männer einen unerwarteten Coup mit einer zuvor als unmöglich erachteten Partnerschaft: Der christdemokratische Wahlsieger Volker Bouffier (bis dahin Innenminister und als „harter Hund“ berüchtigt) und der Landesvorsitzende der Grünen, Tarek Al-Wazir, Sohn einer Deutschen und eines Jemeniten. Eigentlich unvorstellbar, weil die beiden vorher zueinander standen wie Hund und Katz. Der Grüne befand sich bis dahin bei sämtlichen Demos gegen den Flughafenausbau oder die Schliessung offener Autobahnverbindungen in vorderster Linie und damit direkt in Konfrontation mit Bouffiers Sicherheitskräften.
Hund und Katz vertrugen sich
Was vor fünf Jahren niemand für möglich gehalten hatte – Hund und Katz vertrugen sich. Die Regierungsarbeit in Wiesbaden verlief praktisch geräuschlos. Bouffier wandelte sich vom Wadenbeisser zum Ausgleicher (auch im Innenverhältnis der Bundes-CDU), und Al-Wazir setzte als hessischer Wirtschaftsminister praktisch sämtliche Infrastrukturmassnahmen um, gegen die er zuvor so erbittert gekämpft hatte. Und – das Staunen nimmt kein Ende – bei allen Umfragen der jüngsten Zeit schneidet er bei den Hessenwählern als „beliebtester Politiker“ ab. Nicht zuletzt bei der eigenen, grünen Gefolgschaft, die ihn nach seinem Handstreich mit dem verhassten Bouffier vor fünf Jahren am liebsten gesteinigt hätte.
Jetzt also geht es wieder einmal um die Wurst. Was die grosse Linie angeht, sind sich die Demoskopen einig: Trotz einer unbestreitbar vorzeigbaren Erfolgsbilanz ist die bisherige Koalition gefährdet. Der Hessen-CDU werden, ähnlich wie bei der CSU in Bayern, herbe Verluste von zehn bis elf Prozent und damit ein Absturz auf 26 Prozent vorausgesagt. Ein ähnliches Debakel droht angeblich der einstigen „Staatspartei“ SPD, der 20 Prozent prognostiziert werden. Ganz anders die Grünen. Wieder vergleichbar mit der Entwicklung in Bayern, scheinen – so wenigstens die Meinungsbefragungen – den Sonnenblumenfreunden die Hessenherzen in Massen zuzufliegen. Die Rede ist von 20 Prozent und sogar noch leicht darüber. Damit würden sie, oh Wunder, sogar zweitstärkste Kraft werden – sogar noch vor der SPD.
Das beliebte Hütchenspiel
Natürlich läuft, je näher der Urnengang rückt, jetzt wieder das beliebte Hütchenspiel ab: Wer wird wohl mit wem. Das geht von der Vorhersage, dass es womöglich für die jetzige Koalition nicht mehr reichen werde bis zur Prognose, die Grünen könnten demnächst (wie ja schon in Stuttgart) den nächsten Ministerpräsidenten stellen, wenn sie mit der SPD und den als „Linke“ umgetauften Nachfolgern der einstigen DDR-Staatspartei SED zusammengingen.
Nun ist ein sozialdemokratischer Flirt mit der Linken schon einmal krachend danebengegangen, als die damalige SPD-Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti – entgegen anders lautender vorheriger Festlegungen – 2008 doch ein Bündnis eingehen wollte und damit innerhalb wie ausserhalb ihrer Partei eine Revolte auslöste. Ihr Nachfolger, der ohne Zweifel seriöse, aber nicht sonderlich charismatische Thorsten Schäfer-Gümbel, tritt am Sonntag nun schon zum dritten Mal zum Gipfelsturm in Wiesbaden an. Die Voraussagen sind alles andere als hoffnungsvoll. Aber vielleicht geschehen ja selbst in der Politik noch Wunder. Denn eine Weisheit hat sich schon oft bewahrheitet: Stimmungen, wie Umfragen sie widergeben, sind noch längst keine Stimmen in den Wahlurnen. Schon gar nicht, wenn fast noch die Hälfte der Wähler angibt, unentschlossen zu sein.