Bei der Beurteilung von parastaatlichen Organisationen wie den Huthis im Jemen sind zwei Ebenen zu unterscheiden: erstens die Logik der inneren sozialen Ordnung, auf die etwa die Huthis ihre Macht gründen, zweitens die Verortung ihrer politischen Legitimation im Rahmen globaler ideologischer Muster.
Das soziale Gefüge im Nordjemen ist durch die dreigliedrige Ordnung von Sayyids (Abstammungsadel, der sich auf die Familie des Propheten Muhammad zurückführen lässt), Qadis (Richter, die die pluralen Rechtsebenen ausbalancieren) und Qabilis (Angehörige tribaler Verwandtschaftsverbände) bestimmt. Die Huthi gelten als Sayyids, deren Machtposition im Nordjemen nach dem Verlust des Imamats 1970 neu ausgehandelt werden musste; sie verstehen sich als eine Art Erbengemeinschaft, die als Familie das Amt und die Funktion des Imams innehat und weitergibt, ohne jemanden persönlich als Imam zu bevorzugen. Anders als zur Zeit des Imamats ordnen die Huthi zugleich ihre politische Legitimation im Spektrum ideologischer Weltanschauungen ein. Sie verstehen sich als politischer Körper, der die Nation als Ausdruck eines religiösen Willens in sich trägt. Ideologisch sind sie religiöse Nationalisten.
Ein Blick zurück
Als Angehörige der Sayyids, der Nachkommen des Propheten Muhammad, gehören die Huthi zur Elite der zaiditischen Gesellschaft. Diese Position teilen sie nicht nur mit anderen Familien, die für sich eine adelige Abstammung in Anspruch nehmen, sondern auch mit dem Stand der Qadis, der «Richter», die für den Ausgleich zwischen den verschiedenen Rechtssystemen sorgen und als Bildungselite gelten, sowie mit den Notabeln der Stammesverwandtschaft, den Scheichs. Diese dreigliedrige Gesellschaftsordnung ist nicht hierarchisch abgestuft, sondern bildet ein komplementäres System ausdifferenzierter gesellschaftlicher Funktionen und Autoritäten, das den Bestand der zaiditischen Gesellschaftsordnung garantiert.
Etwa drei Viertel der rund 36 Millionen Jemeniten gelten als Angehörige eines Stammes. Sie haben das Privileg, Waffen offen zu tragen, und sind durch die normative Ordnung ihres Stammes geschützt. Die wesentlich kleineren Gruppen der Sayyids und Qadis geniessen zahlreiche Privilegien innerhalb der Gesamtgesellschaft. 10% der Bevölkerung gelten als «Schwache» (Daif) oder «Arme» (Miskin). Diese stellen die unterste Stufe der traditionellen jemenitischen Gesellschaftsordnung dar. Sie setzen sich zusammen aus Stadtbewohnern, Händlern, Handwerkern und Arbeitern in einem breiten Spektrum von Berufen und Dienstleistungen. Sie gelten als «schwach» weil sie in der Regel keine Waffen tragen und auf den Schutz der Stämme angewiesen sind. Weiter unten stehen die «Ausgeschlossenen» (Muhammaschin), oft abwertend als «Diener» (Akhdam) bezeichnet, deren Zahl auf 16% der Gesamtbevölkerung geschätzt wird. Die Ausgeschlossenen üben die niedrigsten Tätigkeiten aus, wie z. B. das Müllsammeln. Die Ursachen für ihre Marginalisierung und Diskriminierungserfahrungen liegen in der ihnen zugeschriebenen afrikanischen Abstammung und der fehlenden Bindung an die traditionelle Gesellschaftsordnung.
Diese Gesellschaftsordnung hat sich inzwischen auch im Südjemen wieder durchgesetzt. Hier spielen jedoch die Familien der ehemaligen Emirate, die bis 1967 dem britischen Protektorat Aden unterstanden, weiterhin eine privilegierte Rolle. Im Norden garantiert die zaiditische Tradition den Fortbestand dieser Gesellschaftsordnung. Etwa 80% der Nordjemeniten zählen sich zu den schiitischen Zaiditen, 20% zu den sunnitischen Schafiiten, die auch im Südjemen dominieren.
Das zaiditische Imamat
Die Zaiditen bilden innerhalb der Schia eine eigenständige religiöse Tradition, die im Gegensatz zur im Iran dominierenden Zwölfer-Schia das Imamat stets als Herrschaftsinstitution verstand, für die sich die Nachkommen Alis in besonderer Weise qualifizieren mussten. Die 1891 einsetzende schleichende Transformation des Imamats in eine monarchisch-dynastische Ordnung unter Hamid al-Din hatte den Widerstand zaiditischer Puristen hervorgerufen, die eine Rückkehr zur alten Imamatsverfassung forderten. Bereits in den 1970er Jahren gab es erste Versuche, das durch die Revolution von 1962 in den Nordosten des Landes abgedrängte Imamat in seiner ursprünglichen Form wiederherzustellen. Der letzte Imam, Muhammad al-Badr, war nach der Anerkennung der jemenitischen Republik durch Saudi-Arabien 1970 ins Exil nach London gegangen. Die Revolution von 1962 hatte das traditionelle soziale Gefüge im Jemen stark erschüttert und vor allem die Rolle der Elitenfamilien, der Sayyids, verändert. Viele Angehörige der Sayyids schlossen sich der neuen republikanischen Ordnung an und suchten ihre privilegierte soziale Stellung im Militär zu sichern. Nach der Wiedervereinigung mit dem Südjemen 1990 nahm der Einfluss sunnitischer Familien und Stämme zu. Gleichzeitig sprachen sich führende zaiditische Gelehrte für die Abschaffung des Imamats aus.
Tribale Föderationen
Bestimmendes Merkmal der politischen Ordnung im Nordjemen ist die Föderation von Stämmen zu grossen Bünden. Im Laufe der jüngeren Geschichte haben sich drei grosse Machtblöcke herausgebildet: Den grössten Block bildet die Föderation der Bakīl, die ihr Machtzentrum im Nordosten des Landes hat und der rund 40 Prozent der nordjemenitischen Bevölkerung zugerechnet werden. Ihr politischer Führer ist seit 2021 der erzkonservative Saba᾽ bin Sinan Abu Lahum. Die Bakīl bilden das eigentliche Rückgrat der zaiditischen Gemeinschaft und stehen vor allem im Osten des Landes in Fehde mit schafiitischen Stammesverbänden. Mit den Bakīl konkurriert die Föderation der Hāschid, vor allem vertreten durch Abdallah bin Husain al-Ahmar (1933–2007). Dieser hatte Teile der Föderation in ein enges Bündnis mit Saudi-Arabien geführt und sich politisch in der Islah-Bewegung organisiert. Dabei handelt es sich um ein Bündnis islamischer Nationalisten, das zwar programmatisch eng an die Muslimbruderschaft angelehnt ist, jedoch aufgrund des tribalen Hintergrunds weitgehend zersplittert erscheint. Sie eint vor allem das Bündnis mit Saudi-Arabien und die Gegnerschaft zur als «sozialistisch» verstandenen Nationalen Demokratischen Front (gegründet 1976), die 1990/1993 in der von Ali Abdallah Salih geführten Staatspartei Allgemeiner Volkskongress aufging. Die al-Ahmar-Familie, die nach 2007 von Sadiq bin ‘Abdallah al-Ahmar (1956–2023) geführt wurde, verlor nach 2012 die Unterstützung Saudi-Arabiens, da das Königreich nun in der Muslimbruderschaft und ihrem Umfeld einen seiner Hauptgegner sah. Viele Hāschid-Stämme schlossen sich nun den Huthi an (so die Bani Suraim, Usaimat und Uzair). Seit Januar 2023 wird die Föderation von Himyar bin Abdallah bin Husain al-Ahmar, dem ehemaligen stellvertretenden Parlamentspräsidenten, geführt. Die dritte Föderation bilden die Madhidsch, die fast ausschliesslich der sunnitisch-schafiitischen Tradition folgen und vor allem in Marib dominieren. Sie sind politisch eng mit der Islah-Partei verbunden. Einer ihrer Wortführer ist Sultan Ali al-Arada, der seit 2012 Gouverneur von Marib ist und dem achtköpfigen Präsidialen Führungsrat der «Republik Jemen» angehört.
Der Diktator Ali Abdallah Salih stammte von den Sanhan ab, einem Stamm der Haschid-Föderation. Als er 1978 an die Macht kam, suchte er über seinen Cousin Ali Muhsin al-Ahmar das Bündnis mit der Familie al-Ahmar und damit mit der Haschid-Föderation. 1981 hatte Salih die Behörde für Stammesangelegenheiten dem Innenministerium unterstellt. Damit wurde die komplexe Autoritätslandschaft der Stammesföderationen zu einem parallelen Verwaltungssystem ausgebaut. Um 2005 waren fast 400 Scheichs in der Behörde organisiert, von denen acht als «Grossscheichs» und 69 als «Scheichs mit Vermittlungsbefugnis» galten. Mit der Machtübernahme des aus dem Süden stammenden Politikers Hadi wurde die Behörde schrittweise in ihren Funktionen beschnitten und 2014 vollständig vom Staat abgekoppelt sowie die Alimentierung mit (bis dahin jährlich 13 Mrd. Jemenitische Riyal) eingestellt. Es dürfte kaum überraschen, dass sich die meisten Stämme der Bakīl und Hāschid nach 2014/5 den Huthi anschlossen, die das Vakuum füllten, das Hadis Politik hinterlassen hatte.
Die Huthi behielten die staatliche Alimentierung der Stämme bei. Im Oktober 2014 ernannten sie Daifallah Rassam aus der Provinz Dammar zum «Obersten Scheich des Jemen», eine Rolle, die zuvor Abdallah al-Ahmar innehatte. In den folgenden Monaten gründete Rassam den Tribal and Popular Cohesion Council (CTPC) und ernannte lokale Vertreter in jedem von den Huthi kontrollierten Gouvernement, um Stammesunterstützer und Kämpfer für die Front zu gewinnen. Diese Strategie ebnete den Weg für den Bruch der Allianz der Huthi mit Ali Abdallah Salih (2017).
Die Huthi und ihre Partisanen
Auf diese Konstellation reagierte der damalige Huthi-Führer Husain al-Huthi (1959–2004), indem er innerhalb der 1990 geschaffenen zaiditischen «Partei der Wahrheit» eine Fraktion der «Gottestreuen Jugend» gründete. Diese bildete fortan das soziale Reservoir für die Herausbildung einer dominanten Stellung der al-Huthi-Familie innerhalb der nordjemenitischen Stammeswelt. 1997 trennte sich Husain al-Huthi von der «Partei der Wahrheit».
Sein Vater, Badr al-Din al-Huthi (1926–2010), hatte sich bereits in den 1970er Jahren für eine Wiederbelebung der zaiditischen Ordnung eingesetzt, vor allem angesichts des wachsenden Einflusses der Wahhabiten und gegen die zunehmende Macht der Muslimbrüder. Von 1994 bis 1997 studierte er an der islamischen Hochschule in Qom im Iran und passte sich dabei immer mehr der khomeinistischen Interpretation der Schia an. Die Politisierung der Zwölfer-Schia unter Khomeini, die wie die Bekräftigung der zaiditischen Tradition erschien, und die Tatsache, dass es nach 1970 keinen von der Mehrheit der Zaiditen im Jemen anerkannten Imam mehr gab, führte zu einer Annäherung der zaiditischen Puristen um al-Huthi an die iranische Staatsschia, die in Revolutionsführer Khamenei ihre Galionsfigur hatte. Im Jahr 2001 schliesslich gründete Husain al-Huthi eine militärische «Schutztruppe», die sich selbst gerne als Ansarullah, als «Partisanen Gottes» bezeichnete und sich zur Verteidigung der zaiditischen Sache berufen sah.
Ein weiterer Hintergrund für die Annäherung an den Iran dürfte das Bekenntnis der Huthi-Familie zur zaiditischen Theologie der al-Dscharudiya-Gemeinschaft sein. Dabei handelt es sich um eine der frühesten dogmatischen Schulen innerhalb der sich im 8. Jahrhundert allmählich herausbildenden zaiditischen Tradition, die zwar wie alle zaiditischen Gruppen das schiitische Imamat in der verwandtschaftlichen Nachfolge Alis sieht, aber alle Prophetengefährten, die der Wahl von Kalifen aus anderen Familien zugestimmt haben, der Sünde bezichtigt und die Rebellion gegen deren Herrschaft zur religiösen Pflicht erklärt. Zwar teilen sie, wie alle Zaiditen, nicht die zwölferschiitische Lehre von der Sündlosigkeit der Imame, der Kette der Imame und der Wiederkehr des letzten, zwölften Imams aus der Verborgenheit, doch eint sie die Ablehnung der sunnitischen religiösen Legitimation und, was für die khomeinistische Lesart der iranischen Schia noch wichtiger ist, die Auffassung, dass gegen Tyrannei dauerhaft rebelliert werden muss.
Die Durchsetzung
Bereits im Jahr 2000, also noch vor der eigentlichen Gründung der Bewegung, hatten sich die Huthi mit einem eigenen Slogan symbolisch von der sunnitischen politischen Ordnung abgesetzt. Die zweite Intifada bot der Huthi-Bewegung im Jemen ein neues Feld der Profilierung. Mit dem Slogan «Gott ist gross, Tod Amerika, Tod Israel, Fluch den Juden, Sieg dem Islam» entstand eine neue politische Identität, die weniger auf ein explizites ideologisches Programm ausgerichtet war, sondern ähnlich wie die Hizbullah im Libanon einen diffusen, aber symbolträchtigen religiösen Nationalismus propagierte. Ab 2012 verstärkten sich die Anpassungsstrategien der Huthi an die schiitische religiöse Symbolordnung im Iran. So wurden nun schiitische Ashura-Rituale übernommen und die Feiern zur Islamischen Revolution im Iran begangen.
Husain al-Huthi hatte dem Regime von Ali Abdullah Salih Korruption, den Ausverkauf des jemenitischen Volkes an die USA und die Aufgabe der jemenitischen Souveränität vorgeworfen. Das Regime setzte daraufhin ein Kopfgeld auf Husain aus, der daraufhin seine Schutztruppe mobilisierte. Im September 2004 wurde Husain bei einem Gefecht mit Truppen des Regimes getötet, woraufhin sein jüngerer Bruder Abdalmalik al-Huthi die Führung der zaiditischen Gemeinschaft übernahm, die nun oft nur noch «Huthi-Partisanen», kurz «Huthi» genannt wurde. Zehn Jahre dauerte der wechselvolle Krieg gegen die Zentralregierung in Sanaa. Dann, nach monatelangen Kämpfen um die Kontrolle der Hauptstadt, konnten sich die Huthi im Februar 2015 endgültig durchsetzen und einen zaiditischen Parastaat im Nordjemen errichten.
Zwar üben die Huthi mit ihren militärischen und politischen Organisationen und Allianzen die faktische Staatsgewalt im Nordjemen mit Ausnahme der geteilten Provinzen Taizz, Marib und al-Jawf aus, doch können auch sie die Ordnung, nach der Macht, Privilegien und Rechtsstatus im Nordjemen verteilt sind, nicht ignorieren. Das heisst, auch die Huthi müssen, um erfolgreich zu sein, immer wieder soziale Kompromisse eingehen und gleichzeitig durch militanten Aktivismus beweisen, dass sie als Gruppe die legitimen Erben des Imamats sind. Dies ist den Huthi bisher in bemerkenswerter Weise gelungen. Sie haben es geschafft, die von ihnen kontrollierten jemenitischen Streitkräfte zu einer fast 200’000 Mann starken, mit iranischer Waffentechnologie ausgestatteten Einheit zu organisieren, die strukturelle Ähnlichkeiten mit den iranischen Revolutionsgarden und der libanesischen Hizbullah aufweist. Heute üben die Huthi-Verbände die staatliche Souveränität über rund zwei Drittel der jemenitischen Gesamtbevölkerung und knapp 20 Prozent des Territoriums aus.