Man könnte heute den Ausspruch generell an Menschen richten, die nicht wie die Soldaten dem Schlachtentod, sondern dem Tod generell entfliehen wollen.
Das Fluchtmotiv sieht sich in jüngster Zeit durch eine medizinische Technologie bestärkt, welche die Lebensverlängerung ad libitum in machbare Reichweite heranzurücken verspricht. Die Biogerontologie entdeckt die Mechanismen des Alterns – dieser mysteriösen allgegenwärtigen Irreversibilität in der Natur – auf molekularer Ebene. Fiebrig suchen die Mikrobiologen nach dem Code im Genom, der den Alterungsprozess steuert und bestenfalls verlangsamt. Eine neue medizinische Enhancement-Technologie tritt neben die alte Medizin, mit der Devise: Nicht bloss Schutz, Reparatur und Wartung des menschlichen Körpers, sondern Verbesserung, Aufrüstung gegenüber jeglicher Art von Krankheit und Anfälligkeit. Ein Leben ohne Verfallsdatum. Wie dies ein Vertreter der Nanomedizin ausdrückt: „Das Fernziel der molekularen Nanotechnologie ist die Entwicklung einer Fabrikationstechnologie, die auf preiswerte Weise alle atomaren Anordnungen herstellen kann, die molekular reproduzierbar sind (...). Die molekulare Manufaktur wird in Bezug auf Präzision und Flexibilität neue Massstäbe schaffen.“
Der Mensch ist ein Transzendier-Tier
Solche Grossspurigkeit gehört zur Promotion und zum Marketing jeder neuen Technologie. Die Visionen machen jedoch die Rechnung ohne den Wirt, den Tod. Er ist ein absoluter Affront, eine tödliche persönliche Beleidigung. Wohl deshalb tritt er in westlichen Kulturen gern in personifizierter Gestalt auf, als Sensenmann, nicht als biologisches „factum brutum“. Die Personifizierung erlaubt auch, mit dem Tod zu verhandeln. Ein mittelalterliches Motiv ist etwa das Schachspiel mit dem Tod. Solange er einen nicht besiegt, kann man weiterleben. Hier macht sich schon zögernd das „transhumanistische“ Projekt bemerkbar, durch menschliche Ingeniosität – durch technische Tricks – den Tod zu überwinden.
Nun könnte man argumentieren, dass gerade die Unvollkommenheit, Unzulänglichkeit und Unerfülltheit uns als Menschen ausmachen. Sie evozieren unsere tiefsten Wünsche, unsere höchsten Visionen. Sie sind Antrieb zu den grössten menschlichen Leistungen. Und dieser Impuls – oder diese Obsession – macht den Menschen auch zu mehr als zu einem blossen biochemischen Überlebensapparat. Er ist das Lebewesen, das sich immer wieder selbst übersteigt: ein Transzendenz-Tier. So gesehen, stellt sich die Frage, ob denn ein beliebig verlängertes Leben nicht ausgerechnet diesen Spannungszustand zwischen Erreichtem und Noch-nicht-Erreichtem schwächen oder gar auslöschen könnte. Wir würden in die Lebensphase einer Agonie des besinnungslosen Glücks treten. Wir würden nicht mehr sterben, dafür aber stürbe wohl das Streben nach Glück.
Die subjektive Seite des Todes
Der Tod hat eine unauslöschliche subjektive Seite: er ist ganz und gar meiner. Dass ich einmal nicht mehr bin, definiert mit existenzieller Wucht, dass ich bin. Ich kann nicht heraustreten aus mir selbst und sagen: Schau, jetzt bin ich tot; oder: Schau, diese Person da, die identisch mit E. K. ist, ist jetzt nicht mehr. Der eigene Tod, so Martin Heidegger, ist „unvertretbar“: „Keiner kann dem anderen sein Sterben abnehmen.“ Oder mit Woody Allen zugespitzt: „Ich habe keine Angst vor dem Sterben, ich möchte nur nicht dabei sein, wenn es passiert.“
Auf diese Weise akzentuiert der Tod den unkittbaren Riss zwischen Subjekt und Objekt. Mein Körper ist ein objektives Vorkommnis in der Welt, aber zugleich ist er eben mein Körper. Und der Tod ist ein physikalisches, biologisches Ereignis in der Welt, das einen Organismus, ein Objekt, trifft. Zufälligerweise ist dieser Organismus auch gerade die Person E. K., also ein Subjekt, welches das Ereignis in der Welt auf seine ureigene Weise erfährt, als Ende seiner Zentralität. Wir versuchen, diesen Riss behelfsmässig mit irgendeinem metaphysischen Klebstoff zusammenzuhalten, letztlich kommen wir mit ihm nicht klar. Er ist etwas, das unser Fassungsvermögen übersteigt. „Das Falsche, das ist der Tod“, sagt Jean-Paul Sartre. Der Tod passt uns nicht in den Kram, aber wir müssen ihn akzeptieren. Er ist wahr. Er ist das wahre Falsche – eine Liaison dangereuse, die wir mit uns selbst eingehen und nicht aufkündigen können. Die Formulierung eines anderen berühmten Philosophen abändernd, könnte man von der Geburt der Subjekivität aus dem Geist des Todes sprechen.
Biologie ist systematisch einäugig
Die modernen Naturwissenschaften, zumal die Biologie, vertiefen diesen Riss nur. Ihr Blick ist der Blick auf Materie. Materielle Substanzen zerfallen und sie verwandeln sich in andere Substanzen – Leben ist eine einzige immense unablässige Transsubstantation. Aber der Mensch „lebt“ in diesem Sinn nicht, weil er als Person nicht zerfällt, sondern einfach nicht mehr ist. Die Person, die tot ist, ist nicht mehr Person, sondern Ding, also eine Verneinung der Person. Was nach dem Tod mit ihr geschieht, erweist sich nüchtern betrachtet als eine aussichtslose, funebre bis makabre Veranstaltung, die Verneinung wieder aufzuheben. Mit welchem Pomp man den Kadaver untot erscheinen lassen will – Schminken, Einbalsamieren, Zelebrieren –, er bleibt das Leichenstück, das er ist.
Biologie ist systematisch einäugig, gerade indem sie die „natürliche“ Lebensspanne durch die Erhaltung des Lebensapparats Körper auszudehnen versucht. Sie sieht im Leben komplexe Prozesse zwischen Zellen, nicht die Geschichte von Personen. Auf jeden Fall ist das Phänomen des Alterns etwas, das die Biologie übersteigt. Was selbstverständlich nicht ausschliesst, dass die Biologie wesentliche Einsichten in dieses Phänomen zu liefern vermag, in Zukunft wahrscheinlich sogar solche, von denen wir uns heute noch kaum klare Vorstellungen machen können – „unknown unknowns“.
Umlagern der Pathologie
Dazu muss man auch problematische Konsequenzen der Altersverlängerung zählen. Zum Beispiel die Frage der Behandlungsgerechtigkeit: Kämen nur zahlungsstarke Menschen in den Genuss lebensverlängernder Massnahmen? Oder man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der sich die Generationen nicht so sehr ablösten als vielmehr koexistierten, sozusagen Parallelpopulationen. Wie ginge man mit einer nicht mehr alternden Weltbevölkerung um? Der Mensch wäre dann zwar „unsterblich“, aber bliebe tötbar. Müsste man dann zur „Ersetzung“ von Menschen nicht sogar nicht-natürliche Todesarten ins Auge fassen, etwa verordneten Suizid oder Exit-Roulette?
Und ganz allgemein stellt sich die Frage der Krankheit. Angenommen, es gelingt uns zum Beispiel, die Häufigkeit einer Krankheit im Alter von 70 Jahren zu vermindern. Das schlösse allerdings nicht aus, dass die Krankheit im Alter von 90 oder 100 Jahren doch noch auftreten würde. Man hätte sie einfach hinausgeschoben, was man durchaus als aktuelle, jedoch nicht als generelle Heilung betrachten kann. Bezieht man das Krankheitsrisiko auf das ganze Leben, würden Menschen nach wie vor an altersbedingten Krankheiten sterben, bloss einfach betagter. Krankheiten sind wie eine Hydra. Schlägt man ihr einen Kopf ab, so wachsen an einer anderen Stelle, zu einem anderen Zeitpunkt andere Köpfe nach. Es gibt keinen lebenslangen Schutz vor Krankheit, bloss ein Umlagern der Pathologie. Und wer weiss schon, welche neuen Pathologien auf den Menschen warten, wenn er einmal ein Alter von 130 Jahren erreichen kann.
Wert hat etwas, das man verlieren kann
Wie viele „unbekannte Unbekannte“ uns die Möglichkeit der Altersverlängerung auch bescheren wird, eine bekannte Unbekannte bleibt: der Tod. Er ist das „Jenseitige“ schlechthin. Er lässt sich nicht ins Diesseits von wissenschaftlicher und technologischer Rationalität holen. Und er lehrt uns im Grunde den Wert des Lebens. Denn einen Wert kann nur etwas haben, das man verlieren kann. Zwischen Leben und Tod vermittelt eine scharfe Ausschlussrelation. Epikur hat sie auf eine Formel gebracht: „So ist (...) der Tod (...) für uns ein Nichts: solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.“ Zugegeben, das ist nicht leicht verträgliche Lebenskost. Ich bin auf einen banaleren Trost gestossen. In einem Roman las ich vor kurzem den Satz: Wenn man mit 50 am Morgen aufwacht und keine Schmerzen hat, ist das ein untrügliches Zeichen, dass man tot ist. Ich bin über 70 und wache mit Gliederschmerzen aufgrund eines Velounfalls im Frühling auf. Wenn das nicht zuversichtlich stimmt ...