Der Film besinnt sich auf die Geschichte seiner Technik. Zusammen mit der Faszinationskraft der medienrelevanten Technologieentwicklung hat also der Konkurrenzdruck, der dem Kino aus Internet, Fernsehen, DVDs &c erwachsen ist, zu einer Besinnung des Films auf die Verschränkung seiner Geschichte mit derjenigen der Technik geführt. So erzählt Michel Hazanavicius’ „The Artist“ in historisierendem Schwarz-Weiss vom Aufkommen des Tonfilms, so dreht Martin Scorsese, eine der Eminenzen aus Hollywood, einen 3D-Film zu den Anfängen des Unterhaltungskinos im Paris der Wende zum 20. Jahrhundert.
Die Geschichte des rund 12-jährigen Hugo spielt freilich erst etwa 1930. Die Zeit um 1900 erschliesst sich dem Protagonisten nur durch Medien, Maschinen, Technik, Erzählungen. Und dank aller erdenklichen Rekonstruktionstechniken und Recherchen kann Scorseses heutiges Publikum Hugos Abenteuer im dafür eingerichteten Kino mithilfe der RealD-Brille fast hautnah erleben.
3-D
Schon als in den 1950er Jahren das private Fernsehen aufkam, musste sich die Filmindustrie überlegen, wie sie ihre Kundschaft weiterhin ins Kino locken könnte. Schon damals suchte sie nach Techniken, mithilfe derer Kinos ihrem Publikum ein Seherlebnis bieten könnten, das zu Hause nicht zu haben war. Das CinemaScope ist ein Produkt jener Jahre. Auch nach Möglichkeiten, dreidimensionales Sehen zu ermöglichen, wurde gesucht – aus jener Zeit stammen jene rot-grünen Brillen, durch welche die entsprechenden Bilder plastisch erschienen. Angesichts der nochmals verschärften Konkurrenz, die dem Kinofilm in den letzten zwei Jahrzehnten aus den neuen Medien erwachsen ist, ist weiter daran gearbeitet worden, dem Film eine dritte Dimension zu geben.
2009 startete James Camerons „Avatar“ – sieben Jahre lang soll der passionnierte Erzähler an seiner neuen Technik gearbeitet haben. Unvergesslich ist mir der erste Eindruck der Räume, die ‘Avatar’ eröffnete – ähnlich atemberaubend müssen die ersten „lebendigen Bilder“ um die Wende zum 20. Jahrhundert gewirkt haben. Tatsächlich wird erzählt, dass 1896, bei der Vorführung der „Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat“, welche die Gebrüder Lumière 1895 dokumentiert hatten, das Publikum den Vorführsaal in Panik verlassen habe.
Seit „Avatar“ sind viele Filme in 3D über die Leinwand gegangen, aber man hat sich rasch daran gewöhnt, es haben auch wenige wieder so intensiv mit den Möglichkeiten der räumlichen Darstellung gearbeitet wie damals Cameron. Bis nun Martin Scorsese wiederum zeigt, dass ein 3D-Film nicht einfach ein Film in 3D ist, sondern dass die 3D-Technik das Erzählen selbst verändert: „Hugo“ spielt mit schwindelerregenden Höhen, Wendeltreppen, Räderwerken und lässt Schneeflocken und Funken in den Zuschauerraum tanzen und stieben.
Hugo Cabret, ein Familienfilm
Der 1942 in New York geborene italienischstämmige Martin Scorsese ist eigentlich nicht als Familien- und Kinderfilmemacher bekannt. Zum Klassiker geworden ist sein „Taxi Driver“ (1976), die Geschichte der Entwicklung eines kontakt- und schlafgestörten, kriegstraumatisierten ehemaligen Vietnamkämpfers zum Amokläufer; „Raging Bull“ (1980) erzählt vom Scheitern eines Boxers; kommerziell erfolgreich war „Gangs of New York“ (2002), wo Scorsese den Wurzeln der amerikanischen Gesellschaft im Bandenwesen nachgeht. Diesmal aber tritt er grossväterlich auf: Er erzählt uns eine Geschichte für Kinder und zugleich etwas aus der Geschichte seines Berufs.
Hugo (Asa Butterfield) wohnt im Glockenturm des Pariser Gare Montparnasse. Er ist dafür verantwortlich, dass die Bahnhofsuhr immer die richtige Zeit zeigt. Er ist auf sich alleine gestellt, eine Mutter erscheint nicht, sein Vater (Jude Law), der als Uhrmacher im "Musée des Arts et Métiers" arbeitet, fällt einem Unfall zum Opfer, sein Onkel, der ursprünglich für die Bahnhofsuhr zuständig war, ist verschwunden. Mit dem Vater zusammen hatte Hugo noch einen sozusagen irreparablen menschenförmigen Automaten, der in der Rumpelkammer des Museums gelandet war, reparieren wollen, das Werk blieb unvollendet. Aber Hugo hat den beschädigten Roboter, der mit einem Schreibzeug in der Hand aussieht, als ob er etwas zu Papier bringen wollte, mit in den Uhrenturm genommen.
Verbitterung und Isolation
Da lebt er nun im Universum der fiktionalen Gare Montparnasse, schaut für die Bahnhofsuhr und stiehlt sich, was er braucht – immer in Gefahr, vom Stationsvorsteher Gustave (Sascha Baron Cohen) und seinem schrecklichen Hund Maximilian erwischt zu werden. Ertappt wird er indessen, als er im Spielzeug- und Süssigkeitenkiosk („Confiserie & Jouets“) eine aufziehbare Maus entwenden will. Der über den Dieb empörte alte Spielzeugverkäufer (Ben Kingsley) staunt jedoch über den Inhalt von dessen Taschen: Er besteht aus einem Notizbuch, in dem neben zahlreichen technischen Skizzen ein Daumenkino gezeichnet ist, und lauter mechanischen Einzelteilen – Stangen, Rädchen, Federn. Tatsächlich braucht Hugo diese, denn er arbeitet weiter an der Instandsetzung seines Automaten. Es ergibt sich nun, dass Hugo die abenteuerlustige Isabelle trifft, ein Waisenkind wie er selbst. Und dass Isabelle ausgerechnet bei dem alten Spielzeugverkäufer lebt, der Hugo beim Stehlen erwischt hat, bei ihrem Paten Papa Georges und dessen Frau Mama Jeanne.
Papa Georges aber ist kein anderer als der alte Georges Méliès, der Erfinder, Mechaniker, Illusionist, Zauberer, der die ersten Spielfilme überhaupt gedreht hat. Sein heute berühmtestes, von Jules Verne inspiriertes Werk ist "Le Voyage dans la Lune" von 1902. Der alte Mann will von diesen Zeiten und Filmen aber nichts wissen, fühlt sich verstört durch Hugo, der ihn an die eigene Vergangenheit erinnert. Denn sein Werk ist um 1930 vergessen und zerstört, sein Studio verkauft und jede Berührung mit der wunderbaren Pionierzeit schmerzt den verbitterten Künstler. Er hat seinem Patenkind daher auch verboten, ins Kino zu gehen – dank Hugo wird Isabelle zu ihrem ersten Kino-erlebnis kommen: die berühmte Szene aus Harold Lloyds „Safety Last“ (1923), in welcher der Komiker mit der runden Hornbrille in äusserst prekärer Lage hoch über der Stadt am Zeiger einer Turmuhr hängt – die Szene, die sowohl Scorseses Film als auch die Werbung dafür zitieren. Happy Endings gebe es nur in Movies, sagt Papa Georges traurig. Seis denn: Die Kinder werden es schaffen, ihn aus seiner Isolation herauszuholen – ein wiederkehrender Topos, dass die Enkelgeneration die weggestellte Grosselterngeneration re-integriert.
Die Hauptrolle in „Hugo“ spielen die Medien
„Hugo“ vermittelt alte Filme, alte Geschichten – basierend auf dem Buch „The Invention of Hugo Cabret“ von Brian Selznick, Kinderbuchautor und Teil einer Familie aus dem Filmbusiness. Brian Selznick wiederum hat sich inspirieren lassen von Gaby Woods „Edison's Eve: A Magical History of the Quest for Mechanical Life“ (2001). Tatsächlich hat Wood bei ihren Forschungen zur Geschichte der Androiden eine direkte Linie von den menschenförmigen Automaten zu den im Film konservierten SchauspielerInnen gefunden. Beide schaffen die Illusion von menschlicher Präsenz, ohne präsent zu sein, beide schaffen diese durch Vermittlung technischer Apparate. Die Art der Vermittlung selbst bleibt bei beiden – im Dienst der Illusion – versteckt.
In Wirklichkeit hat Georges Méliès (1861-1938), bevor er Filme machte, Automaten gebaut. Als Sohn eines wohlhabenden Fabrikanten hat er sich früh für Illusionen und Zaubertricks interessiert. 1888 hat er ein Pariser Theater übernommen, in dem der in seiner Zeit hochberühmte Uhrmacherssohn, Erfinder und Automatenkonstrukteur Jean Eugène Robert-Houdin seine Soirées Fantastiques gegeben hatte, an denen dem staunenden Publikum scheinbar lebende menschenförmige Maschinen und niegesehene Zauberkünste vor Augen geführt wurden – Robert-Houdin hat die klassische Taschenspielerkunst mithilfe von Technik und Wissenschaft, namentlich auch Elektrizität, angereichert und erneuert. Die Geschichten von Technik und Zauberkunst sind von alters her verschränkt.
Am Robert-Houdin-Theater brachte Méliès nun seinerseits Zaubereien und Illusionen auf die Bühne. Von neuester Technik verstand er viel – er hatte in der väterlichen Schuhfabrik die Maschinen betreut und daneben einige Robert-Houdin’sche Automaten nachgebaut. 1895 wohnte er der Vorführung eines „Kinematographen“ der Brüder Lumière bei. Dessen illusionsgenerierendes Potential realisierend, wollte er den beiden Fotoindustriellen einen solchen Apparat abkaufen, bekam aber keinen – diese Szene wird in „Hugo“ gezeigt. So baute er einen eigenen „Kinetographen“, den er ein Jahr später patentieren liess.
Er konnte nun cinematographisch zaubern – unter anderm hat er die filmische Animation erfunden. Er brauchte also keine Androide mehr, um illusionäre menschliche Präsenzen zu erzeugen – er hat seine Automaten später dem "Musée des arts et métiers" geschenkt (wo sie dann eben in einem Abstellraum verkamen). Méliès baute nun ein Filmstudio und produzierte bis 1912 rund 500 Filme (etwa die Hälfte davon ist erhalten) – wunderbare Verwandlungen, tanzende Skelette, science fiction, unwahrscheinliche Reisen. Sein heute berühmtestes Werk ist die von Jules Verne inspirierte „Voyage dans la lune“ von 1902, in der gezeigt wird, wie dem Mond eine Rakete ins Auge geht. Dieses Bild nun spielt in „Hugo“ eine besondere Rolle – hier wird die Geschichte fiktiv: Hugos Roboter zeichnet nämlich, nachdem er repariert ist, gerade dieses Bild – er ist einer der Androiden, die Georges Méliès selber gebaut hatte.
Mit allen Mitteln der Kunst
Vermittelndes Medium zwischen den Zeiten ist der Automat, der um 1930 etwas zu Papier bringt, was Méliès eine Generation früher entworfen hatte. Vermittelnd treten in „Hugo“ die ingeniösen Apparate auf, die auf das Ende des 19. Jahrhunderts hin fähig wurden, in sehr rascher Folge zu fotographieren und diese Folgen als „bewegte Bilder“, als „Film“ wiederzugeben. Auch Bücher, Bilder, ein Antiquariat, die Bibliothek mediieren zwischen Alt und Jung. Und immer wieder die Beziehungen, die Menschen zu einander etablieren und unterhalten, ihr Interesse für einander – „Interesse“ hat wortgeschichtlich mit inter-esse, „dazwischen-, dabeisein; teilnehmen“ zu tun. Da sind die Vaterfiguren: der verlorene Vater Uhrmacher selbst, der Antiquar, der Historiker; da sind die weiblichen Gestalten Isabelle und Mama Jeanne d'Alcy, Méliès’ frühere Mitarbeiterin, in klassisch-helfenden weiblich-vermittelnden Rollen.
Die Kinder fragen sich, ob sie den alten Georges, der alle Erinnerung an seine Vergangenheit abspaltet, nicht wiederherstellen könnten, wie sie schon Hugos Automaten geheilt haben. Und tatsächlich können sie Georges, gerade vermittelst des wieder funktionierenden Roboters, helfen, sich seiner Erinnerungen wieder zu freuen und seine Vergangenheit zu re-integrieren. "Erinnern" heisst auf englisch to "re-member", Wiedervereinen der Glieder – wie der antiquarische Android Arm und Hand wieder programmgemäss bewegt, kann der alte Mann wieder zu seinen lebendigen Bewegungen finden. Es scheint Scorsese in seinem neuen Werk um das Verbinden zu gehen, und mit „Hugo“ stellt er die Verbindung zu einem Vater des Films her, dem die Verschränkung von Kunst und Technik noch selbstverständlich war. Und er tut dies mit allen Mitteln der Kunst, der Werbung, der Medien und der Technik, die der Filmindustrie zu Hollywood zur Verfügung stehen – samt Real-3D.
Unterhaltende Bildung, bildende Unterhaltung
„Hugo“ ist wirklich ein „Familienfilm“: Erwachsene können ihn mit Kindern anschauen, ohne sich langweilen oder ärgern zu müssen. Martin Scorsese erzählt klug, unterhaltend und freundlich, mit leichter Hand kombiniert er Geschichten mit Geschichte, Märchenhaftes mit gut recherchiertem und rekonstruiertem Material. Der Roboter ist zwar eine moderne Konstruktion, dass Méliès seinerzeit Automaten baute, stimmt jedoch, auch dass er und seine Leute seine frühen Filme zum Teil selber, Bild für Bild, koloriert haben. Ebenfalls korrekt ist – nach Gaby Woods „History of the Quest for Mechanical Life“ – dass aus dem Zelluloid seiner eingeschmolzen Filme Absätze hergestellt wurden, allerdings Absätze für Armeestiefel und nicht, wie Scorsese familienfreundlich retouchiert, für Damenschuhe. Dass Méliès lange sehr vergessen war, stimmt genau, freilich scheint zu seinem Ruin der Erste Weltkrieg weniger beigetragen zu haben als sein US-Konkurrent, der prototypische Erfinder-Amerikaner Thomas Alva Edison.
Nebenbei ist „Hugo“ auch voller Zitate aus alten Filmen – der einfahrende Zug der Brüder Lumière und Harold Lloyds Uhrzeiger-Szene sind nur zwei davon. Auch Buster Keaton kommt vor, Chaplin, an den vergessenen Max Linder wird erinnert, und es ist wohl eine frühe Cowboy-Aufnahme von Edison, die da kurz vorbeizieht. Ein Traum des Knaben Hugo zeigt, wie ein Eisenbahnzug beim Einfahren in den Bahnhof nicht bremsen kann, den Prellbock überfährt und durch die Wand des Bahnhofs auf die einen Stock tiefer liegende Strasse hinunterkippt – so zeigt Scorsese seinem Publikum, wie es zu der berühmten Fotographie des Eisenbahnunfalls an der Gare Montparnasse vom 22. Oktober 1895 kommen konnte. Wunderbar ist es, als "Filme im Film" Stücke aus verschiedenen der zauberhaften Werke von Méliès zu sehen. So ist Scorsese mit „Hugo“ ein vorbildlicher Familienfilm gelungen.