Man ist sich zwar bewusst, nicht perfekt zu sein und hie und da (vielleicht bei der Steuerehrlichkeit?) auch schon mal nicht ganz den geraden Weg gegangen zu sein. Aber im Grossen und Ganzen ist man doch mit sich und der Welt im Reinen.
Dann ist da jedoch auch noch das andere, dieses unheimlich gute Gewissen. Dieses lässt selbst die kleinsten Selbstzweifel an der absoluten Richtigkeit und Moralität des eigenen Denkens und Handelns gar nicht erst aufkommen.
Entsprechend leiten die Träger (und – politisch korrekt – natürlich auch Trägerinnen) dieses Banners der Vollkommenheit für sich das Recht ab, ihre Umwelt ständig und allumfassend darüber zu belehren, was allein richtig oder falsch, moralisch oder nicht, gerecht oder ungerecht, erlaubt oder verboten, benennbar oder unsagbar sei. Kurz: Sie sie erheben den Anspruch, dass ausschliesslich ihre Sicht der Dinge als Richtschnur des allgemeinen Verhaltens zu gelten habe.
Das nennt man „Meinungsdiktatur“
In einfachen Worten nennt man so etwas Meinungsdiktatur. Und eine solche geht in aller Regel Hand in Hand mit einem ziemlich unerträglichen Pharisäertum. Das ist, weiss Gott, kein neues Phänomen. Selbstgerechtigkeit und Besserwisserei sind wahrscheinlich so alt wie die Fähigkeit des Menschen zum Denken. Aber sie spielten sich früher halt eher im Kleinen, auf jeden Fall in überschaubaren Räumen ab. Das hat sich mit den neuen, digitalen Medien radikal verändert. Ob Facebook, Twitter, WhatsApp oder wie auch immer sie heissen mögen – hier kann jeder alles in die Welt hinaustrompeten. Und tut das auch. Egal ob überlegt, geprüft, richtig und vernünftig oder ganz einfach absurd, nicht selten sogar von vornherein als falsch erkennbar, bewusst beleidigend, mehr oder weniger unsinnig und einem blossen Hörensagen folgend.
Gerade aktuell herrscht in deutschen Landen – wieder einmal – Hochkonjunktur für Pharisäer, Weltverbesserer und Heuchler. Nehmen wir als Beispiel das aufgeregte Geschrei um die höchst nachvollziehbare Massnahme der Essener „Tafel“, für eine gewisse überschaubare Zeit nur noch bedürftige Deutsche mit Lebensmitteln zu versorgen. Allgemeiner Tenor: Empörung! Diskriminierung von Ausländern! Rassismus! Dass dieser Beschluss der freiwilligen (!) Helfer bereits im Dezember – und zwar aus guten Gründen – getroffen worden war, fiel bis vor kurzem niemandem auf. Der Entrüstung speiende Vulkan der bis dahin uninteressierten Verbal-Wohltäter brach erst unlängst, nach einem Zeitungsbericht, aus. Dabei ging völlig unter (und fand lange auch keine Erwähnung in den meisten der darauf folgenden TV- und Rundfunk-Nachrichten sowie Printartikeln), dass die Essener Verteiler ganz einfach verzweifelt die Reissleine ziehen mussten, weil dort offensichtlich ein gnadenloser Verdrängungs-Wettbewerb Platz gegriffen hatte, bei dem vor allem jugendliche Flüchtlinge und Asylbewerber die eigentlich Berechtigten so brachial beiseite drängten, dass diese gar nicht mehr zu kommen wagten: Alte Menschen, Sozialhilfeempfänger, Alleinerziehende …
Skandal im Skandal
War allein das schon ein Skandal, so gebar dieser gleich auch noch einen zweiten, sozusagen aus sich heraus. Nämlich den der Medien. Damit sind hier – ausnahmsweise – nicht die so genannten „sozialen“ gemeint, sondern die traditionellen. Zeitungen mithin und (auch) die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Denn in deren Redaktionsstuben (so hatte man es jedenfalls einstmals gelernt) sollte doch noch jenes journalistische Ethos vorhanden sein, wonach der Veröffentlichung eine gründliche Recherche voranzugehen hat. Nun muss man ja nicht gleich wieder nach dem berühmten Objektivitäts-Dogma des einstigen Star-Fernsehmodertors Hans-Joachim Friedrichs greifen, wonach man einen guten Journalisten daran erkenne, „dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache – auch nicht mit einer guten“. Selbstverständlich dürfen sich Journalisten für eine Sache einsetzen. Aber sie müssen in der Berichterstattung alle Facetten mit in Betracht ziehen. Und das heisst: auch (und gerade) solche, die nicht in ein vielleicht schon vorgefasstes Bild passen wollen.
Dass im hier behandelten Fall wieder einmal gegen Grundprinzipien des Journalismus verstossen wurde, ist ausserordentlich ärgerlich. Geradezu empörend jedoch ist, was an Reaktionen auf die Essener Vorgänge aus der Politik kam. Das sei „nicht gut“, zensierte im fernen Berlin die Bundeskanzlerin von der CDU; man solle „nicht solche Kategorisierungen vornehmen“. Noch vorwurfsvoller der Kommentar der kommissarischen Familien- und Sozialministerin Katharina Barley (SPD): „Eine Gruppe pauschal auszuschliessen, passt nicht zu den Grundwerten einer solidarischen Gemeinschaft.“ Nordrhein-Westfalens CDU-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann schliesslich weckte mit seinem Bannstrahl in Richtung Essener „Tafel“ Erinnerungen an jene einstige Truppe bei den Christdemokraten, die man einst ironisch „Herz-Jesu-Sozialisten“ nannte: „Nächstenliebe und Barmherzigkeit kennen keine Staatsangehörigkeiten.“
Das raubt einem den Atem
Das ist unverfroren und raubt einem schier den Atem. Welch ein Pharisäertum! Welche Heuchelei! Was für eine Selbstgerechtigkeit spricht aus diesen Worten! Da erkühnen sich – ohne auch nur einmal nach den Ursachen gefragt zu haben – Politiker, moralisch über freiwillige Helfer zu richten, die mit äusserstem Engagement wenigstens ein wenig die Folgen zu lindern versuchen, welche – zum Beispiel und nicht zuletzt – die regierungsamtliche Flüchtlingspolitik mit der viel zu lang unkontrollierten Grenzöffnung ausgelöst hat. Mit ihrer Kritik tun sie zudem gerade so, als ob sie die Schöpfer und Wohltäter der „Tafeln“ wären.
Nein, das sind sie nicht! Vielmehr handelt es sich um Vereine und um Freiwillige, die sich mit Eigeninitiative und bewundernswertem Einsatz um jene Menschen sorgen, die von unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt wurden. Und manchmal auch darüber hinaus. Hätten doch die Pharisäer in Berlin und Düsseldorf und wo auch immer zumindest den Mund gehalten.
Stattdessen müssen ausgerechnet jene, die anpacken, um existentielle Not zu lindern, erlebeben, wie ihre Stände und Autos mit Beschimpfungen wie „Nazis“ beschmiert werden. Wo bleibt denn hier der Aufschrei aus dem politischen Bereich und dem Chor der blossen Solidaritäts-Prediger aus Grünen, Linken, Pro Asyl und den diversen Sozialverbänden? Offensichtlich passt so etwas nicht in das Heileweltwunschbild all jener, in deren persönlichem Lebenskreis es solche Probleme halt nicht gibt.
„Nazi“ als normales Schimpfwort
Dazu: Wie kommt es eigentlich, dass der Begriff „Nazi“ in diesem Land mittlerweile offensichtlich schon die Qualität eines „normalen“ Schimpfworts wie etwa „Idiot“ angenommen hat? Er also anscheinend gar nicht mehr in gedankliche Verbindung gebracht wird mit den verbrecherischen Ungeheuerlichkeiten, die sich mit ihm verbinden? Die Leute von der Essener „Tafel“ haben das jedenfalls nicht verdient. Ebenso wenig wie den Vorwurf „Rassisten“ zu sein.
Es ist beunruhigend, wohin sich unsere Sprache entwickelt hat. Auch – und gerade – unter dem Einfluss der Kreuzritter einer „politischen Korrektheit“, die zwar als „rassistisch“ verbieten möchte, dass in polizeilichen Fahndungsaufrufen die Hautfarbe mutmasslicher Täter erwähnt wird, aber nichts davon hören wollen, wenn auf Schulhöfen Kinder von Zuwanderern mit diesem Begriff ziemlich aggressiv sogar gegen Lehrer zur Sache gehen.
Der für Alles sorgende Staat
Die Gesellschaft im Land zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz ist ziemlich schnell zur Hand mit moralischen Verdikten. Zumindest Teile von ihr sind es. Ganz oben steht dabei das Thema Gerechtigkeit. Es gehe nicht gerecht zu, heisst es gleichlautend. Im Allgemeinen. Wer wollte das auch bestreiten? Man braucht ja nur einmal die Liste derer durchzugehen, die sich alle ungerecht behandelt fühlen – Rentner, Raucher, Fahrrad- und Autofahrer, Patienten, Versicherte, Pendler usw, usw.
Keine Frage, sie haben sämtlich Gründe für ihre Unzufriedenheit. Und, in der Tat, hungern und frieren zu müssen und auf Einrichtungen wie die „Tafeln“ angewiesen zu sein, das ist eine schreiende Ungerechtigkeit, die es – so gut wie möglich – zu beseitigen gilt. Aber eben: So gut wie möglich. Natürlich kann man jede Forderung danach „beim Staat“ abladen. Ebenso wie das Verlangen nach innerer und äusserer Sicherheit, nach überall reibungslos funktionierender Infrastruktur, nach höheren Renten, schlaglochfreien Strassen, einer Rundumversicherung, kostenfreien Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder und Alte, erstklassigen Schulen und Unis, einen möglichst kostenlosen Öffentlichen Personen-Nahverkehr … Schliesslich schallt es ja allenthalben: Wir sind doch ein reiches Land. Es ist eine Schande, dass man überhaupt darüber reden muss. Und schliesslich zahlen wir ja auch Steuern!
Daran ist manches richtig. Aber trotzdem muss man einmal wieder an die alte Binsenweisheit erinnern, dass der Staat nicht alles regeln kann. Und schon gar nicht mit Massnahmen, die von allen gleichermassen als „gerecht“ empfunden werden. Der irische Dichter Oscar Wilde hat einmal treffend geschrieben, es gebe zwei Klassen von Menschen – die Gerechten und die Ungerechten. Und die Einteilung werde von den Gerechten vorgenommen. Dazu passt der satirische Spruch: „Die Menschen sind schlecht, sie denken an sich. Nur ich bin gerecht – ich denke an mich.“
Eine ganz tiefe Weisheit erkannte, in diesem Zusammenhang, Gustav Stresemann, der Aussenminister der Weimarer Republik: „Es gibt ein unfehlbares Rezept, eine Sache gerecht unter zwei Menschen aufzuteilen. Einer darf die Grösse der Portionen bestimmen, der andere hat die Wahl.“ Was das alles heissen soll? Ganz einfach – es wird nie gelingen, in einer so vielschichtigen Gesellschaft eine allseits zufrieden stellende Gerechtigkeit herzustellen. Dazu sind die Menschen, ihre Wünsche, Lebensvorstellungen und die entsprechenden Bedürfnisse viel zu verschieden.
Wer daher vorgibt, seine Vorstellungen seien allein gültig und gerecht, ist nicht nur ein Pharisäer, sondern ein Scharlatan. Dies müsste – nach der Erfahrung mit zwei Diktaturen – eigentlich gerade bei den Deutschen zum unauslöschbaren Allgemeinwissen gehören: Wer den Himmel auf Erden verspricht, wird am Ende die Hölle schaffen.
Unverzichtbar: Bürgerliches Engagement
Womit wir wieder beim Ausgangspunkt angelangt wären, den „Tafeln“. Und zwar diese als ein überzeugendes Beispiel für bürgerlichen Einsatz zugunsten der Allgemeinheit. Man mag, zu Recht, beklagen, dass solche Einrichtungen überhaupt nötig sind. Aber die Gesellschaft wird dennoch immer auf diese oder ähnliche tatkräftigen Bekundungen von Solidarität angewiesen sein. Und gerade jetzt, wo so viele verbal-vergiftete Pfeile auf die Helfer von Essen abgeschossen werden, wäre es für gewiss nicht Wenige besonders angebracht, sich einmal vor Augen zu führen, welche Mengen an Lebensmittel nicht zuletzt von ihnen tagtäglich weggeworfen werden in diesem ehrenwerten Haus namens Deutschland.