Der 61-jährige tunesische Verfassungsrechtler, Professor und Politiker ist am 13. Oktober mit 73 Prozent der Stimmen zum neuen tunesischen Staatspräsidenten gewählt worden. Er löst den im Juli verstorbenen Staatschef Béji Caïd Essebsi ab.
Der tunesisch-schweizerische Anwalt Taoufik Ouanes, ein früherer Uno-Diplomat, ist Experte für internationale Beziehungen und einer der besten Tunesien-Kenner. Mit ihm sprach Heiner Hug.
Journal21: Taoufik Ouanes, Sie kennen den neuen Präsidenten persönlich. Was ist das für ein Mann?
Taoufik Ouanes: Kaïs Saïed trat seit Jahren immer wieder in seiner Funktion als Experte für Verfassungsrecht im Fernsehen auf. Deshalb kennen ihn viele Tunesier und Tunesierinnen. Sein Stil ist sehr speziell. Er wirkt nüchtern und trocken. Er improvisiert zwar, spricht aber druckreif in einem gepflegten literarischen Hocharabisch – ohne Notizen. Sein zurückhaltender, ruhiger Stil ist sehr atypisch und unterscheidet ihn von vielen Politikern.
Am Anfang nahmen die Leute nicht gross Kenntnis von ihm. Doch während der schweren Verfassungskrise, die Tunesien vor einem Jahr erlebte, wurde man auf ihn aufmerksam. Jetzt wurde er, der so anders ist als die anderen, zum Phänomen. Plötzlich wurde er als möglicher Kandidat für die Präsidentschaft gehandelt und stieg in den Umfragen.
Wo steht er politisch?
Er hat keine politische Vergangenheit, er hat keine Partei hinter sich, er vertritt keine bestimmte ideologische Strömung. Er ist ein Kontrast zum gesamten politischen Establishment, ob links oder rechts, ob islamisch, islamistisch oder säkular. Sein wichtigster Trumpf ist: Er gilt als sauber, integer, kultiviert, nicht korrupt, aufrichtig und ehrlich.
Das ist nicht gerade das Markenzeichen vieler Politiker.
Nein, aber Kaïs Saïed strahlt Vertrauen aus. Ich will eine kleine Geschichte erzählen. Ich fuhr kürzlich mit dem Auto nach Bizerte. Ich hielt am Eingang der Stadt und wollte an einem Stand Früchte und Gemüse kaufen. Da fragte mich der Früchteverkäufer, den ich nicht kannte, was ich von Kaïs Saïed halte. Ich erwiderte einige belanglose Worte. Da sagte er: „Jetzt sage ich ihnen, was ich von ihm halte. Wenn er am Fernsehen spricht, verstehe ich nicht, was er sagt. Aber ich fühle mich gut mit ihm, ich habe Vertrauen in ihn.“
In der Stichwahl gewann er über 72 Prozent der Stimmen. Das ist ja fast ein Erdrutschsieg.
Das Ergebnis zeigt auch das tiefe Malaise, in dem das Land steckt. Die Menschen in Tunesien haben genug von den politischen Streitereien, den Manipulationen, der Korruption, die das Land ins Elend führt. Die Menschen wollen jemand, der aufrichtig ist und das Gesetz respektiert. Und vor allem wollen sie, dass es mit der Wirtschaft aufwärts geht, dass die Armut bekämpft wird. Die Staatsschuld beträgt 70 Prozent des BIP. Die Wirtschaft kann nicht wachsen, weil man die Zinsen für die Schulden bezahlen muss. Die Korruption ist gewaltig. Vor allem für die Jungen ist er ein Hoffnungsträger.
Ein 61-Jähriger als Hoffnungsträger der Jungen?
Neunzig Prozent der Jungen zwischen 18 und 25 Jahren haben für ihn gestimmt. Die Bewegung „Volonté des jeunes“ hat sich für ihn stark gemacht. Aber auch 86 Prozent der Menschen mit Universitätsbildung haben für ihn votiert. Da hat sich eine soziologisch wichtige Bewegung formiert.
Als vor acht Jahren Ben Ali gestürzt wurde und der Arabische Frühling begann, schwappte eine riesige Welle der Hoffnung über das Land. Doch die Hoffnung wurde bald enttäuscht. Die Jungen, die die Revolution trugen, wurden betrogen. Ben Alis Nachfolger haben das Land in den wirtschaftlichen Ruin gewirtschaftet. Die Korruption nahm dramatische Züge an. Jetzt hoffen viele wieder auf einen Neuanfang und auf einen Aufschwung. Dass Kaïs Saïed als integer gilt und über dem Gerangel der Politik und der Ideologien steht, verstärkt diese Hoffnung.
Man wirft ihm vor, dass er kein politisches Programm hat.
Das stimmt, aber das kann auch eine Stärke sein. Was nützen grosse politische, unausgereifte Versprechen, die man dann doch nicht einhalten kann? Seine Aufgabe als Staatspräsident ist es nicht, ein politisches Programm zu verwirklichen. Das ist die Aufgabe des Ministerpräsidenten, der Regierung und des Parlaments. Saïeds Aufgabe ist es, ein politisches Klima des Vertrauens zu schaffen, damit die Politiker, die politischen Parteien arbeiten können. Und da habe ich grosse Hoffnung, dass ihm das gelingt. Der Staatspräsident soll wieder eine moralische Instanz sein, an dem sich die Politiker orientieren.
Bei Konflikten muss er Schiedsrichter sein. Seine Rolle besteht dann darin zu versuchen, die Leute zusammenzuführen.
Aber ganz unpolitisch kann ja auch er nicht sein.
Das ist er natürlich nicht. Ich würde ihn als konservativen Revolutionär bezeichnen. Er will die internationalen Verträge respektieren und gute, sachliche Beziehungen zur EU pflegen. An der Gleichstellung von Mann und Frau will er festhalten.
Es gebe Verbrechen, sagt er, die derart scheusslich sind, dass es schwierig sei, die Abschaffung der Todesstrafe zu verteidigen. Zum Thema „Homosexualität“ nimmt er eine Doppelrolle ein. Er spricht sich dagegen aus, Homosexuelle ins Gefängnis zu stecken. Doch er will die Gesetzesregel nicht streichen, die besagt, dass öffentliche praktizierte Homosexualität gegen die öffentliche Ordnung ist („contraire à l’ordre public“).
Am meisten Aufmerksamkeit erregte er im Westen mit seiner Haltung gegenüber Israel.
Er spricht sich gegen eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel aus, bevor ein palästinensischer Staat anerkannt wird. Eine Anerkennung Israels wäre ein «Verrat», sagt er. Er betont jedoch: Wir Tunesier sind nicht gegen die Juden. Immer wieder erzählt er, wie sein Vater, der Lehrer war, die Jüdin Gisèle Halimi auf dem Fahrrad transportierte und sie vor den Nazis beschützte. Gisèle Halimi wurde zur Vertrauten von Simone de Beauvoir, war Anwältin von Jean-Paul Sartre und Mitarbeiterin von François Mitterrand.
Kaïs Saïed stieg als letzter Kandidat in die Wahlen ein. Lange Zeit hat er sich dagegen gewehrt. Er hat keine politische Erfahrung, keine Partei hinter sich. Könnte er nicht zum Spielball der politischen Kräfte werden?
Er ist intelligent genug, das zu wissen. Er taugt nicht als Spielball, dafür ist er eine zu starke Persönlichkeit. Wichtig ist, dass er ein loyales Team um sich schart, das mit den politischen und technischen Aspekten des Regierens vertraut ist. Er braucht erfahrene Berater.
Ist es bei seiner Wahl mit rechten Dingen zugegangen? Sein Hauptgegner wurde ja vor dem Wahlkampf ins Gefängnis gesteckt.
Der Medienunternehmer Nabil Karoui, auch „Berlusconi Tunesiens“ genannt, ein umtriebiger Bling-Bling-Mensch, wurde kurz vor Beginn des offiziellen Wahlkampfs ins Gefängnis geworfen. Im ersten Wahlgang hatte er knapp 3 Prozent weniger Stimmen gemacht als Kaïs Saïed. Sein Sohn war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Karoui gründete darauf eine karitative Stiftung, die er in seinem Fernsehsender vermarktete – und damit auch Werbung für sich machte. Das gefiel nicht allen. Ein Gesetzesprojekt wurde eingebracht, das es Leuten verbietet, die Massenmedien für Wahlkampf zu benutzen. Karoui wurde schliesslich auch Steuerhinterziehung und Geldwäsche vorgeworfen. Seltsam war, dass diese Vergehen drei Jahre zurücklagen und er erst kurz vor den Wahlen inhaftiert wurde. Das war klar ein politisches Manöver. Kaïs Saïed reagierte sehr gut. Er sagte: Mein Gegenkandidat kann keinen Wahlkampf betreiben, da er im Gefängnis steckt, also betreibe auch ich keinen Wahlkampf.
Die jüngsten Legislativwahlen haben ein stark zersplittertes Parlament zurückgelassen. Die Islamisten-Partei Ennahda erzielte 24 Prozent der Stimmen und eroberte am meisten Sitze. Wächst jetzt der islamistische Einfluss?
Kaum. Ennahda ist eine sehr moderate Partei. Wichtig bei diesen Wahlen war, dass fast alle, die während der acht Jahre das Land ins Chaos regiert haben, weggefegt wurden. Auch die Opposition, die eine ausgesprochen schlechte Politik betrieb. Die meisten der jetzt gewählten Parlamentarier sind neue Gesichter.
Das Gerangel um eine Regierungsbildung ist in vollem Gang. Jede Partei verlangt für eine Teilnahme an der Regierung wichtige Portefeuilles.
Was geschieht, wenn es nicht gelingt, eine Koalition zu zimmern?
Wenn es nach zwei Monaten nicht gelingt, kann Präsident Saïed eine nationale Persönlichkeit beauftragen, eine Regierungsmehrheit zu suchen. Dieser hat dann zwei Monate Zeit dazu. Wenn es auch ihm nicht gelingt, gibt es Neuwahlen. Ich glaube aber, die Gewählten haben kein grosses Interesse an Neuwahlen – denn dann besteht die Gefahr, dass sie abgewählt werden.
In Tunesien hat vor acht Jahren der Arabische Frühling begonnen. Die Revolution brachte schon bald die grosse Enttäuschung. Steht jetzt ein neuer tunesischer Frühling bevor?
Ich hoffe es und bin zuversichtlich. Etwas darf man nicht vergessen: Tunesien ist das einzige arabische Land, das trotz Rückschlägen nicht ins Chaos gestürzt wurde. Trotz einer misslichen Wirtschaftslage, trotz Terrorismus und Korruption, trotz schlechten Regierungen – die demokratischen Institutionen hielten. Sie sind da und wurden auch in schwierigen Zeiten respektiert.
In den anderen arabischen Ländern war es anders. In Ägypten hat der Arabische Frühling in einer Militärdiktatur geendet. In Libyen und Syrien und Jemen brachen der Bürgerkrieg und das Chaos aus. In Algerien übernahm das Militär die Führung. In Tunesien hat das Militär weder die Revolution gekapert noch blockiert wie in Ägypten und Algerien.
Liegt das auch daran, dass die tunesische Armee schwach ist?
Manchmal bringen schwache Armeen auch Gutes.