Das Museum versucht aus seiner Isolation auszubrechen: Kunst unserer Tage begleitet die Werke des «Nationalmalers». Teils ergeben sich fruchtbare Spannungen, teils wirkt die Begleitung zufällig und unverbindlich. Gestürzt wird der «Säulenheilige» kaum.
Eine grossformatige Genfersee-Landschaft (1895), gesehen von Chexbres aus, begrüsst die Besucherinnen und Besucher beim Eingang zur Ausstellung «Apropos Hodler – aktuelle Blicke auf eine Ikone» im Kunsthaus Zürich. Und sogleich wird deutlich: Es geht nicht nur um Ferdinand Hodler (1853–1918), sondern auch um Zeitgenössisches.
Unser Blick fällt auf ein buntes Werk von David Hockney von 2008. Es zeigt die Stämme gefällter Bäume und dahinter einen Jungwald, der – der erläuternde Text betont es – an Hodlers Parallelismus erinnert. Dass Hodler lieber kräftiges Gewächs mit ausladender Krone malte als gefällte Bäume, machen uns die Kuratorinnen der Schau – Sandra Gianfreda und Cathérine Hug – schnell bewusst: Neben Hockney hängt ein Werk Hodlers von 1906. Es zeigt beinahe formatfüllend einen Baum am Brienzersee.
Als Zeitgenosse bleibt Hockney in einer Schau, die Gegenwartskunst mit dem «Heroen» der Schweizer Kunst um 1900 konfrontieren will, nicht allein: Schnell fällt unser Blick auf Nicolas Partys (*1980) riesige Wandzeichnung einer sich blau auftürmenden Berglandschaft: Die Dekoration bildet den Hintergrund zu Hodlers «Lied in der Ferne» (um 1914), einer Frau in blau fliessender Eurythmie-Kleidung mit ausgebreiteten Armen in einer Blumenwiese.
Auf der Rückseite dieser Wand sehen wir Hodlers wackeren «Krieger mit Hellebarde» (1895). Auch ihm verpasst Party als Dekoration einen grossen bunten Hintergrund, diesmal einen glutroten brennenden Wald. Im «Lied in der Ferne» erhöht Party die Frau zur Alpengöttin. Den Hellebardenträger macht er (spöttisch?) zum Feuerwehrmann.
«Brücken statt Mauern»
Ein Netz solcher Konfrontationen bildet das Grundgerüst der Ausstellung «Apropos Hodler», mit dem die Kuratorinnen «Brücken statt Mauern» bauen und rund dreissig «ausgewählte zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler mit bestehenden, aber auch mit eigens für diese Ausstellung produzierten Arbeiten in Dialog mit diesem ‘Säulenheiligen’» treten lassen wollen. Die rund sechzig Werke Hodlers in der Ausstellung stammen grossmehrheitlich aus der hauseigenen Sammlung an Arbeiten aller Epochen und thematischen Ausrichtungen.
Da gibt es eben nur einen Tell zu sehen, einen blassen zweitrangigen aus Stefaninis Sammlung für Kunst, Kultur und Geschichte: Der berühmte Hodler-Tell ist in Solothurn. Und es gibt keinen der sehr vielen «Holzfäller». Der findet aber, als bös-ironischer Ersatz, Eingang in die Ausstellung über das Kollektiv RELAX (chiarenza & hauser & co): Auf «je suis une femme pourquoi pas vous?» (1995–2001) schreitet uns vor einem der Hodlerschen «Holzfäller» eine schwarz-rot gekleidete Frau energisch und entschlossen mit geschulterter Axt als Holzfällerin entgegen.
Auch nicht aus der hauseigenen Sammlung stammt der seine Muskeln präsentierende nackte Mann mit dem tatsächlich machohaften Titel «Urkraft» (1908). Den borgten sich die Kuratorinnen ausgerechnet von der «Sammlung Dr. Christoph Blocher» aus. Eine Art Gegenposition dazu bildet Frantiček Klossners (*1960) interaktive Videoinstallation «Wie du in den Wald rufst» (2001). Zu sehen ist ein Wald, in dem die Besucherinnen und Besucher mit einem akustischen Signal einen ebenfalls nackten verletzlichen Mann aus dem Schlaf wecken können.
Wenn wir schon beim Thema Akt sind: Hodlers «Weib am Bach» (um 1906) ist eine zartgliedrige bleiche nackte Frau mit bürgerlich hochgestecktem Haar. Sie steht andächtig neben einem Rinnsal. Das Bild beschwört mit esoterischem Anflug und ganz im Sinn des lebensreformerischen Zeitgeistes der Jahrhundertwende die harmonische Einheit von Mensch und Natur. Den harten Kontrast dazu bilden Fotografien von Laura Aguilar (1959–2018). Die in letzter Zeit weltweit bekannt gewordene Fotografin mit indigenen amerikanisch-mexikanischen Wurzeln präsentiert selbstbewusst ihre eigene nackte Körperfülle in freier Natur und thematisiert offen ihre gleich mehrfache gesellschaftliche Marginalisierung: Ihr Körper widerspricht üblichen Schönheitsidealen, sie hatte mit Lerndefiziten zu kämpfen, war Autodidaktin, war Lesbierin und war verbunden mit den Chicanos, der kulturellen Bewegung mexikanischer Ureinwohner in den USA.
Die erwähnten Beispiele zeigen, wie die Kuratorinnen den von ihnen initiierten Dialog verstehen. In manchen Fällen herrscht Harmlosigkeit. In anderen sind sie erfolgreich – etwa, wenn sie Hodlers grossem Gemälde «Das Turnerbankett» (1877/78), einem Lob auf die staatspolitisch für den noch jungen Bundesstaat bedeutende einigende Kraft der Turnerriegen, die Fotoserie «Members» (2002/03) von Roland Iselin (*1958) gegenüberstellen. Auch da geht es um Zugehörigkeiten, wenn auch an gesellschaftlichen Rändern. Iselin zeigt Porträts von Mitgliedern oft kurioser gesellschaftlicher Nischenvereine wie «Combat Shooting», «Cigarrenverein der Wüstensöhne», «Armdrücken», «The Jail House Dancers» oder «Scirocco Club St. Gallen».
Landschaft – heute und damals
Einiges wirkt ausufernd. Ein Beispiel: Sasha Huber (*1975) widmet sich in einer breit angelegten Dokumentation dem bedeutenden Schweizer Gletscherforscher Louis Agassiz (1807–1873), dessen Name weltweit für zahlreiche Berggipfel oder Gletscher Verwendung findet. Huber geht es aber nicht um den Glaziologen, sondern um den Umstand, dass Agassiz sich in pseudowissenschaftlichen Schriften extrem rassistisch äusserte. Die Künstlerin will denn auch – in Verbindung mit auf der ganzen Welt geäusserten ähnlich kritischen Stimmen zu Agassiz – seine Verwendung als Flurname ersetzt wissen durch jenen von Persönlichkeiten gegenteiliger politischer Stossrichtung. Die Ausstellung präsentiert in der Nähe dieser Dokumente ein Hodler-Gemälde von 1911. Das Werk, das eine spontan-freie, hoch emotionale Beziehung des Künstlers zum Berg offenbart, zeigt wohl nicht das Agassizhorn im Berner Oberland, aber immerhin das benachbarte Jungfraumassiv.
Durchaus möglich, dass die Kuratorinnen mit dieser Konstellation zeigen möchten, wie fundamental anders als Hodler vor mehr als hundert Jahren eine Künstlerin heute dem Thema «Gebirgslandschaft» begegnet. Ähnlich wirkt die auch von Zeichnungen begleitete Video-Arbeit von Uriel Orlow (*1973). Auch er begegnet in «Up, Up, Up Gorihorn» (2021) dem Thema «Berg» als Künstler von heute – mit künstlerisch versiert umgesetztem wissenschaftlichem Interesse an den Veränderungen, denen im Zusammenhang mit der Klimaproblematik die hochalpine Landschaft in der Nähe des Flülapasses samt ihrer Vegetation ausgesetzt ist.
Sandra Gianfreda und Cathérine Hug gliedern das von ihnen gewählte Thema «Apropos Hodler – Aktuelle Blicke auf eine Ikone» in vier sich überlappende Motivkreise: Landschaften, Körperlichkeiten, Zugehörigkeiten, Transzendenz. Mit Rätselhaftigkeit ist Hodlers Nähe zu Esoterik und zum Rosenkreuzertum gemeint. Diese Themen sind zentral im Werk Hodlers. Allerding sind sie, in Variationen und selbstverständlich mit wechselnder Bedeutung und unterschiedlicher Intensität, generell Motive der Kunst fast jeder Epoche.
Auch Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart beschäftigen sich aus ihrer eigenen Sichtweise heraus und naturgegeben anders als Hodler mit ihnen – ob sie mit Hodler aufgewachsen sind, was für Schweizerinnen und Schweizer anzunehmen ist, ob sie sich auf die Ausstellung hin erstmals mit Hodler beschäftigten oder ob die Kuratorinnen auf ihre Werke zurückgriffen als Illustrationen ihrer These. Für Letzteres mögen Hockney und Aguilar stehen. Da wird die Wahl der Künstlerinnen und Künstler oder ihrer Werke mitunter zufällig oder gar beliebig und austauschbar.
Absage an die «Splendid Isolation» des Kunsthauses
Die Ausstellung «Apropos Hodler» ist in mehrfacher Hinsicht ein Teamprojekt. Es wurde zuerst innerhalb der Kunsthaus-Crew um die Direktorin Ann Demeester diskutiert und war dann auch Thema innerhalb eines von Künstlerinnen und Künstlern gebildeten Kuratoriums, dem Nicolas Party, Sabian Baumann, Ishita Chakraborty und RELAX (chiarenza & hauser & co) angehörten. Gemäss Demeester sollen damit bewusst neue Formen des Kuratierens erprobt werden, womit sich das Haus auch gegenüber einheimischen Künstlerinnen und Künstlern öffnen will – im Gegensatz zur «Splendid Isolation» unter früheren Direktionen. (Zu dieser Öffnung fügt sich auch, dass das Haus, wie kürzlich mitgeteilt, zur Diskussion um die künftige Präsentation der Sammlung Bührle Miriam Cahn, Thomas Hirschhorn, Yves Demuth, Irma Frei und andere einlud.)
Der Trend hin zur Öffnung ist ein positives Zeichen. Kritik nach sich ziehen mag allerdings der Umstand, dass die Kuratoriums-Mitglieder von «Apropos Hodler» mit ihren eigenen Werken in der Ausstellung selber teils gewichtigste Positionen einnehmen. Das kann, auch wenn zum Beispiel Sabian Baumanns technisch und inhaltlich ambitionierte Zeichnungen hohe Qualitätsanforderungen einlösen, an Insider-Netzwerkbildungen und mangelnde Sensibilität gegenüber Ausstandspflichten denken lassen.
Längst entthronter «Nationalkünstler»
Sie hätten Hodler, den «Nationalkünstler par excellence», aus der Ecke des Nationalen und des Konservativen befreien wollen, und: Die Ausstellung sei eher als eine Ergänzung zum vorherrschenden Hodler-Bild denn als Antithese zu verstehen. So äusserten sich Sandra Gianfreda und Cathérine Hug gegenüber dem «Tages Anzeiger». Allerdings: Ob und bei wem Hodler heute tatsächlich noch als «Nationalkünstler» gilt, ist fraglich. Vielleicht wird dem populären Bild des Helden- und Reckenmalers da und dort noch gehuldigt, aber spätestens seit den Bemühungen des Kunsthistorikers Jura Brüschweiler (1927–2013), des eigentlichen «Mister Hodler», der 1976 mit der internationalen Wanderausstellungen von Hodlers intimen und zugleich indiskreten Bildern vom Leben und Sterben seiner Freundin Valentine Godé-Darel Aufsehen erregte, hat sich das Bild geändert.
Hodler ist definitiv kein «Säulenheiliger» mehr. Im Bewusstsein eines einigermassen informierten Publikums ist er vielmehr längst eine die europäische Kunst der Jahrhundertwende wesentlich mitprägende Persönlichkeit – und zugleich ein in mehrfacher Hinsicht widersprüchlicher und damit auch mancher Kritik ausgesetzter Künstler, der Zärtlichkeit und Sensibilität, Machtgebaren und Machotum, Patriotismus, Internationalität, Avantgarde und konservatives Traditionsbewusstsein in sich vereint.
So fragt es sich, ob die Kuratorinnen nicht offene Türen einrennen, ob «die Ergänzungen zum vorherrschenden Hodler-Bild» anderweitig nicht längst kompetent geleistet sind und Hodler heute gewiss nicht mehr «aus der Ecke des Nationalen und Konservativen» befreit werden muss. Matthias Frehner schildert in seinem eindrücklichen Katalogbeitrag zur Rezeptionsgeschichte Hodlers diese Befreiung.
Der schlafende Clown
Dass eine Beschäftigung heutiger Künstlerinnen und Künstler mit der Ausnahmeerscheinung Hodler zu fruchtbaren Ergebnissen führen kann, zeigen einige Werke der Zürcher Ausstellung. Dass andere jenen Qualitätsanspruch, der mit Hodler verbunden ist, nicht annähernd einlösen, macht der Rundgang durch den Bührle-Saal aber ebenso deutlich. Ausserdem zeigt sich: Die Verbindung mancher Werke zu Hodler bleibt marginal – es sei denn, man erachte eine in den Grundzügen ähnliche Themensetzung bereits als hinreichenden Grund für eine Aufnahme in die Ausstellung.
Ugo Rondinone reagiert auf seine Weise auf diese Situation (Bild ganz oben): Sein dickbäuchiger Clown hat sich in einer Ecke zum entspannten Schlaf hingelegt. Hodler ist ihm einerlei.
Kunsthaus Zürich
bis 30. Juni 2024
Katalog mit Interviews und Essays, 300 Seiten, 49 Franken