Einige Tage Ferien in einem Haus direkt am Fluss geben Einblick in die diversen Erziehungsprinzipien von Wasservögeln und regen zum Nachdenken über die Geschichte der Schifffahrt auf dem Oberrhein an.
Wir durften sie wieder erleben, die Wasserwelten der Espe, des Hauses unserer Freundin in der deutschen Exklave Büsingen oberhalb von Schaffhausen. Im Vorjahr war es Frühling gewesen, das Wasser niedrig und kalt, umso lauter die Vögel, kaum verhiess das erste graublaue Licht der Morgendämmerung den neuen Tag.
Diesmal stand der Sommer in voller Blüte, die Tage schienen endlos und die Sonne schaute hinab auf das, was das fortschreitende Jahr gebracht hatte: Nachwuchs und Überlebenskampf, erfolgreicher bei den einen, schwieriger bei den andern.
Zum Beispiel Familie Blässhuhn: Sie hatte ihr Nest ganz in der Nähe und tauchte mit ihrem einzigen Küken immer dann auf, wenn die Grossfamilie Schwan – sechs schon ziemlich grosse Junge – die Futterstelle vor unserem Haus freigab, ein üppiges Gestrüpp von Seegras, das sich in den Leinen des hier festgemachten Weidlings verfangen hatte. Herr und Frau Taucherli liessen ihr Kind nicht aus den Augen und fütterten es ständig, von Schnabel zu Schnabel, sich immer wieder vergewissernd, dass es das Ihrige sei. – Wenn das nur gut ausgeht mit dieser engen Elternbindung und sich das Junge im Herbst nicht in eine Psychotherapie für heranwachsende Blässhühner begeben muss, fragten sich die menschlichen Beobachter.
Ganz anders Familie Schwan. Sie hatte ihr Nest etwas weiter stromaufwärts, von wo Frau Schwan tagsüber etwa alle zwei Stunden mit ihren Nachkommen zu den diversen, in diesem Sommer sehr üppigen Futterstellen schwamm und dort ohne viel Aufhebens vordemonstrierte, was man zu machen hat, um zu seinen Kalorien zu kommen, nämlich mit dem langen Hals tief ins Wasser hinab zu tauchen und dort die Seegraswiesen abzuweiden. Aber jetzt noch Schnabelfüttern? – Nein, die Nachkommen mussten den Trick möglichst rasch selber herausfinden.
Zuerst schien uns, Frau Schwan würde ihre Kleinen kaum beachten, aber im Laufe der Zeit realisierten wir, dass sie durchaus sehr genau wusste – nur schon wegen des unablässigen Gepiepses der Jungen –, wo sich diese befanden und ihren Schwumm verlangsamte, sobald eines allzu weit hinter der Mutter zurückgeblieben war. Auch für die adäquate Wassertiefe für die noch kurzen Hälse der Kleinen schien sie ein gutes Gespür zu haben.
Bei den Jungen zeigten sich schon jetzt deutliche Charakterunterschiede. Da gab es die Neugierigen, die immer weit voranschwammen, die Verschlafenen, welche beim Fressen alles zu vergessen schienen und schliesslich jämmerlich rufend zur Mutter aufzuholen versuchten, und schliesslich gab es auch das «Mama-Titti», das sich nie weit von der Mutter entfernte.
Und der Vater? – Seine Rolle hatte ich bereits am ersten Tag kennengelernt, als ich nichtsahnend ins Wasser stieg und mich von der Strömung treiben liess. Mit aufgestellten Flügen und vorgerecktem Hals tauchte er unvermittelt auf und verscheuchte mich flussabwärts, wo ich mich schliesslich zwischen den angebundenen Weidlingen ans Ufer retten konnte und zu Fuss zum Haus zurückkehrte.
Später erst wurde uns das Verhaltensmuster klar. Sobald Frau Schwan sich mit den Kleinen auf Futtertour begab, positionierte sich der Vater ein Stück weit flussabwärts in der Flussmitte und überwachte die Umgebung. Die vielen Wassersportler, welche in Ruderbooten, Kanus, Weidlingen oder Stand-up-Boards unterwegs waren, störten ihn nicht, aber einen im Wasser schwimmenden isolierten Kopf galt es genau so zu vertreiben wie andere Schwäne, welche sich vom gegenüberliegenden Ufer her zu weit in den Fluss hinaus wagten.
Dann gab es auch Kinderlose und Zölibatäre, einen Haubentaucher zum Beispiel oder das Rabenpaar, das wir schon letztes Jahr bei der raffinierten Futteraufnahme beobachtet hatten und das entweder in diesem Jahr kinderlos geblieben war oder die Jungen bereits der Welt überlassen hatte. Und freche Spatzen, Wasser- und andere Amseln, elegant über das Wasser kurvende Schwalben und Möwen, Graureiher mit langsamem Flügelschlag …
Alle lieben das Wasser, auch die Menschen. ihnen – wie allen Lebewesen – ist das Wasser nicht nur lebensspendend. Bis vor kaum zweihundert Jahren – genauer: bis zur Erfindung der Eisenbahn und später des Autos – war der Transport auf dem Wasser (fast) das einzige Mittel gewesen, Massenwaren, vor allem Grundnahrungsmittel und Baumaterial, über grössere Distanzen zu transportieren. Ohne Wasseranstoss, d. h. ohne Meer, See oder Fluss, blieb die Grösse von Städten wegen des limitierten Nachschubes begrenzt. Umgekehrt haben seit jeher Flüsse die Entwicklung von hoch organisierten Gesellschaften und differenzierten Kulturen ermöglicht, ja geradezu erfordert, man denke an Ägypten, Mesopotamien und den Fernen Osten.
Und natürlich der «völkerverbindende Rhein»! – Dass er über weite Strecken nicht trennende Grenze, sondern verbindende Achse für die Entwicklung von Kulturen gewesen ist, sieht man schon daran, dass man auf dem rechten Rheinufer zwischen Konstanz und Weil am Rhein (unterhalb von Basel) die Landesgrenze nicht weniger als achtmal überquert, weil sich an Stellen, wo eine Querung des Rheins möglich war (zuerst mittels Fähren, ab dem Hochmittealter auf Brücken), sich die Siedler auf beiden Flussufern niederliessen (so etwa in Konstanz, Stein am Rhein oder Basel).
Historiker haben sicher eine Erklärung dafür, wieso an andern Flussübergängen keine Brückenköpfe entstanden und die Grenze mitten im Fluss verläuft, so in Diessenhofen (das «schwäbische» Gegenstück Gailingen liegt ein Stück vom Rhein entfernt auf einer Anhöhe), Laufenburg oder Rheinfelden.
Ein besonderer Fall ist Schaffhausen: Rechtsrheinisch Kanton Schaffhausen, linksrheinisch Kanton Zürich (Feuerthalen), aber die Grenze verläuft nicht in der Flussmitte, sondern am Zürcher Ufer. Anders gesagt: Die Schaffhauser sind alleinige Meister über den ganzen Fluss.
Das hat weniger mit den Flussübergängen zu tun als damit, dass der Rhein vom Bodensee über Basel bis nach Holland während Jahrhunderten eine wichtige Transportroute für Mensch und Ware gewesen ist. Als Flussanrainer wird man dort besonders reich, wo die Wasserstrasse wegen natürlichen Hindernissen unterbrochen ist. Schaffhausen verdankt seinen einstigen Reichtum dem Rheinfall (von den Schiffersleuten früher auch «Grosser Lauffen» genannt), wo die Warenströme aufs Land verlegt werden mussten und so den Behörden Zolleinnahmen und der lokalen Bevölkerung Arbeit bescherte. Weiter flussabwärts gab es bis zum Meer nur noch zwei ähnliche Hindernisse, den «Mittleren Lauffen» (auch Koblenzer oder Ettikoner Lauffen genannt) und den «Kleinen Lauffen» bei Laufenburg, welcher – ähnlich wie in Schaffhausen – das Städtchen einst wichtig und reich gemacht hatte. Wenn man die alten Bilder betrachtet, begreift man, wieso es dort immer wieder zu tödlichen Unfällen gekommen ist. Beim Bau des Kraftwerkes Laufenburg (1908) wurden dann die Felsen im Fluss gesprengt.
Tempi passati! Die Wasserstrasse von Rotterdam endet für grössere Frachtschiffe im Birsfelder Hafen. Die Basler Personenschifffahrt fährt zwar noch durch die Schleuse des Kraftwerks Augst, aber unterhalb des Kraftwerkes Rheinfelden ist auch für sie Schluss. Als wir früher mit der Solveig VII die Flüsse und Kanäle Europas befuhren, schafften wir es einmal bis nach Rheinfelden, konnten auf der Fahrt durch Schweizer Hohheitsgebiet endlich die Schweizer Fahne am Mast hissen, aber eine Anlegestelle für private Schiffe gab es in Rheinfelden nicht, und wir mussten uns unverrichteter Dinge wieder rheinabwärts treiben lassen.
Hätte es auch anders kommen können mit der Hochrheinschifffahrt? – Ich kann mir vorstellen, ein zentral regierter Staat – wie Frankreich – hätte spätestens im 19. Jahrhundert den Rhein bis in den Bodensee schiffbar gemacht und den Rheinfall mittels eines Kanals umgangen. Tatsächlich gab es nach dem Zweiten Weltkrieg entsprechende Pläne auch in der Schweiz. Im Klingnauer Stausee war zur Bedienung des Schweizer Mittellandes eine Hafenanlage geplant. Aber bis die Pläne verwirklicht werden konnten, hatte der Warenverkehr seinen Weg längst auf der Strasse gefunden – zum Glück für den Hochrhein, weniger für die Strassen. Die Hochrheinschifffahrt ist aus den politischen Programmen verschwunden. Und alles das nur, weil Schwaben und die Schweiz nicht in Frankreich liegen.
Eben hat sich Familie Schwan wieder auf Futtersuche begeben. Ihre logistischen Probleme und ihre Versorgungssicherheit werden durch andere Gesetze bestimmt als die unsrigen; sie sind überschaubar. Als «globaler Mensch» möchte man in diesen arglistigen Zeiten manchmal auch etwas Schwan sein.