Im Hochgefühl, das der weltlängste Eisenbahntunnel als technisch weltmeisterliche Leistung weckt, richten sich alle Blicke voller Bewunderung nach unten. Das ist die gute Gelegenheit für die antizyklische Augenbewegung nach oben auf die alte Gotthardstrecke, die ihre Bedeutung verliert, aber weder ihren Mythos noch ihre Schönheit. Was einst den Ruhm der Linie begründete, besticht als Einzigartigkeit bis auf unsere Tage und gewiss bis in alle Ewigkeit.
Zwei Sterne
Wie der «Baedeker» die mit zwei Sternen ausgezeichnete Strecke vor hundert Jahren beschrieb, ist sie landschaftlich ab Erstfeld noch heute mit dem Interregio beschaulich erlebbar: «Das Reusstal verengt sich; die Bahn beginnt an der r. Talwand zu steigen.» Es folgt «r. oberhalb die restaurierte Turmruine der alten Burg Silenen, 10 Min. weiter auf einem Feldhügel zwischen Bahn und Strasse die Trümmer der angeblichen Gessler'schen Burg Zwing-Uri.»
Alsdann durchbricht die Bahn «ein Felsriff, überschreitet den Kärstelenbach auf einer 134m l., 53m h. Brücke (Blick l. in das tief eingeschnittene Maderanertal mit der Grossen Windgälle, r. in das Reusstal), durchbohrt in zwei Tunneln den lawinengefährlichen Abhang des Bristenstockes und setzt auf 78m h. Brücke (609m) über die tosende Reuss.»
«Oberhalb Gurtnellen», hält der «Baedeker» im akribischen Notizstil fest, «ist eine der merkwürdigsten Strecken der Bahn, die hier mittels dreier Kehrtunnel und einer gewaltigen Doppelschleife bergansteigt.» Die Kirche von Wassen bleibt «lange im Augenpunkt». Das Lob auf Göschenen – «in malerischer Lage an der Vereinigung der beiden Reuss» als «Sommerfrische und Wintersportplatz besucht» – stimmt wehmütig, auch der Hinweis auf den Friedhof mit dem dortigen «Denkmal des Tunnelerbauers Louis Favre († 1879)».
Vor dem Ersten Weltkrieg benötigten die Schnellzüge für den 1872 bis 1882 erbauten und 14’998 Meter langen Gotthardtunnel, der 56'750’000 Franken kostete, 14 bis 20 Minuten, die Personenzüge 21 bis 25 Minuten. «Die Luft im Innern», konstatiert der «Baedeker», sei bei einer Temperatur von 21 Grad «gut und rauchfrei» und alle 1’000 Meter leuchte ein Laterne. Fühlbar hat sich nichts geändert. Nur die Reisedauer beträgt gerade mal schnelle zehn Minuten.
Vorbei an einstigen Kurorten
Die Gegend um Airolo habe «noch vollständigen Hochgebirgscharakter», denn erst bei Faido mache «sich der Einfluss des südlichen Klimas bemerklich». So lesen wir es im betagten «Baedeker» und stellen fest, dass die Gegenwart wie die Vergangenheit aussieht, jedenfalls für den nostalgischen Zugreisenden.
Zu beiden Seiten der Strecke empfiehlt der «Baedeker» – noch immer zu Recht – den Blick «in das fruchtbare Tal von Faido», in «die malerische Biaschinoschlucht» bei Lavorgo, auf die «Kirche San Niccolô da Mira aus frühromanischer Zeit» in Giornico, auf das «von alten Mauern und Burgen» überragte Bellinzona. Es lohnt sich, hier auszusteigen, durch die pulsierende Altstadt zu flanieren und sich auf dem Castelgrande von der Harmonie mittelalterlicher und moderner Architektur, wovon der «Baedeker» noch nicht schwärmen konnte, in den Bann schlagen zu lassen.
Aber der «Baedeker» konnte preisen, woran wir uns im 21. Jahrhundert kaum noch erinnern – und wenn, dann betrübt über den Wandel der Zeit: Airolo als «einen besonders von Italienern besuchten» Luftkurort, Ambri-Piotta als eine «hübsch gelegene» Sommerfrische und Rodi-Fiesso als eine ebensolche «in reizender Lage», Faido als «klimatischen Kurort in sehr malerischer Lage».
Die flache Erde als Ideal
Nach der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels wird die Zugfahrt auf der dannzumal alten Strecke, einer der attraktivsten überhaupt, mühsam. Die SBB dünnen das Angebot aus. Das entspricht offenbar dem Bedürfnis, weder genussvoll noch stilvoll zu reisen, sondern möglichst schnell am Zielort einzutreffen.
Die Alpen erschweren den Temporausch und werden deshalb auf geringer Höhe mit ins Gigantische wachsender Länge durchbohrt. Die antike und später belächelte Auffassung von der Erde als einer flachen Scheibe gewinnt als verkehrstechnisches Ideal begeisterte Anhänger.
Herz mit Bypass
Nur, wo bleibt das sinnliche Erlebnis, wenn wir durch Röhren sausen und bestenfalls auf dem iPad nachlesen können, worin die ins Dunkel getauchte kolossale Leistung besteht? Auf der alten Gotthardstrecke ist der Modernisierungswille des 19. Jahrhunderts sichtbar und spürbar.
Das Herz der Schweiz bekommt mit dem Basistunnel einen Bypass. Das Kunststück verdient den Jubel. Aber weder die europäischen Staaten noch die Deutschschweiz und das Tessin rücken näher zusammen. Mit der U-Bahn unter dem Reusstal und der Leventina werden bloss die Reisezeiten kürzer.
Die alte Gotthardlinie erschloss und belebte Regionen, die neue hängt sie ab. Mit zunehmender Geschwindigkeit.
Karl Baedeker, Die Schweiz, Leipzig 1913