«Mein Bruder, der Osten und der Hass» heisst der Untertitel von Ines Geipels neuem Buch «Umkämpfte Zone». Die einstige Weltklasse-Sprinterin der DDR und heutige Literaturprofessorin hat sich mehrfach mit der kommunistischen Diktatur und ihren Folgen auseinandergesetzt: Sie hat ihre eigene Geschichte literarisch verarbeitet, Werke unterdrückter DDR-Schriftstellerinnen ans Licht gehoben und für die Rechte von Sportlerinnen und Sportlern gekämpft, die wie sie selbst über Jahrzehnte Opfer von Zwangsdoping geworden waren.
Für das neue Buch hat sie den historischen Blickwinkel erweitert. Ines Geipels eigene Familiengeschichte legt dies nahe. Die Grossväter hatten während des Zweiten Weltkriegs hohe Positionen bei der SS inne. Der eine davon war bei den Pogromen gegen Juden im Baltikum an führender Stelle beteiligt. Nach dem Krieg war diese Tatsache in der Familie ein mit ehernem Schweigen gewahrtes Tabu. Das Wegschauen stand im Einklang mit der Staatsideologie der DDR, welche die gesamte faschistische Vergangenheit auf den Westen überwälzte und die eigene Geschichte im Dritten Reich mit einem phrasenhaften Antifaschismus überkleisterte und skrupellos fälschte.
Familiäre und gesellschaftliche Verdrängung
Diese nach 1945 geschehene Verdrängung eines kompakten Unrechtssystems wiederholte sich im Osten nach 1989, und zwar auf der Ebene von Politik und Gesellschaft genauso wie in den privaten Welten aktiv involvierter Familien und in Biographien betroffener Einzelner. Die nachwirkenden Verheerungen dieser Kontinuität des Verschweigens und Verleugnens hat Ines Geipel gleichzeitig an ihrer Familiengeschichte und an gesellschaftlichen Verwerfungen der Ex-DDR festgestellt. Die Familiengeschichte wurde lesbar als Widerspiegelung der politischen Geschichte.
Auslöser für den Entschluss zur Beendigung des Schweigens war der frühe Tod des Bruders im vergangenen Jahr. Mit dem sechs Jahre jüngeren Robby war Ines Geipel zeitlebens symbiotisch verbunden. Nur dank solch verschworener Gemeinschaft hatten die Geschwister den Familienhorror eines hemmungslos gewalttätigen Vaters und einer verbissen schweigenden Mutter überlebt. Robby starb an einem Glioblastom, einem bösartigen Hirntumor. Die Autorin vermeidet es, diese Krankheit ausdrücklich symbolisch zu deuten, doch der Tod des Bruders versetzte ihr den Stoss, nun endlich wissen zu wollen, was da in ihrer Familie seit zwei Generationen gewissermassen unsichtbar nach innen gewuchert war.
Mit Robby war buchstäblich ein Teil von ihr selbst gestorben. Ines Geipel stand an einem Nullpunkt – und überwand ihn mit beharrlichem Wissenwollen über ihre Familie und ihr ostdeutsches Umfeld. Erst durch diese Nachforschungen kamen die fraglose nationalsozialistische Gesinnung ihrer Grosseltern, die Verbrechen der Grossväter und das Ausmass der nachherigen Lügen ans Licht.
Kontinuität unter zwei Diktaturen
Die Eltern wiederum waren in gleicher Weise konform, wie es die Grosseltern gewesen waren, nur eben in einer anders etikettierten Diktatur. Ines Geipels Vater, so stellte sich nach Einsicht in die Akten heraus, war als Stasi-Agent unter acht verschiedenen Identitäten 15 Jahre lang im Westen im Einsatz gewesen. Was er da gemacht hatte, bezeichnet die Verfasserin, ohne ins Einzelne zu gehen, kurz und bündig als Terror.
Als der Spuk namens DDR vorüber war, zeigten Geipels kommunistische Eltern das exakt gleiche Verhalten wie vor ihnen die Nazi-Grosseltern: ein Verdämmern und gelegentliches Aufflackern alter Muster bei den Männern, ein unwirsches in sich gekehrtes Schweigen bei den Frauen – und bei beiden eine wehleidige Selbststilisierung als Opfer.
Wie sehr Ines Geipel auch persönlich unter der SED-Diktatur zu leiden hatte, kommt in ihrem Buch kaum zur Sprache. Die nüchternen Fakten sind zum Beispiel im Wikipedia-Artikel über sie nachzulesen. Sie wurde als Spitzensportlerin und Studentin von der Stasi observiert und mit «Zersetzungsmassnahmen» traktiert. Die schlimmste davon war eine auf Anordnung der Stasi anlässlich einer Blinddarmoperation ihr vorsätzlich zugefügte schwere innere Verletzung.
Ines Geipel blendet die eigene Leidensgeschichte im neuen Buch weitgehend aus. Sie hat sich andernorts dazu geäussert und spricht auch in Interviews wie zum Beispiel hier offen darüber. Indem sie nun aber in «Umkämpfte Zone» die eigene Biographie gerade nicht zum Hauptthema macht, verschafft sie sich die nötige Distanz, um über familiäre und gesellschaftliche Verdrängungen nachzudenken. Aus Geipels Sicht hängt beides zusammen, weil es eben einen Konnex von Verdrängung und Gewalt gibt. Letztere sei im Osten Deutschlands um das Dreifache höher als im Westen, und die Hälfte der Bevölkerung sei fremden- und muslimfeindlich eingestellt. Hass und Ressentiments hätten den gesellschaftlichen Diskurs okkupiert und den Umgangston vergiftet.
Keine simplen Erklärungen
Ines Geipel bleibt vorsichtig mit dem Behaupten von Kausalitäten. Sie unterstellt weder ein Schwarz und Weiss im Vergleich zwischen Ost und West noch sucht sie simple Erklärungen für die gesellschaftlichen Verwerfungen in der Ex-DDR. Sie insistiert aber, es ginge nicht an, bloss dauernd zu klagen, dem Osten sei nach 1989 zu wenig Respekt entgegengebracht worden. Wichtiger sei es zu begreifen, dass solcher Respekt den Ostdeutschen vor 1989 ganze fünfzig Jahre lang permanent versagt geblieben sei.
Die Autorin bleibt dem eigenen Versuch zur Klärung gegenüber skeptisch: «Die vielbesagte Stunde Null, die es schon 1945 nicht gegeben hatte, und die erneute Zeit der Umschreibung nach 1989. Der Nationalsozialismus als deutsche Katastrophe und der Herbst 1989 als der grosse Glücksfall. Die Anfänge nach den beiden deutschen Diktaturen eignen sich nicht dafür, als Analogien gelesen zu werden, und doch waren es Spiegelszenen. Ich weiss, dass ich scheitern werde, dass es unmöglich ist, es zu beschreiben, aber mich interessiert der Charakter unserer Erfahrung, unsere innere Zeichnung.»
Zum Mahnmal des Versagens wurde die polizeilich verschlampte Verhinderung und Aufklärung der NSU-Verbrechen. Ines Geipel zitiert den Generalbundesanwalt Harald Range: «Die NSU-Morde sind unser 11. September.» Eine von Tabus und Verdrängungen paralysierte Gesellschaft gebe, so Ines Geipel, ehemaligen Stasi-Leuten und Mafia-Ablegern im Osten Deutschlands freie Bahn zur Einrichtung ihrer profitablen Netzwerke. Derweil mache sich zusehends eine «Sakralisierung» der DDR breit, wozu in paradoxer Weise auch gehöre, dass Pegida und AfD die Revolutionsparole «Wir sind das Volk» usurpieren. Die Konklusion am Schluss des Buchs fällt bitter aus: «Sich von seiner doppelten Diktaturerfahrung zu emanzipieren, ist als Aufgabe für den Osten gegenwärtig zu gross.»
Ines Geipel: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass, Klett-Cotta 2019, 277 S.