Zum Vorschein kam eine tiefe, ja verstörende Spaltung entlang der Bruchlinien der Berufsregeln.
Drei Journalisten sassen links von Britschgi: Andreas Kunz (damals «Blick», wo er den «Shitstorm» angefacht hatte, jetzt stellvertretender Chefredaktor der «Sonntagszeitung»); Thomas Ley (damals wie heute Kadermann beim «Blick» – er hatte auf Anregung von Kunz den ersten Artikel als Frontaufhänger ins Blatt gerückt); Alex Baur (Gerichtsreporter bei der «Weltwoche», der die Empörung über das «Sondersetting» für «Carlos» zunächst brav mitgetragen hatte, nach einem langen Telefoninterview mit dem schwer integrierbaren Jungkriminellen aber die Richtung wechselte – was ihm zurecht den Zürcher Journalistenpreis 2014 eintrug). Kunz und Ley waren von keinem Zweifel angekränkelt: Erwartung der Boulevardzeitung erfüllt, Empörung gegen «Carlos» geweckt, später geschickt ausgedehnt auf den Oberjugendanwalt und den kantonalen Justizdirektor, die beide zutiefst erschraken.
In der Mitte fehlte eine Schlüsselperson: Der SRF-Filmdokumentarist Hanspeter Bäni, der am Sonntagabend des 25. August 2013 das halbstündige Porträt des Jugendanwalts Hansueli Gürber auf SRF 1 ausstrahlen konnte. Gürber, der einem Alt-Hippie gleichende Jurist mit gleichzeitig zwei Familien und einer Schlangenzucht, ein nimmermüder «Jugendversteher», immer bemüht, junge Delinquenten auf einen geraden Weg zu bringen. Nach der Ausstrahlung – und dem «Blick»-Ankick – erhielt er Morddrohungen. Seine Vorgesetzten erteilten ihm Redeverbot, er war krankgeschrieben und wartet nun auf die Pensionierung.
Der «Shitstorm» entfachte sich nicht um Gürbers Frauen und Schlangen, sondern um ein achtminütiges Mittelstück, das – von hinten – den 17-jährigen Straftäter «Carlos» zeigte, umringt «von zehn Sozialarbeitern» (dabei auch Vater und Freunde – hier war Bäni ungenau). Manöverkritik inmitten eines «Sondersettings», das monatlich «22’000 Franken» oder mehr kostete. Oberjugendanwalt Riesen schäumte, er hätte Bänis Film nie bewilligt: zu spät. – Bäni befand sich zum Zeitpunkt der Podiumsdiskussion im Ausland, gab aber zu Protokoll, während des Drehs mit Gürber sei «die Kamera irgendwie bei ‹Carlos› hängengeblieben». Schade, dass der treffliche Bäni nicht kürzer bei Gürbers Familienverschlingungen und länger bei Gürbers Jugendstrafrechtsdoktrin verbleiben mochte.
Links von Britschgi hatten Platz genommen: «NZZ»-Gerichtsreporter Marcel Gyr, «Tages-Anzeiger»-Teilzeitreporterin Liliane Minor (die als erste den Sinn des Spezial-Jugendstrafrechts mit einbezog) und «Das Magazin»-Reporter Matthias Ninck – ihm ist eine sehr ausführliche, von den «Blick»-Kollegen angefeindete Recherche über die journalistischen Arbeitsmotive rund um «Carlos» zu verdanken.
Es war ein langes Rundgespräch, das Britschgi geschickt immer wieder auf die Grundüberlegungen der Medienleute zurücklenkte. Ich greife nur zwei Rechtfertigungssätze der beiden «Blick»-Akteure in den strategischen Entscheidungsmomenten Ende August 2013 heraus:
Was bewog Kunz, der am Sonntagabend eher zufällig auf Bänis Film gestossen war, und seinen Vorgesetzten Ley, am Montagmorgen so einseitig den Motor der Empörungsbewirtschaftung anzuwerfen? Natürlich die Umstände und die Kosten des «Sondersettings». Weshalb nicht unverzüglich einen aussenstehenden Experten aus dem kaum bekannten Feld des Jugendstrafrechts beiziehen? Zitat der «Blick»-Kollegen: «Zwei, drei Tage lang anfeuern und Gas geben, dann Erklärungen liefern» (NZZ).
Die ganz grossen Buchstaben auf der «Blick»-Frontseite vom 27. August 2013: «Sozial-Wahn!». Layout, Titelgebung und Text der Dienstagsausgabe laufen auf «schwere Vorwürfe» an Gürber, Oberjugendanwalt Riesen und Justizminister Graf hinaus, alle drei in einem Wahn befangen: 4½-Zimmerwohnung, Thaibox-Kurse beim Weltmeister. Einzige hilflos anmutende Rechtfertigung Gürbers (aus dem SRF-Film): Bei jedem Besuch habe sich Carlos «positiv entwickelt … ich glaube, wir sind auch zurecht mild». Keiner der drei konnte sich am ersten Tag argumentativ äussern.
«Fairness-Richtlinie» im Journalistenkodex des Schweizer Presserats: Wer von schweren Vorwürfen betroffen ist, muss vor der Publikation angehört und schon im ersten Bericht fair zitiert werden. Kunz, ausweichend: «Ich hatte nur 120 Zeilen zur Verfügung». Hätte Kunz auf die «Fairness-Klausel» gepocht, wäre Ley gewiss noch mit Platz für einen Kasten herausgerückt. − Sogleich startet der «Blick» unter dem Stichwort SOZIALWAHN eine fromme «Umfrage bei den Lesern»: Sind diese hohen Kosten gerechtfertigt?
Am Mittwoch der Aufhänger der Frontseite: «Sozialwahn um den Messerstecher (17) – Zu brutal für den Knast». Jetzt darf sich auch «der Chef des spendablen Jugendanwalts», nämlich der Oberjugendanwalt, äussern. Er muss zugeben, dass alles noch schlimmer sei. Das Sondersetting koste pro Monat sogar 29’000 Franken; er könne die Empörung, die sich auf der Leserseite Luft macht, verstehen. Carlos zur Arbeit bringen? Dazu schweigt der Oberjugendanwalt. – Leserumfrage zum SOZIALWAHN. «Der Anwalt gehört vor Gericht». Viele «Blick»-Leser sind empört, 82% empfinden die hohen Kosten als Ohrfeige an die Steuerzahler. Eine Begründung für das Sondersetting und ein Kostenvergleich war ihnen allerdings vorenthalten worden.
Am Donnnerstag nochmals ein Frontaufhänger: «Der Staat macht ihn zur Killermaschine – Jetzt sprechen das Opfer des Messerstechers und die Polizisten». Das Opfer des 17-jährigen Messerstechers war ungenügend entschädigt worden: «Carlos» sei «ein Tier», eben eine staatlich aufgepäppelte «Killermaschine». Zudem beunruhigende Warnungen «von verschiedenen Polizeiquellen». Zur Empörungsbewirtschaftung gehört aber auch, dass jetzt noch spurgleiche Politiker aus dem Stall geholt werden. Die Zürcher SVP-Nationalrätin Natalie Rickli etwa «ärgert sich gewaltig. ‹Diese ganze Geschichte ist ein Skandal›». Besonders für sie, die seit Jahren die Platte «Kuschel-Jugendjustiz» abspielt. («Verlangen Sie etwa Zensur?» stichelte einer der «Blick»-Kollegen auf eine entsprechende Frage meinerseits.) Tags darauf dann noch äusserst besorgte Gemeindepolitiker vom Ort, wo «Carlos» – bisher unerkannt – sein Sondersetting absolvierte.
Am Freitag verliert die Empörungsmassage an Schwung. «Carlos ist kein Einzelfall – so verwöhnt Zürich seine jungen Gewalttäter». Da habe man doch einen Mutterprügler mit einem Samurai-Kurs belohnt. Übrigens sei der Boxtrainer von «Carlos» ebenfalls vorbestraft. Endlich meldet sich in einem Kasten der kantonale Justizdirektor. Er fordert für nächste Woche einen Bericht. «Offenbar zweifelt nun selbst der Chef …», ist «Blick» erleichtert. Nachdem nicht nur drei, sondern sogar vier Tage Gas gegeben wurde, in Ausdehnung der Strategie von Reporter Kunz.
Nun begann ein zweites Kapitel im Fall «Carlos», das mit einem für die Zürcher Justizgeneräle – und für den «Blick» – beschämenden Bundesgerichtsurteil endete. Beizeiten Gegensteuer gegeben hatten der «Tages-Anzeiger», die «NZZ» und schliesslich auch die «Weltwoche». Nicht um den schlimmen Jungen «Carlos» weisszuwaschen, sondern um die «Carlos»-Saga in den Rahmen des Jugendstrafrechts einzupassen, wo sie hingehört. «Blick»-Kollegen gaben mir herablassend zu verstehen, ich hätte den Unterschied zwischen Presse und Boulevardpresse eben nicht verstanden. Da halte ich es mit Mathias Döpfner, dem obersten Chef des Hauses Axel Springer (zu dem auch «Bild» gehört): Es gibt verschiedene Medienkanäle, aber nur eine Medienethik und per Saldo eine Qualität.
Zuerst veröffentlicht in www.medienspiegel.ch
Der Jurist Peter Studer war Chefredaktor des «Tages-Anzeigers» und des Schweizer Fernsehens. Später präsidierte er den Schweizer Presserat. Er schreibt über Medienrecht und Medienethik.