In den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts waren die frühen Werke Hermann Hesses eine häufige Klassenlektüre an Mittelschulen. Besonderer Beliebtheit erfreute sich ein schmales Bändchen mit dem Titel Knulp. Es handelt sich um die Lebensgeschichte eines liebenswürdigen Vagabunden und Sonderlings, der in der geordneten bürgerlichen Gesellschaft keinen Platz findet und sich in die friedliche Idylle seiner versponnenen Innerlichkeit zurückzieht.
Offiziell "Knulp", heimlich "Steppenwolf" lesen
Das Buch, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg verfasst, erschien 1915. Es wurde zum Erfolg, entwarf der Autor doch das Bild einer heilen Welt, das den Schlachtenlärm der Kriegswirren vergessen liess. Ähnliches ereignete sich, als der Knulp nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufgelegt wurde.
Gern griffen die Pädagogen nach dem kleinen Werk, das nach der neuerlichen Kriegskatastrophe den „guten Deutschen“ in den Vordergrund treten liess und zur sittlichen Erziehung junger Menschen in besonderem Mass geeignet schien. Dass diese jungen Menschen daheim in ihren Studierstuben ganz andere Werke desselben Hermann Hesse lasen, den Steppenwolf zum Beispiel, wussten die Deutschlehrer nicht oder wollten es nicht wissen.
„O Freunde, nicht diese Töne“
Hesse lebte, als er 1927 den Steppenwolf herausgab, bereits in Montagnola im Tessin, wo er sich bis zu seinem Tod im Jahre 1962 aufhielt. Er stammte aus Calw im nördlichen Schwarzwald, hätte nach dem Willen seiner pietistischen Eltern Theologe werden sollen, entzog sich aber jeder schulischen und beruflichen Ausbildung und beschloss, Schriftsteller zu werden.
Mit Romanen wie Peter Camenzind, Gertrud und Rosshalde hatte der feinsinnige Erkunder von Natur- und Seelenlandschaften früh beachtlichen Erfolg. Zwischen 1904 und 1912 lebte er mit seiner ersten Frau im idyllischen Gaienhofen am Bodensee und übersiedelte dann in die Schweiz.
Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs versuchte Hesse mit dem Artikel „O Freunde, nicht diese Töne“ mässigend auf die Intellektuellen der verfeindeten Länder einzuwirken, verdarb es aber sowohl mit den Nationalisten wie mit den Pazifisten. Während des Krieges arbeitete er bei der „Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene in Bern“, die sich das Ziel setzte, gefangene und internierte Landsleute mit Lesestoff zu versorgen. Hesses Haltung war in dem Sinne unpolitisch, als er sich mit seiner Berufung auf die humanen Werte der abendländischen Zivilisation über die Kriegsparteien und Ideologien stellte – eine Haltung, die er auch im Zweiten Weltkrieg vertrat.
Individualist und Einzelgänger
Den Nationalsozialismus lehnte der Schriftsteller mit Entschiedenheit ab, obwohl er sich mit seinem Werk bei Goebbels’ Kulturpropagandisten durchaus hätte beliebt machen können. Hermann Hesse war zeitlebens ein Individualist und Einzelgänger mit ausgeprägt egozentrischen Zügen; sein Leben schwankte zwischen kurzen Phasen halbwegs ungetrübter Schaffenskraft und schweren Krisen, die ihn immer wieder gefährlich nahe an den Suizid heranführten.
Zur Zeit, da der Steppenwolf erschien, befand sich das Deutschland der „Weimarer Republik“ in einer prekären Verfassung. Die Friedensverhandlungen, die den Ersten Weltkrieg abschlossen, waren politisch demütigend und sprachen dem Land nicht nur die Kriegsschuld zu, sondern belasteten es auch mit Reparationen, die es an den Rand des wirtschaftlichen Ruins führten.
Urbanität, Weltläufigkeit und Aufgeschlossenheit
Militante kommunistische und nationalistische Volksbewegungen bedrohten die junge Demokratie, die beim Volk nie jenen Rückhalt gewann, der eine konstruktive Regierungstätigkeit ermöglicht hätte. In kultureller Hinsicht aber erscheinen die „Goldenen Zwanziger Jahre“ als eine Blütezeit. In der Kunst suchten Expressionismus, Surrealismus und Dadaismus eine neue Formensprache. Die Literatur trat mit Werken wie Bert Brechts Dreigroschenoper, Thomas Manns Zauberberg und Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz hervor.
Auch die Architektur, der Film, die Musik, der Tanz und das Kabarett suchten nach neuen Ausdrucksformen. Diese Kulturblüte war dadurch gekennzeichnet, dass sie sich vom traditionellen bürgerlichen Kunstverständnis abwandte, ja zu diesem in einen scharfen polemischen Gegensatz trat. Gern berief sich diese Kultur auf ihre Urbanität, Weltläufigkeit und Aufgeschlossenheit für die neuartigen Möglichkeiten des industriellen Zeitalters. Hermann Hesses Steppenwolf gehört in diesen geistesgeschichtlichen Zusammenhang, auch wenn sein Schauplatz die Provinz ist und sein Autor den technischen Fortschritt sehr skeptisch beurteilte.
Die Aussenseiter
Der Steppenwolf kann als eine Fortsetzung des Knulp gelesen werden. Beides sind sehr persönliche Bücher, schonungslose Schilderungen der seelischen Verfassung des Schriftstellers Hesse, zu denen sich der Verfasser ausdrücklich bekannt hat. Beide Bücher handeln von Aussenseitern, die sich von der bürgerlichen Gesellschaft abgewandt und auf sich selbst zurückgezogen haben.
Während Knulp als ein liebenswürdiger Sonderling erscheint, der mit sich selbst im Reinen ist und zuletzt einen sanften Tod stirbt, ist der Steppenwolf ein innerlich zerrissener Mensch, der die Gesellschaft und ihre moralischen Werte schroff ablehnt, keinen Sinn in seiner Existenz findet und andauernd mit dem Gedanken spielt, sich mit dem Rasiermesser die Kehle durchzuschneiden.
Der Inhalt des Steppenwolfs ist nicht ganz leicht wiederzugeben. Hauptfigur ist ein gewisser Harry Haller, der sich für einige Monate in der Mansarde einer Kleinstadt einquartiert, um, wie er sagt, „die Bibliotheken zu benützen“. Über Hallers Vorleben ist wenig bekannt. Er stammt aus bürgerlichem Haus, hat eine gute Ausbildung genossen, liebt Goethe und Mozart. Er hat sich weder beruflich festgelegt noch irgendwo dauernd niedergelassen; seine Frau hat ihn verlassen, eine ferne Geliebte sieht er selten.
Leiden an der Zeit und an sich selbst
Durch sein politisches Engagement für den Frieden hat er sich exponiert und unbeliebt gemacht. „Berufslos, familienlos und heimatlos“ treibt sich Harry Haller, der sich selbst als Steppenwolf bezeichnet, herum. Ein doppeltes Leiden lässt ihn nicht los: das Leiden an seiner Zeit und das Leiden an sich selbst. Ihn quält die Doppelnatur und Gespaltenheit seines Wesens, in dem das „Menschliche“ und das „Wölfische“ in tödlicher Feindschaft zerstritten sind. Und ihn quält die Welt der Moderne, die er dem Untergang geweiht sieht.
Haller findet schliesslich einen Ausweg aus seiner Verzweiflung, indem er den Umgang mit andern Aussenseitern sucht: mit der androgynen Hermine, die seine Hemmungen löst und ihm den Foxtrott beibringt; mit der liebeserfahrenen Maria, die ihm das Reich des Eros erschliesst, mit dem schwarzäugigen Saxophonisten Pablo, der Hallers übersteigerter Geistigkeit seine spontane Vitalität entgegensetzt
Schliesslich taucht Harry Haller ein in die karnevaleske Traumwelt von Pablos „Magischem Theater“, aus dem er gewandelt und neugeboren wieder auftaucht. Im „Magischen Theater“ macht Harry Haller befreiende Erfahrungen, wie sie der Drogenrausch verschaffen mag. Hier begegnet er auch Mozart, der ihm rät, sein künftiges Leben mit Galgenhumor zu meistern. „Sie sollen“, so lässt Hesse den Komponisten sprechen, „die verfluchte Radiomusik des Lebens anhören lernen, sollen den Geist hinter ihr verehren, sollen über den Klimbim in ihr lachen lernen. Fertig, mehr wird nicht von ihnen verlangt.“
Widerstand gegen die Welt der Moderne
Der Steppenwolf ist nicht Hesses bestes Buch, aber er ist ein Schlüsselwerk zu seinem gesamten Œuvre. Die Germanisten habe die eigenwillige, zwischen Realität und Traumwelt changierende Form des Werks unterschiedlich beurteilt, und die Psychologen haben das sachkundig vorgeführte Krankheitsbild des Neurotikers Harry Haller alias Hermann Hesse verschieden gedeutet.
Für den Historiker, der im literarischen Werk ein stilisiertes Abbild der jeweiligen Zeitumstände sieht, ist Hermann Hesses Steppenwolf jenes Werk deutscher Sprache, in dem der Widerstand gegen die Welt der Moderne seinen sprechendsten Ausdruck findet. Vorbereitet durch die Lektüre Nietzsches, Dostojewskis, Jacob Burckhardts und Oswalt Spenglers hat der Autodidakt Hesse hier eine in ihrer Radikalität kaum zu überbietende Kritik an der technisierten Zivilisation entworfen.
In seiner Kritik spiegelt sich die schlimme Erfahrung der Weltkriegskatastrophe, auch wenn Hesse von ihr direkt nicht betroffen war. Der Glaube an den technischen Fortschritt, an die humanen Werte der christlichen und der bürgerlichen Kultur, an den Sinn des Lebens überhaupt ist dem Schriftsteller abhandengekommen. „Ein Friedhof war unsre Kulturwelt“, lesen wir im Steppenwolf, „hier waren Jesus Christus und Sokrates, hier waren Mozart und Haydn, waren Dante und Goethe bloss noch erblindete Namen auf rostigen Blechtafeln, umstanden von verlegenen und verlogenen Trauernden...“
Resignierter Rückzug
Angesichts dieser vernichtenden Zeitdiagnose bleibt dem Menschen nur noch der Ausstieg aus der Gesellschaft und die ungesellige Existenz des Aussenseiters. „Ach, es ist schwer“, schreibt Hesse, „diese Gottesspur zu finden inmitten dieses Lebens, das wir führen, inmitten dieser so sehr zufriedenen, so sehr bürgerlichen, so sehr geistlosen Zeit, im Anblick dieser Architekturen, dieser Geschäfte, dieser Politik, dieser Menschen! Wie sollte ich nicht ein Steppenwolf und ruppiger Eremit sein inmitten einer Welt, von deren Zielen ich keines teile, von deren Freuden keine zu mir spricht.“
Der resignierte Rückzug ins Aussenseitertum, wie ihn Hesses Steppenwolf vorlebt, war in der „Weimarer Republik“ unter Intellektuellen eine verbreitete Haltung. Zweifellos hat die politische Indifferenz dieser Haltung, wie der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern in seinem Buch The Politics of Cultural Despair gezeigt hat, auch zum Aufstieg des Nationalsozialismus beigetragen.
Die Welt der Aussenseiter
Der überraschende Welterfolg des Steppenwolf in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts zeigt, dass der Aussenseiter als Symptom der gesellschaftlichen Verfassung seine Rolle nicht ausgespielt hat. Im Jahre 1956 gab der Engländer Colin Wilson sein international erfolgreiches Werk The Outsider heraus, in dem er, gestützt auf die breite Kenntnis der damaligen Gegenwartsliteratur, auch der Werke Hesses, seine Epoche als die der Aussenseiter bezeichnete.
In den Sechzigerjahren wurde Hesse gar zu einem der Vordenker der Hippie-Bewegung in den USA, die in ihrer Ablehnung des Establishments, der Technokratie und verlogener Moralbegriffe Themen aufgriff, die auch Hesse bewegt hatten. Manches am Hesse-Kult der „Blumenkinder“ beruhte freilich auf einem Missverständnis, so etwa, wenn der Psychologieprofessor Timothy Leary im Schriftsteller einen Befürworter bewusstseinsverändernder Drogen sah.
Heutzutage steht der Klassenlektüre von Hermann Hesses Steppenwolf nichts mehr entgegen, und die Schüler mögen sich darüber wundern, was an dem Buch vor sechzig Jahren so gefährlich schien.