Man schätzt, dass Frankreich zwischen 1914 und 1918 an der Front anderthalb Millionen Menschen verlor, junge Menschen zumeist und solche im besten Mannesalter. Zudem wurden die meisten Kampfhandlungen auf französischem Boden ausgetragen, im Norden und Nordosten des Landes. Riesige Flächen von Weide- und Ackerland konnten nicht bewirtschaftet werden, Strassen, Bahnlinien und Kanäle wurden zerstört, etwa zehntausend Industrieanlagen wurden in Mitleidenschaft gezogen. Wer heute durchs Land reist, sieht überall auf den Dorfplätzen noch die „Monuments aux morts“, auf denen die Namen der Gefallenen festgehalten sind.
Von der Kriegsbegeisterung zum blutigen Gemetzel
Niemand weiss, wenn er einen Krieg beginnt, wie dieser sich entwickelt und wie lange er dauert. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs glaubten die Grossmächte, es würde sich um einen kurzen Konflikt handeln, und die Soldaten, die ins Feld zogen, sangen patriotische Lieder und steckten Blumen in die Gewehrläufe. Aber es kam ganz anders. Wenn das Deutsche Reich, einem Plan des Generalfeldmarschalls Schlieffen folgend, gehofft hatte, im Westen einen raschen Sieg zu erzielen, um sich dann mit voller Kraft gegen Russland zu wenden, sah es sich getäuscht.
Einen Monat nach Kriegsbeginn, im September 1914, wurde der deutsche Vorstoss an der Marne zum Stillstand gebracht. Dann erstarrte das Kampfgeschehen. Die deutschen und französischen Truppen begannen sich auf einer Frontlinie, die von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze reichte, einzugraben. Im Jahr 1916 führten die Angriffe deutscher Truppen bei Verdun und die Angriffe französischer Truppen an der Somme zu einem beispiellosen Gemetzel, ohne dass eine Entscheidung herbeigeführt werden konnte. Auch im Jahr 1917, in dessen Verlauf es beidseits der Front zu rasch niedergeschlagenen Meutereien kam, blieb die Situation wenig verändert.
Erst im September 1918 gelang es den Franzosen, den Engländern und den im Vorjahr in den Krieg eingetretenen Amerikanern, den endgültigen Rückzug des Feindes zu erzwingen. Am 11. November 1918 unterzeichneten die Deutschen das Waffenstillstandsabkommen in Compiègne bei Paris.
Ohne patriotisches Pathos
Henri Barbusse, dem wir einen der wichtigsten Berichte über das Kriegsgeschehen verdanken, meldete sich im Alter von vierzig Jahren als Kriegsfreiwilliger an die Front. Als einfacher Infanterist, als „poilu“, blieb er während fast zwei Jahren im Einsatz. Er überlebte den Nahkampf mit aufgepflanztem Bajonett und Handgranaten, das Trommelfeuer der Artillerie, die Feuerstösse der Maschinengewehre, die Seuchen und das Elend des Lebens im Morast der Schützengräben. Und er führte Tagebuch und beschloss, alles genau aufzuzeichnen, damit Ähnliches sich nie mehr wiederholen würde.
Barbusse schlüpft in die Rolle des Erzählers, der den Kriegsalltag seiner Korporalschaft an der Front irgendwo im Nordosten Frankreichs schildert. Seine Kameraden werden einzeln mit ihren Namen und Spitznamen vorgestellt: der Korporal Bernard, die Füsiliere Barque, Cocon, Tirette, Marthereau, Lamuse, Tirloir, Eudore. Es sind einfache Menschen unterschiedlichen Alters und Berufs, die aus verschiedenen Teilen Frankreichs kommen und doch die ähnliche einfache Sprache sprechen – eine Mischung aus Mundart, Argot und Kasernenfranzösisch.
„Wir sind“, berichtet der Erzähler, „durch ein unentrinnbares Schicksal miteinander verbunden, durch ein ungeheures Abenteuer wider Willen weggetragen und dazu gezwungen, uns während Wochen und Monaten immer ähnlicher zu werden. Die schreckliche Enge des gemeinsamen Daseins bedrängt uns, gleicht uns einander an, lässt den einen im andern aufgehen. Es ist wie eine Art von unausweichlicher Ansteckung.“ Die Darstellung von Barbusse folgt nicht einer zusammenhängenden Handlung, sondern zerfällt in einzelne Episoden. Der Autor berichtet von der Monotonie, den Ängsten und dem Schrecken des Grabenkriegs mit fotografischer Nüchternheit, ohne jedes patriotische Pathos, im leidenschaftslosen Tonfall des registrierenden Chronisten.
Die Scheusslichkeiten beim Geschäft des Tötens
Hass auf den deutschen Feind, die „Boches“, ist nicht zu spüren. Doch die Grausamkeit, die Scheusslichkeit, die das Geschäft des Tötens mit sich bringt, wird dem Leser mit grösster Eindringlichkeit geschildert. Man hört den Aufschrei, das Stöhnen und das Wimmern der Sterbenden, sieht, wie Leichen sich auftürmen und die Gesichter der Toten sich zersetzen. Hier, als Textprobe, die Beschreibung des gefallenen Korporals Bernard: „Er ist schrecklich anzusehen. Der Tod hat diesen sonst so schönen und ruhigen Menschen zu einer grotesken Erscheinung gemacht. Die Haare wirr über den Augen, der Schnurrbart mit Speichel verschmiert im Mund, das Gesicht aufgedunsen; und er lacht. Ein Auge ist weit geöffnet, das andere geschlossen, er zeigt seine Zunge. Die Arme sind in Kreuzform ausgebreitet, die Hände geöffnet, die Finger gespreizt. Sein rechtes Bein liegt auf der Seite, das linke ist von einem Granatsplitter zerschmettert, welcher die todbringende Blutung verursacht hat, und es liegt da, ausgerenkt, abgedreht, weich, ohne Beugung. Eine traurige Ironie hat dem Sterbenden in seinem Todeskampf das Ansehen eines gestikulierenden Hanswursts gegeben.“
Für die Soldaten in den Schützengräben macht dieser Krieg keinen Sinn. Es sind die Menschen hinter der Front, die Drückeberger in Uniform, die Zivilisten, Profiteure und Politiker, die daraus ihren Nutzen ziehen. Soldaten, die vom Urlaub in Paris zurückkehren, berichten davon, wie ihre Landsleute fortfahren, ein Leben in Saus und Braus zu führen, ihnen mit geheuchelter Teilnahme begegnen und von Heldentum faseln. Doch für den Frontkämpfer gibt es kein Heldentum. „Lassen wir das doch“, sagt einer der Soldaten, „die Helden, die Menschen von einer aussergewöhnlichen Art, die Idole. Wir sind Henker gewesen. In ehrenhafter Weise haben wir das Geschäft von Henkern besorgt... Der Akt des Tötens ist immer niederträchtig. Ja, harte und unermüdliche Henker sind wir gewesen. Dass man mir nur nicht von militärischer Tugend spreche, weil ich Deutsche getötet habe.“
30 Millionen Sklaven im Dreckkrieg
Nur in einer Hinsicht kann der Krieg zu einer wichtigen und wertvollen menschlichen Erfahrung werden. Im Krieg entfallen die Unterschiede der Herkunft, des Berufs und der sozialen Stellung; die Nähe des Todes tilgt solche Ungleichheit. Unter den Erniedrigten und Leidenden, den Sklaven, die in einen unsinnigen Krieg geführt worden sind, entsteht eine neuartige Solidarität. Diese Solidarität kennt keine Frontlinie; sie verbindet die Soldaten auf französischer wie auf deutscher Seite miteinander. „Aber die dreissig Millionen Sklaven“, schreibt Barbusse einleitend, „in einem Dreckkrieg gegeneinander geworfen durch das Verbrechen und den Irrtum, erheben ihre menschlichen Gesichter, auf denen ein Wille sichtbar wird. Die Zukunft liegt in den Händen dieser Sklaven, und man wird sehen, wie die alte Welt sich verändern wird durch die Gemeinschaft derjenigen, deren Elend und deren Zahl ohne Grenzen sind.“
Gegen den Schluss gewinnt Barbusses Kriegsbericht eine politische Dimension. Es ist der Korporal Bernard, nachdem er im Kampfgetümmel mehrere Deutsche umgebracht hat, der spricht: „Die Zukunft, rief er plötzlich mit der Stimme eines Propheten aus. Mit welchen Augen werden jene, die nach uns kommen, diese Schlächtereien und diese Taten betrachten, wenn der Fortschritt, der unfehlbar kommen wird, das Gewissen der Menschen wieder beruhigt hat?“ Und dann ruft Bernard den Namen eines Mannes aus, der sich durch seinen Mut weit über das Schlachtgetümmel erhoben habe. Und es ist der Name eines Deutschen, der 1914 als Sozialdemokrat und Mitglied des preussischen Abgeordnetenhauses gegen die Bewilligung von Kriegskrediten stimmte: Karl Liebknecht.
Pendant zu Remarques „Im Westen nichts Neues"
Der Kriegsbericht endet mit einer Kampfpause. Ein Gewitter zieht über der zerstörten Landschaft auf, ein Blitz erhellt das Dunkel und ein Soldat murmelt: „Wenn dieser Krieg den Fortschritt nur um einen Schritt hat voranschreiten lassen, fallen sein Unglück und seine Schlächtereien wenig ins Gewicht.“
Die Weltliteratur kennt einige Schlachtenbeschreibungen. Doch die Schilderungen von den napoleonischen Kriegen, wie wir sie von Stendhal und Tolstoi besitzen, wirken fast idyllisch, wenn man sie mit der durch den technischen Fortschritt ermöglichten Massentötung des Ersten Weltkriegs vergleicht. Der drastische Realismus von Barbusse’ Darstellung, die bereits 1916 als Feuilleton in einer Zeitung erschien, wühlte die Leser auf. 1917 erhielt das Buch den renommierten „Prix Goncourt“. In der Folge wurde es in über sechzig Sprachen übersetzt; auch Lenin las das Buch und war davon begeistert. „Le Feu“ ist neben Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ das verbreitetste literarische Zeugnis zum Ersten Weltkrieg geblieben.
Peinliches Fehlurteil über Stalin
Interessant ist der weitere Werdegang des Schriftstellers Henri Barbusse. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden zahlreiche französische Intellektuelle zu Pazifisten, und viele von diesen sahen im Sozialismus die einige Möglichkeit, künftige Kriege zu verhindern. Als sich 1920 die französische Linke infolge der Gründung der Kommunistischen Partei aufspaltete, wurden aus ehemaligen Frontkämpfern Klassenkämpfer. Auch Henri Barbusse ging diesen Weg. Er gründete die Zeitschrift „Clarté“ in der Hoffnung, der kommunistischen Internationalen eine „Internationale de la pensée“ an die Seite zu stellen. 1926 übernahm Barbusse die Leitung des literarischen Teils der kommunistischen Tageszeitung „L’Humanité“. Der russische Diktator Stalin erschien dem Schriftsteller als eine Art von Messias. In Moskau sah er „das grosse Licht aus dem Osten“ leuchten, dem die Menschheit zu folgen hatte. Stalin empfing Barbusse in Audienz, und der Schriftsteller widmete „dem grössten und bedeutendsten unserer Zeitgenossen“ eine rühmende Biographie, die den heutigen Leser, der „Le Feu“ noch immer als eindrückliche Leistung schätzt, nur peinlich berühren kann.
Im Juni 1935, über zwei Jahre nach Hitlers Machtübernahme, fand in Paris ein denkwürdiger antifaschistischer Schriftstellerkongress zur „Verteidigung der Kultur“ statt. Der Tagung wohnten zahlreiche europäische Intellektuelle, unter ihnen André Gide, André Malraux, Romain Rolland, Bert Brecht, Heinrich Mann und Aldous Huxley bei. Henri Barbusse, bereits auf den Tod erkrankt, hielt eine Rede, die nicht enden wollte. Noch im selben Jahr verstarb der Schriftsteller in Moskau.
Weitere bedeutende Werke zum „Grossen Krieg“
Aus dem „Grossen Krieg“ sind mehrere bedeutende Werke der französischen Literatur hervorgegangen. Hier seien nur die wichtigsten Autoren erwähnt: der rechtsreaktionäre Antisemit Drieu la Rochelle, der sich Vichy-Frankreich andiente und durch Selbstmord endete; Roland Dorgelès, der in seiner Haltung Barbusse besonders nahe stand; Maurice Genevoix, der sich in besonderem Masse um das Andenken der Frontsoldaten verdient machte; der Schweizer Blaise Cendrars, der als Fremdenlegionär mitkämpfte und seinen rechten Arm verlor.
Noch immer ist die „Grande Guerre“ nicht vergessen: Zurzeit wird in Frankreich darüber diskutiert, ob die Asche von Genevoix ins Pantheon, den Ehrentempel der berühmten Franzosen, überführt werden soll.