Obwohl wir seit Jahren über die Dringlichkeit unserer politischen Reformen debattieren – das Resultat ist: Stillstand. Zu weit gehen im National- und Ständerat ideologisch geprägte Meinungen auseinander oder werden mühsam ausgehandelte Lösungen vom Volk abgelehnt.
Ein Trauerspiel
Die Liste der politischen Sanierungsfälle wird länger und länger. Sie umfasst einerseits «Baustellen», die seit Jahren ergebnislos diskutiert werden, andererseits nicht weniger drängende Schwachstellen, die von der offiziellen Politik fast gar nicht und von den Medien zu wenig thematisiert werden. Eine Übersicht in alphabetischer Reihenfolge:
- Altersvorsorge (Renten- und AHV-Reform, letzter Reformvorschlag abgelehnt Volksabstimmung 2017)
- Föderalismusumbau (Ständerat, Ständemehr, Kantönligeist, Kirchturmpolitik)
- Gesundheitswesen
- Landwirtschaftspolitik (CO2-Einfluss, Pestizideinsatz, Subventionen)
- Landschaftsschutz
- Nachhaltigkeitsgebot (Klimaerwärmung, Energie, CO2-Vorlage vom Volk abgelehnt im Juni 2021)
- Transparenzgebot (inkl. Lobbying)
- Zusammenarbeit CH–EU (Verhandlung Rahmenabkommen vom Bundesrat abgebrochen im Mai 2021)
Ergänzt werden muss diese Aufstellung mit den negativen Auswirkungen der «Gibst-du-mir-so-geb-ich-dir»-Usanz im eidgenössischen Parlamentsbetrieb: Kleinere Interessengruppen, die auf sich selbst gestellt mit ihren oft egoistischen Anliegen keine Chance hätten, verbandeln sich mit anderen Playern, um für ihre Anliegen Mehrheiten zu schaffen. Im Gegenzug verhelfen sie ihren «Supportern» bei deren Anliegen ebenfalls zu Mehrheiten.
«Damit ist der politische Stillstand zementiert. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Politiker und Politikerinnen, die bei Reformen etwas zu verlieren haben, nie und nimmer für solche Erneuerungsschübe einspannen lassen – wer stimmt schon gegen seine Eigeninteressen? Nur jene kooperativen Kräfte, die in Zukunftsmodellen ganzheitliche Verbesserungschancen erkennen.»*
In Vorbereitung auf die Zukunft
Warum die Reformunfähigkeit ein Problem sei? Wo uns doch der SVP-Politiker Roger Köppel aufklärt: «Bewahren, nicht verändern, heisst die Losung», denn es sei brandgefährlich, wenn Politiker die Schweiz neu erfinden wollen («NZZ am Sonntag»). Er hat, wie meistens, falsch verstanden: Nicht um die Neuerfindung geht es, sondern um die Stärkung und Zukunftsfähigkeit jener Eigenheiten, welche die Schweiz zu einer vielbeachteten, erfolgreichen Demokratie machen.
Wenn wir in der Vergangenheit recht gute Erfahrungen mit unserem föderalen System gemacht haben, so heisst das nicht, dass dieses auf alle Zeiten «wie gehabt» den Erfordernissen der Zukunft standhalten wird. Globalisierung und Digitalisierung schaffen ein grundlegend verändertes Umfeld. Darauf müssen wir uns einlassen, Zukunftsvisionen auf dem Boden der bewährten Traditionen ausloten, Reformen beschliessen. Es folgen in aller Kürze einige Begründungen, warum das bei obigen «Baustellen» notwendig ist.
Die dramatischen Auswirkungen des Einbruchs der Zeit (IT/Gleichzeitigkeit) und der Verkürzung des Raums (Globalisierung) sind in Bern noch nicht angekommen. Die Beschleunigung der politischen Entscheidungen (Zeitfaktor) und die Überwindung der Kleinräumigkeit der kommunalen und kantonalen Strukturen (Raumfaktor) sind überfällig.
Altes Denken ist vergangenheitsbasiert, neues Denken zukunftsfokussiert
Albert Einstein prägte den Satz «Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.» Wir können uns alle diese einsteinsche Weisheit hinter die Ohren schreiben. Dazu passt die Feststellung von Rahel Freiburghaus in der NZZ («Den Föderalismus zementieren, normalisieren oder reformieren?»), die sich über Zukunftsperspektiven der Kantone in Zusammenarbeit mit dem Bund Gedanken macht. «Soweit Reformideen den für die föderative Staatsordnung charakteristischen Gedanken der Mitwirkung der Glieder überhaupt in zeitgemässer Form neu verwirklichen wollen, scheinen die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger althergebrachte Rezepte zu bemühen.»
Warum diese Reformen so wichtig sind
Altersvorsorge: Seit rund 20 Jahren diskutieren wir im Land über die Reform unserer Altersvorsorge. Relevante Abstimmungen sind mehrmals gescheitert. Obwohl dringender Handlungsbedarf eigentlich von fast niemandem bezweifelt wird, zeichnet sich keine ganzheitliche, erfolgversprechende Lösung ab. Die Rentenreform gehört in diesen Komplex. Und es geht auch um die Zukunft unserer AHV, deren heutige Konstruktion im «No man’s land» endet – länger arbeiten, mehr einbezahlen, tiefere Renten – alles wird diskutiert, diskutiert, diskutiert.
Der Ökonom Gerhard Schwarz bringt es in «vz news» auf den Punkt: «Es führt kein Weg daran vorbei, die Rentnerinnen und Rentner zu überzeugen und zu motivieren, zu einer nachhaltigen Reform der AHV und der zweiten Säule beizutragen – im Interesse der Kinder und Enkel und im Interesse des Zusammenhalts. Die Altersvorsorge ist eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Zeitbombe.»
Föderalismusumbau
Die wichtige Thematik Ständerat/Ständemehr wurde an dieser Stelle im Beitrag «Wen schützt der Ständerat?» (22.07.2021) ausführlich behandelt, ebenso das Thema Kirchturmpolitik (12.08.2021).
Kantönligeist: Die vor 173 Jahren gezogenen Kantonsgrenzen sind ein Tabu, als wäre der Welten Lauf seither stehen geblieben. Der Politikwissenschaftler Adrian Vatter meinte 2014: «Schon Max Imboden (1915–1969, Politiker, Jurist) wies 1964 in seinem Buch ‹Helvetisches Malaise› darauf hin, dass die direkte Demokratie zu langsam arbeite und wichtige Entscheidungen verschleppe.» («Das politische System der Schweiz»)
Ein Beispiel: Zum ewigen Diskussionsthema gerechter Nationaler Finanzausgleich (NFA) ist zu bemerken, dass dieser falsche Anreize zementiert. So verteidigen die «Nehmer-Kantone» diese Umverteilung von wirtschaftlich stärkeren zu schwächeren Kantonen, die kantonale Steuerhoheit ist unantastbar, aber bitte durch freundeidgenössische Nachbarn subventioniert. Heute werden so jährlich über 1,2 Mia. Franken von sieben «reichen» Geberkantonen auf 19 «arme» Nehmerkantone zwangsumgeleitet.
So schrieb die NZZ kürzlich in einem Beitrag («Der Kanton Bern ist marode, und die Bundesstadt gefällt sich als ultralinkes Sozialparadies»): «Mit dem alljährlichen Milliardensegen (des NFA) wird es dem Kanton leichtgemacht, sich mit dem historischen Erbe des Agrarkantons herauszureden.» In einem anderen Artikel (NZZ: «Welches ist der wettbewerbsfähigste Kanton?») lesen wir: «Aufsteiger des Jahrzehnts ist Schwyz – Absteiger ist Bern.» Die Schweiz ist gemäss IMD (International Institute for Management Development) das wettbewerbsfähigste Land, bei den Kantonen ergibt das Wettbewerbsranking der Kantone (UBS), dass 2012 die Kantone Schwyz (Rang 10) und Bern (Rang 11) nahe beieinanderlagen, in der jüngsten Rangliste jedoch Schwyz (Platz 5) und Bern (Platz 19) weit auseinanderliegen.
Die Schwerfälligkeit des heutigen Koordinationssystems unter den Kantonen wirkt im 21. Jahrhundert «aus der Zeit gefallen». Die kantonalen Direktorenkonferenzen tagen, um kantonale Interessen zu verteidigen, die Liste ist ellenlang: Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz (BPUK), aus Platzgründen folgen nur noch die Kürzel: EDK, EnDK, FDK, KWL, GDK, KKJPD, KöV, RK MZF, SODK, VDK, FDKL, KOKES, LDK, SSK. Das juristische Gerüst dieser Konstrukte bilden 800 interkantonale Verträge, dazu kommen 500 Konferenzen auf Beamtenebene. Ob dies noch zeitgemäss und effizient ist?
Rahel Freiburghaus weist im weiter oben erwähnten Beitrag darauf hin, dass drei Zukunftsperspektiven für die kantonalen Interessenvertretungen im Bund möglich wären. Variante 1: Ist-Zustand weiterhin wortlos hinnehmen. Untätigkeit heisst, die ungleich gewordenen Zugangschancen zu zementieren. Variante 2: Statt den Ständerat als Kantonskammer oder eigentlichen Hort des Föderalismus zu verklären, ist dessen institutionelle Konstruktion endlich ungeschönt anzuerkennen. Variante 3: Grundlegende Reform, wie es der Politologe Leonhard Neidhart bereits 1970 («Reform des Bundesstaates») forderte: «Es fehlt nicht nur an konkreten Vorstellungen darüber, was umgestaltet werden soll, sondern überhaupt an Vorstellungsfähigkeit.» (NZZ)
Diese mittlerweile 50 Jahre alten Gedanken müssten wohl nicht nur dort enden, wo es darum geht, wie die Kantonsinteressen im Bund optimiert werden könnten. Kompetenzverlagerungen zum Bund wären dringend zu erwägen. Das unsägliche Gerangel bei der Bewältigung der Covid-19-Pandemie lässt Schwachstellen erkennen.
Gesundheitswesen
Viele sagen, unser Gesundheitswesen sei das beste der Welt! Wenn da nicht die jährlichen Kostenexplosionen wären. Steigende Krankenkassenprämien haben ihre Ursachen. Das System selbst hat Fieber. Es stellt sich die Frage, welches die langfristigen Folgen dieser Diagnose sein werden und ob die Krankheit nicht längst chronisch und damit unheilbar ist.
Alle Beteiligten dieses Systems sind mitschuldig. Offensichtliches Beispiel: Wenn der behandelnde Arzt seine Rechnung direkt an die Krankenkasse und diese anschliessend dem Patienten ihre Leistungsabrechnung schickt, ist für diesen nicht ersichtlich, wie sich der Betrag zusammensetzt. Die Krankenkasse bezahlt, der Patient weiss nicht, wofür.
Neben diesen Playern sind auch Spitäler, Apotheken und die Politik am Spiel der steigenden Gesundheitskosten beteiligt. Wer also ist schuld am Debakel? Immer die andern. Die Anspruchsmentalität der Gesellschaft, der Kantönligeist, Egoismus, Intransparenz, falsche Anreize sind nur einige der Systemfehler. Die Finanzierung des Gesundheitswesens kostet uns 85 Milliarden Franken jährlich – das nächste Jahr werden es mehr sein.
Apropos unnötige Operationen: Die Akademie Menschenmedizin schreibt auf ihrer Homepage (menschenmedizin.com): «Mit unzweckmässigen, unnötigen Operationen erhöhen Spitäler und Chirurgen ihre Einkommen. Chefärzte erhalten sogar Boni dafür.»
Zu hohe Medikamentenpreise: Schon 2010 hat der Preisüberwacher festgestellt, dass Ärzte und Apotheken an Medikamenten zu viel verdienen. Der Bund «überprüft» seither die Margen …
Kantonale Prestige-Spitalprojekte sind teuer, 300 Spitäler verschlingen Millionen – ohne Koordination mit Nachbarkantonen, die 25’000 Betten sind jedoch ungenügend ausgelastet. Täglich verfolgen wir ungewollt am TV die unterschiedlichen Werbespots für Krankenkassen, obwohl sie in der Grundversorgung alle die gleichen Aufgaben wahrzunehmen haben. Auch diese Werbekosten bezahlen wir «Zuschauer».
Natürlich begrüssen wir es, dass wir alle immer älter werden – doch auch das trägt zur Kostensteigerung bei. Es muss zu denken geben, dass mittlerweile bald ein Drittel der Versicherten Anspruch auf staatlich verbilligte Prämien hat und dies den Staat (die Steuerzahlenden) jährlich über vier Milliarden Franken kostet.
*Christoph Zollinger: «Notizen eines Unverbesserlichen – Reformanstösse für die Zukunft der Schweiz in Zeiten des Epochenwandels», Conzett Verlag, 2021.