Die kanadische Historikerin Judy Batalion ist den Spuren jüdischer Kämpferinnen gegen die Naziherrschaft in Polen gefolgt und setzt den vergessenen mutigen Frauen ein literarisches Denkmal.
«Du hast immer gekämpft wie eine wahre Heldin.» Mit diesen Worten verabschiedete sich Liran im August 2014 auf dem Friedhof von Haifa von seiner Grossmutter Renia Kukielka. Die 1925 im polnischen Jedrzejów geborene Widerständlerin, Kurierin der Widerstandsgruppe «Freiheit» in Bedzin, ist die Protagonistin in Judy Batalions eindrücklichem Sammelband «Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns». Er enthält ausserdem die Geschichten von 19 weiteren Frauen, die während der Zeit der Verfolgung in heldenhafter Weise im Kampf gegen die organisierte Vernichtung engagiert waren.
Eine Lücke des Erinnerns geschlossen
Die Geschichte des jüdischen Widerstandes, der Aufstände in Auschwitz und zahlreicher weiterer Konzentrationslager, ist in den vergangenen Jahren dokumentiert worden. Der starke Anteil von Frauen, wie etwa von Renia Kukielka und Chaika Grossmann, wurde hierbei jedoch nie angemessen gewürdigt. Die kanadische Kolumnistin Judy Batalion, selbst aus einer Familie Überlebender stammend, hat die Lücke des Erinnerns geschlossen und die Geschichten dieser unbekannt gebliebenen Frauen des heldenhaften Widerstandes – von denen einige von den Deutschen ermordet wurden – nacherzählt.
Sie bestachen Wachleute, versteckten Waffen, bauten unterirdischer Bunker, verteilten gefälschte Papiere und verübten Sprengstoffanschläge.
Den Auslöser bildete die Lektüre der bereits 1946 erschienenen Anthologie «Freuen in di Ghettos», in welcher Dutzende junger Frauen ihre Widerstandsaktionen beschrieben haben: Sie bestachen Gestapo-Wachleute, versteckten Waffen in Broten, halfen beim Bau unterirdischer Bunker, verteilten gefälschte Papiere und verübten Sprengstoffanschläge auf Bahngleise. Unter den Autorinnen war auch Renia. Diese hatte ihren Augenzeugenbericht auf Polnisch verfasst; 1945 erschien dieser auf Hebräisch.
Hauptmotor des Widerstandes war die säkular-sozialistische Widerstandsgruppe «Freiheit». Renias Freundin Frumka Plotnicka leitete die Kampforganisation im polnischen Bedzin. Wenn sie schon sterben müssten, dann, so beschwor sie ihre Mitkämpferinnen, «lasst uns nach einem heldenhaften Tod streben». Frumka, die für täglich 600 Juden Suppenküchen organisierte, pädagogisch tätig war und eine jüdische Polizeitruppe aufbaute, wurde Zeugin mörderischer deutscher Liquidationen. Die Alija (Auswanderung) nach Palästina verschob sie im Interesse des antifaschistischen Kampfes mehrfach. Im August 1943 kam sie bei einem Aufstandsversuch in einem Bunker von Bedzin auf grausame Weise ums Leben.
Für die Enkelgeneration festgehalten
Viele dieser Frauen hatten bereits während der Verfolgung oder nach der Niederschlagung des Faschismus ihre Berichte als Zeitzeuginnen niedergelegt. Andere schrieben ihre Erinnerungen im hohen Alter nieder, um zumindest ihren Enkeln von ihrem Leben im Widerstand zu berichten. Dennoch sind sie weitestgehend vergessen geblieben. Judy Batalion gibt ihnen nun eine literarische Stimme.
Für viele war das Ziel, Juden zu retten, für andere, in Würde zu sterben.
Gemeinsam war diesen jungen Frauen der unbedingte Wunsch, den deutschen Mördern Widerstand entgegenzusetzen. Sie arbeiteten als Kuriere mit falschen Pässen, schmuggelten Waffen in die Ghettos und KZs, liessen sich zum Kampf mit der Waffe ausbilden. «Für viele war das Ziel, Juden zu retten, für andere, in Würde zu sterben und so in Erinnerung zu bleiben.»
In dichter Weise werden die Härte des Überlebens und der Vernichtungseifer der Deutschen nacherzählt. Renia schrieb über die «jungen, gesunden Deutschen», denen «ein Menschenleben nichts bedeutete». Sie waren «immer blutrünstig», für sie war es «leichter, einen Menschen zu töten, als eine Zigarette zu rauchen.»
Kraft zur Rache
Chajka Klinger, mit Renia eng befreundet, zeichnete sich durch ganz aussergewöhnlichen Mut aus. 1943, dem Tode nahe, schrieb sie Tagebuch, um die Verbrechen zu dokumentieren. Sie war verzweifelt über die geringe Unterstützung aus dem Ausland. In einem Versteck beschwor sie ihre Mitkämpfer, nicht zu resignieren. Ihr Eingeschlossensein, so notierte sie für die Nachwelt, war die Hölle, «egal ob man sie vom Hörensagen kannte oder von einem Gemälde!».
Die Möglichkeit zur Rache gegenüber auch nur einem Deutschen verlieh ihr die Kraft, den Überlebenswillen nicht aufzugeben. Sie wurde, wie viele der Protagonistinnen, von den Deutschen schwer gefoltert, wurde zur Zeugin unzähliger sadistischer Misshandlungen, die sie schreibend dokumentierte.
Nach der Befreiung schaffte auch sie es nach Palästina. Teile ihres Tagebuchs wurden publiziert, jedoch nur in einer zensierten Version. Dies erlebte sie als Verrat. Seelisch vermochte sie sich von den Traumata nicht mehr zu erholen. 1958, am 15. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto, erhängte sich Chajka Klinger, «nicht weit entfernt von dem Kibbuzkindergarten, in dem ihre drei Söhne spielten.» Ihr Tagebuch erschien 58 Jahre nach ihrem Tod auf Hebräisch.
Der liberale Humanismus, an den sie glaubten, lag in Trümmern.
Bildung war innerhalb der jüdischen Widerstandsgruppen von zentraler Bedeutung. Sie bauten eigene Büchereien auf, kultivierten das Jiddische, gaben Untergrundzeitungen heraus. Gemeinsam war diesen jungen, todesmutigen Frauen, dass sie an einen liberalen Humanismus glaubten, «der nun in Trümmern lag». Ihr Schreiben war ein Versuch, Zeugnis über die Verbrechen abzulegen – aber auch, die Kontrolle über das eigene Leben zu bewahren.
Mut und Selbstsicherheit
Chasia Bielicka und Chaika Grossmann wirkten als Kurierinnen der «Jungen Wächter». Sie gehörten zu einem Ring antifaschistischer Agenten. Chaika war eine der Anführerinnen des Aufstandes in Bialystok. Sie überlebte wie durch ein Wunder. Chasias Selbstsicherheit war ihr Markenzeichen. Sie lebte mit falschen Papieren als vorgebliche Polin, beschwerte sich bei der Gestapo, wenn sie zu lange auf ihre gefälschten Papiere warten musste. Gemeinsam organisierten sie Waffen und brachten diese unter Einsatz ihres Lebens in die Ghettos.
Wenn sie schon sterben mussten, so wollten sie möglichst viele Deutsche töten. Ihr Aufstand war ein Fanal des jüdischen Mutes. Sie mussten davon ausgehen, die letzten noch lebenden Juden zu sein. Chasia überlebte und baute in Lodz ein Waisenhaus für jüdische Kinder auf. 1947 gelangte sie auf Irrwegen nach Israel. Über ihre Jahre der Verfolgung vermochte sie, die nachts nie Schlaf fand, erst Jahrzehnte später ihren Enkeln zu erzählen. 2003, da war sie 82, erschienen ihre Erinnerungen auf Hebräisch.
Grossmann überlebte und organisierte die illegale Einwanderung überlebender Juden nach Palästina, wohin sie 1948 auch selbst ging. In Israel wurde sie ab 1969 als Kibbuznik eine angesehene Knesset-Abgeordnete. Sie empfing die Journalistin Ingrid Strobl, die 1993 ihre Erinnerungen über den jüdischen Widerstand als Buch auf Deutsch veröffentlichte.
Eine Sonderstellung nimmt die 1919 in Polen geborene Fotografin Faye Schulman ein: Nach einem Massenmord der Wehrmacht im Ghetto von Lenin, dem auch ein Grossteil ihrer Familie zum Opfer fiel, musste sie für die Nazis Fotos der Ermordeten machen. Faye wollte zuerst Selbstmord begehen.
Sie entschied sich jedoch für die fotografische Dokumentation der organisierten Verbrechen und machte heimlich Kopien der Fotos. Sie floh, schloss sich einer Partisanengruppe in den Wäldern an und «bestand darauf, an Kampfhandlungen teilzunehmen, um so Rache zu nehmen». Die Befreiung erlebte sie als den «Tiefpunkt meines Lebens. Nie im Leben war ich so einsam, so traurig.» 1948 ging sie nach Kanada. Ihre Erinnerungen an die Verbrechen «Die Schreie meines Volkes in mir» erschienen 1998 auch auf Deutsch.
Judy Batalion: Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen, Piper, München 2021, 622 S.