Heitere Sommerspaziergänge in Zeiten von Corona
Auf der Fassade des Zürcher Kunsthauses, halb versteckt hinter Auguste Rodins „Höllentor“, tanzte im Frühling letzten Jahres für kurze Zeit ein Skelett, mit schwarzer Farbe auf die Mauer gesprüht. Mit lässiger Geste grüsste es die besonnten Tage jenseits der Hölle. Doch war dem Knochenmann – oder der Knochenfrau? – ein rascher zweiter Tod beschieden. Man kratzte die Gebeine von der Mauer und erstattete gegen den Künstler Harald Naegeli Strafanzeige wegen „Sachbeschädigung“. Heute erinnern nur noch traurige Farbreste an den letzten Tanz seines Geschöpfs.
Im Pandemiesommer 2020 war genug Zeit für Spaziergänge zu Naegelis Street Art. Sie führten mich zu seinem „laufenden“ Wunderfisch nahe der Eglise réformée française an der Promenadengasse, zur „Undine“ auf der Fassade des Deutschen Seminars oder zum „Blitzbaum“ – einer weniger bekannten, beiläufig auf den Beton gehauchten Abstraktion neben den Stufen, die hinter dem Gebäude Zürichbergstrasse 63 ins Töbeli hinunterführen. Und natürlich kam es oft zu Begegnungen mit Brüdern und Schwestern des Kunsthaus-Skeletts, die sich noch immer auf Zürichs Mauern herumtreiben: neben der öffentlichen Toilette am Römerhof, an der Rämistrasse, im Lydia-Welti-Escher-Hof. Unbehelligt von Virenwolken, jenseits allen Galerie- und Museumsbetriebs konnte man vor diesen und vielen anderen der seltsam entrückten, mal mysteriösen, mal ironischen Produkte von Naegelis Spraydose verharren und mit den Augen ihren Linien folgen.
Man sollte das freilich bald tun. Einige der schönsten Skelette Naegelis sind schon wieder verschwunden. Eines zierte bis zum August die Wand der Neuapostolischen Kirche in Zürich-Hottingen. Es wurde inzwischen ebenso getilgt wie ältere Werke des Meisters, die noch im Spätsommer zu sehen gewesen waren, etwa der „Geistesblitz“ auf einer Fassade des Instituts für Erziehungswissenschaft an der Steinwiesstrasse. Ein paar Schritte weiter hat dafür ein Sensenmann überlebt. Mit der Linken reckt er ein Verbotsschild hoch. Man darf es als Aufforderung verstehen: „Sterben verboten!“
Ein wirklicher Kenner von Naegelis Kunst war ich allerdings nie, allein ein passionierter Spaziergänger und stiller Bewunderer. Ich hatte in meinem Beruf als Historiker gewöhnlich mit längst skelettierten Meistern der Renaissance zu tun, etwa mit Piero della Francesca und Leonardo da Vinci oder Bildhauern wie Pietro Lombardo, Antonio Rizzo oder Giovanni Buora. Sie hinterliessen ausser ihrer Kunst ein paar dürre Quellennotizen und den Nachgeborenen Rätsel und Mythologien. Der Job des Historikers ist, Quellen zu studieren und herauszufinden, welche Botschaften die alten Meister vermitteln wollten.
Rodin, Baudelaire, Naegeli
Das Gebein hinter dem Höllentor hatte sich, wie mir schien, am richtigen Ort eingefunden. Die bronzene Pforte ins Inferno war schon durchschritten. Dahinter war – mit Dante – keine Hoffnung mehr, nur noch ewiges Leiden und Tod. Naegelis Skelett war Zaungast bei einem Gipfeltreffen europäischen Geistes. Am Drehbuch für Rodins Höllentor hatten Dante und Baudelaire mitgeschrieben; seine düstere Bronze wurde darüber zum Monument einer abgründigen Moderne, die keinen Himmel mehr über sich weiss.
Dass Naegeli Baudelaire schätzte, hatte ich irgendwo gelesen. War es nicht naheliegend, in seinem Werk Inspirationen zum beinernen Reigen auf Zürichs Mauern zu suchen? In den „Blumen des Bösen“ klappert Gebein „wie einer Windfahn’ Schrei’n“, Schädel mit „Augen aus Dunkel und Leere“ zittern auf gebrechlichen Wirbeln, eine nasenlose Tänzerin, „mit dem Zauber eines wie vom Wahnsinn aufgeputzten Nichts“, zieht den Voyeur in ihren Bann. Mit „mächtiger Grimasse“ drängt sich Baudelaires tanzende Leiche ins Leben …
Naegelis Figuren tun dasselbe. Sie scheinen den in Geschäften Vorübereilenden, Flaneuren und Verliebten, armen Teufeln und reichen Geldleuten, Alten wie Jungen zuzurufen: Auch ich, der Tod, bin in Zürich. Oder auch, was Maler schon vor Jahrhunderten zu Bildern von Gerippen schrieben: „Ihr seid, was ich war, und werdet sein, was ich bin.“ Baudelaire nimmt den Totentanz als barocke Erinnerung an das Ende der Tage. Die vorletzte Strophe seiner „Danse macabre“ gibt eine apokalyptische Vision:
„Am kalten Seinestrand, am Glutgestad des Ganges
Spreizt tanzend sich die Schar der Menschen und sieht nicht,
Dass klaffend durchs Gewölb gleichwie ein dunkles, banges
Sturmwetter, dräuend des Gerichts Posaune bricht.“
Ob man nun, angesichts der Naegelischen Skelette – die in den Türmen des Grossmünsters zeitweilig sogar eine legale Bleibe fanden – nicht auch an die „Herde der Sterblichen“ denken darf, die sich an den Ufern der Limmat herumtreibt?
Besuch bei einem Phantom
Ich war mir nicht ganz sicher, ob sich Naegelis Skelette diesen ausschweifenden Deutungen fügten. Allerdings weilt der Meister, inzwischen Träger des Zürcher Kunstpreises, im Gegensatz zu meinen Renaissance- Künstlern unter den Lebenden. So fasste ich mir ein Herz und suchte Kontakt mit einem Mann, der mir in meiner Münchner Studentenzeit als flüchtiges Gespenst erschienen war: als ein nächtlings umgehender Geist, der schlafenden Spiessern zeigte, was Kunst vermag. Das Phantom antwortete zu meiner Überraschung und Freude. Der Mail – unterzeichnet hatte sie Naegelis zweites Ich, „Harry Wolke“, – war ein Foto beigefügt, das sieben Kinder zeigte, die samt einem Pandabären aus Stoff mit einem seiner Skelette, dem weissen Knochenmann unter einer Brücke an der Rämistrasse, fröhlich tanzten.
Ich sollte rasch erfahren, dass damit eine ganz andere Interpretation der Skelette, als die, die sich der historischen Methode erschlossen, angedeutet war. Es kam zu einer Begegnung in Naegelis Wohnung und zu einem langen Gespräch, das nicht nur um Skelette und Kunst in Zeiten von Corona kreiste. Es ging um seine Liebe zur Natur und zu Tieren, um den Kollegen Leonardo da Vinci, um den zeitgenössischen Kunstbetrieb. An Geld habe er bei seiner Arbeit als Künstler nie gedacht. Und auch seine Graffiti seien natürlich ohne ökonomische Absichten entstanden. Und die Skelette?
Gewiss, der grosse Totentanz auf Zürichs Mauern wurde von einer düsteren Novelle des dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen (1847–1885), „Die Pest in Bergamo“, inspiriert, wie Nägeli erläutert. Der Text liest sich wie ein Kommentar zur Corona-Pandemie, die in Bergamo inzwischen einen symbolischen Ort hat. Doch seien seine Skelette, so Nägeli, keineswegs als Mahnung gedacht, ans Ende zu denken. „Es geht mir nicht um den Tod, alles in mir heftet sich ans Leben!“. So habe er auch keine Angst vor dem Ende und auch nicht davor, was danach kommen mag. Seine Skelette seien fröhlich und aufgeräumt, sie tanzten und zeigten unglaublich heitere Gesten. Sei nicht der Tod in anderen Kulturen ein Anlass, zu feiern – so in Mexiko, wo der „Tag der Toten“ Anfang November als ausgelassenes Fest mit Musik, Tanz und gutem Essen begangen werde? Alle, Kinder wie Erwachsene, freuten sich am Día de los Muertos über das Wiedersehen mit ihren verstorbenen Angehörigen.
„Meine Skelette sind nicht nur heiter“, sagt Naegeli, „sie sind auch schön.“ Das gilt ja auch für Rodins „Höllentor“: Hier zeigt sich das Schöne nicht als des Schrecklichen Anfang, sondern als Ende der menschlichen Komödie. Der muntere Knochenmann dahinter entstand, wie der Künstler erzählt, am Ostermontag 2020, also nach dem Fest, das an die Auferstehung der Toten erinnert.
Auch Baudelaires Dichtung formt ja Ekelhaftes, Furchtbares und selbst den Tod zu etwas Schönem. Sie tut das wie alle Kunst, ob nun ein Tizian malt, wie der heilige Laurentius auf feuerglühendem Rost zu Tod gemartert wird oder Beuys ein Stück Fett oder eine Leichenbahre zu Kunstwerken macht. „Baudelaire sagt einmal: ‚Schönheit ist das Unerwartete‘“, meint Naegeli. So kann und soll sie überraschen. Man könnte auch hinzufügen: Eben darin, dass sie nicht Vertrautes wiederholt, sondern, mit Baudelaire, Erstaunen hervorruft, liegt ihre Qualität. So erfreut sie, darf und soll aber auch schockieren. Der „Sprayer von Zürich“ bewirkte letzteren Effekt, indem er seine Figuren in verbotene Zonen plazierte – nicht nur auf den feinkörnigen Bollinger Sandstein der Kunsthausfassade, sondern auch auf das Rudolf Brun-Denkmal und andere öffentliche und private Gemäuer.
Trump und die Linie der Schönheit
Was mich an Naegelis Graffiti von jeher fasziniert hat, ist: Die in Sekunden aufgesprühten Figuren sind – wie alle gute Kunst – absolut originell. Ihr Autor bot, als er Ende der 1970er Jahre mit der Inszenierung seiner subversiven Sprayerei begann, etwas Neues. Seine Handschrift ist unverkennbar. Er zeigt seinem Publikum niemals nur ein paar Striche, Punkte und Rundungen, vielmehr jeweils ganz unverkennbar einen „Naegeli“.
Der Künstler führt mit seinen Spraybildern vor, was „schöne Linien“ sind. Er zeigt sich damit als Seelenverwandter des Malers und Karikaturisten William Hogarth (1697–1764), der mit seiner „Analyse der Schönheit“ eine Kampagne gegen den modischen Geschmack seiner Zeit vom Zaun brach. Er konfrontierte ihn mit einer schlichten, sanft geschwungenen Linie, die er „Line of Beauty“ nannte. Hogarth zeigt sie oft, so auch auf einem Selbstporträt von 1745, das ihn zusammen mit seinem Mops „Trump“ zeigt; das kluge Tier wird stets gezeigt, wie es das Mienenspiel des Herrchens imitiert.
Gleich Hogarth, der über anarchischen Humor verfügte, ist auch Naegeli ein Zeitkritiker. Mit seiner Kunst bezieht er Stellung: Seine schönen Linien begehren auf gegen Beton, braunen Rauputz und gegen Bauten, deren Architektur den Charme von Westwall-Bunkern oder Seilbahnstationen atmet. Sie schossen in den letzten Jahrzehnten wie Giftpilze aus Zürichs Boden. Manche Architekten müsste man wegen „Augenbeschädigung“ verklagen, gäbe es diesen Straftatbestand …
„Ich mache nicht Sachbeschädigung, sondern ‚Sachbeschichtigung‘!“, meint Naegeli und lächelt hintergründig. Die Gebeine und andere Gebilde habe er aber nicht aus Wut, sondern aus „Gestaltungsfreudigkeit“, aus „schierer Lust“ geschaffen. Er zitiert Paul Klee: Kunst gebe nicht das Sichtbare wieder, sie mache sichtbar. Im Fall der Graffiti bewirkt Naegeli eine zweifache Epiphanie. Sie zeigen Eleganz und Verzweiflung, nicht nur die Schönheit der Linien, sondern auch die Hässlichkeit von rohem Beton. Es sei die Barbarei der Architektur gewesen, so Naegeli, durch die er sich herausgefordert gesehen habe. Ich frage ihn, ob seine Sprayarbeiten nicht den Skandal, den Zorn der Behörden, den Ärger der Spiesser und die Strafverfolgung bräuchten. Liefern sie nicht Kontexte, die seine Street Art nobilitiert? „Ja, natürlich“, ist die Antwort. „Kunst braucht Widerspruch. Sonst ist sie ein Börsentitel.“
Übrigens hat Naegeli mit Baudelaire gemeinsam, dass beide mit der Justiz in Konflikt gerieten. Der Dichter musste wegen Verstössen gegen die religiöse und öffentliche Moral eine Strafe bezahlen, Naegeli verbrachte 1984 vier Monate im Hochsicherheitstrakt des Winterthurer Gefängnisses. Sachbeschädigung ist offenbar gefährlicher als Verletzung der Moral.
Der andere Naegeli
Der freundliche Herr, der mir in einem Spätbiedermeier-Sofa gegenübersass, hatte allerdings nicht das Geringste von einem Stadtguerillero. Die Vorstellung, dass er noch vor wenigen Monaten im Morgengrauen durch Zürichs Strassen gezogen war, um schlafwandlerisch seine widerständige Kunst zu zelebrieren, fiel schwer. Während des Gesprächs porträtierte er den Interviewer. Es ist seine Gewohnheit, wie mir später eine Bekannte erzählte.
Die Augen haben zu tun, wenn man Herrn Naegeli besucht. Seine Wohnung und das weiträumige Studio ein Geschoss tiefer sind mit zahlreichen Graphiken von seiner Hand geschmückt: stillen, filigranen Arbeiten, die allenfalls auf den zweiten Blick verraten, dass ihr Meister der „Sprayer von Zürich“ ist. Die Zeichnung ist, wie Naegeli betont, für ihn ein eigenständiges Kunstwerk. Das materielle Werk verleiht ihr nur Sichtbarkeit, entscheidend ist der Gedanke. „Höhere Geister“ arbeiteten am meisten, so sagte Leonardo da Vinci einmal, wenn sie nicht arbeiteten – indem sie im Kopf nach Einfällen suchten und die vollkommenen Ideen bildeten, die sie dann mit den Händen zum Ausdruck brächten. Die „Würde der Zeichnung“, die von der Renaissance entdeckt wurde, hat gewiss damit zu tun, dass sie unmittelbarster Niederschlag des „inneren Bildes“ ist – des „disegno interno“, das aller Materialisation von Kunst vorausgeht.
Mir fällt auf, dass auch andere, die durch provozierende, schockierende Kunst berühmt wurden, Zeichnungen höchsten Ranges schufen: Beuys etwa oder Tracey Emin. In Naegelis Regalen stapeln sich Skizzenbücher, die Abertausende Blätter enthalten. Es ist ein gewaltiges Œuvre: Landschaften, Porträts, Tierbilder, Collagen. Manches davon ist „vollendet unvollendet“, wie der Titel einer der eindrucksvollsten Ausstellungen des Kunsthauses lautete. Deren Held war damals, vor zwanzig Jahren, Cézanne.
Eine erlesene Auswahl von Blättern des „anderen Naegeli“ zeigt derzeit das „Musée Visionnaire“ am Predigerplatz. Man muss die Schau „Harald Naegeli – der bekannte Unbekannte“ mehrmals besuchen: Ein erster Teil war „Landschaften und Tieren“ gewidmet, weitere Folgen drehen sich um das Thema „Mensch und Vergänglichkeit“ und eine dritte – von Mitte Juni bis zum 15. August – wird „Urwolken“ zeigen. Bei meinem Besuch in Naegelis Wohnung durfte ich einige Partien dieses Hauptwerks, an dem der Künstler seit 1990 zeichnet, sehen. Grossformatige Blätter sind bedeckt von Myriaden winziger Striche und Punkte; sie erzählen von schier endloser meditativer Arbeit. Aus gehöriger Distanz betrachtet, formen sich die Partikel zu grautönigen, dunstigen Gebilden. Es sind Versuche, eine Utopie sichtbar zu machen – und damit, wie Naegeli in einem Interview sagte, „das Gegenteil von all diesen legalisierten und tradierten Möglichkeiten, sich zu manifestieren“. Vor einigen seiner Wolken hat er mit kräftigen Linien Visionen von Golgotha über die Wolken gezeichnet und Blitze, Baumstümpfe oder auch kafkaeske Käfer und Köpfe im Profil. Und wieder tänzeln Skelette und nochmals Skelette.
Ich frage Naegeli zum Schluss, ob er uns Rätsel aufgibt, die nur eine – seine – schlüssige Lösung haben? Nein, meint er. Wir seien frei, seine Kunst zu interpretieren, wie wir wollten. Und so war es wohl auch erlaubt, seine Skelette über Baudelaires „Blumen des Bösen“ tanzen zu lassen und seine eleganten Linien mit den Augen William Hogarths zu sehen. Natürlich kann man auch einfach der Anweisung folgen, die der andere, der „bekannte, unbekannte“ Meister dem Publikum seiner Ausstellung im Musée Visionnaire gibt: „Denk nicht – schau. Schau nicht – sieh. Sieh nicht – zeichne!“
Weitere Informationen:
Derzeit wird ein digitales Archiv – „Auf den Spuren des Sprayers“ aufgebaut, das bei der Erkundung seines Werks in Zürich hilft: www.sprayervonzürich.com
Vor Kurzem erschien: Harald Naegeli, Wolkenpost. Zürich: Diogenes Verlag, 2021.
Im Herbst 2021 wird der Dokumentarfilm „Harald Naegeli – der Sprayer von Zürich (Regie: Nathalie David) Premiere haben, und für Frühjahr 2022 ist im Kölner Schnütgen-Museum eine Ausstellung über Harald Naegelis Totentanz und seine Urwolken geplant.