Es war eine Staatsschule, welche die Bildung der Jugend einheitlichen Lernzielen unterwarf und damit zum geistigen Zusammenhalt des 1871 gegründeten Reichs beitrug. Ihre Lehrer, die Studienräte, genossen gesellschaftliches Ansehen und wurden, im Unterschied zu den Volksschullehrern, angemessen entlohnt. Viele von ihnen trugen durch ihre wissenschaftlichen Leistungen zum hohen internationalen Ansehen deutscher Bildung bei.
Im Gymnasium wurde nicht nur auf die Universität vorbereitet; hier wurde auch die staatstragende Elite herangezogen, und Tugenden wie Vaterlandsliebe, Pflichtbewusstsein, Disziplin und Loyalität wurden eingeübt. Wichtigen Platz im Lehrprogramm nahmen die alten Sprachen Latein und Griechisch ein. In diesen Fächern wurde das antike Geisteserbe gepflegt; zugleich dienten sie einer strengen Selektion.
Aura der Geistesaristokratie
Ursprünglich dem Gedankengut des Liberalismus verpflichtet, verengte sich der Bildungsauftrag des deutschen Gymnasiums immer mehr auf die Vermittlung literarisch-historischen Wissens. Die Ausbildung war insofern unpolitisch, als die Schüler nicht zu mündigen demokratischen Staatsbürgern, sondern zu zuverlässigen Gliedern der wilhelminischen Standesgesellschaft herangebildet wurden. Unpolitisch waren auch die meisten Lehrer, die sich gern mit der Aura einer Geistesaristokratie umgaben, welche über den gesellschaftlichen Realitäten stand.
Das Fehlen einer staatsbürgerlichen Ausbildung sollte sich als erhebliche Belastung für den Demokratisierungsprozess in der Weimarer Republik erweisen. In deutschen Autobiographien und persönlichen Aufzeichnungen ist oft auf diesen Mangel hingewiesen worden. So schreibt etwa der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt: „Was Demokratie ist und wie Demokratie funktioniert, habe ich erst im Kriegsgefangenenlager gelernt, und sogar von der Geschichte der Weimarer Demokratie habe ich erst nach Kriegsende gehört und gelesen.“
Schüler wie "Erbfeinde"
Diesen geschichtlichen Sachverhalt muss man kennen, um die Wirkung zu ermessen, die Heinrich Manns Buch bei seinem Erscheinen ausübte. Hauptgestalt des Romans ist Professor Raat, Gymnasiallehrer für alte Sprachen und Deutsch in einer norddeutschen Stadt, die unschwer als Lübeck zu erkennen ist. Raat hasst die Schüler, und die Schüler hassen ihn und rufen ihm den Spottnamen Unrat nach. Heinrich Mann zeichnet ein vernichtendes Bild dieser Persönlichkeit. „Unrats Kinn“, lesen wir etwa, „in dessen oberem Rand mehrere gelbe Gräten staken, rollte, während er sprach, zwischen den hölzernen Mundfalten wie auf Geleisen, und sein Speichel spritzte bis in die vorderste Bank.“
Gegen sechzig Jahre alt und verwitwet, führt Unrat ein Leben am Rande der Gesellschaft, und seine autoritäre Art kontrastiert merkwürdig zu seiner ängstlichen Lebensuntüchtigkeit. Als Lehrer stellt er den Typus des Tyrannen, des gefürchteten Paukers und Pedanten dar. Mit besonderem Grimm verfolgt Unrat eine Gruppe von drei besonders renitenten Schülern, deren beruflichen Aufstieg er, wie er immer wieder versichert, verhindern will. „Unrat“, schreibt Heinrich Mann, „der sich von den Schülern angefeindet, betrogen und gehasst wusste, behandelte sie seinerseits als Erbfeinde, von denen man nicht genug ‚hineinlegen’ und vom ‚Ziel der Klasse’ zurückhalten konnte.“
Um den drei besonders verhassten Schülern zu schaden, spürt Unrat ihrem Privatleben nach. Dabei gelangt er in die zwielichtige Spelunke „Zum Blauen Engel“, wo die „Barfusstänzerin“ und „Chanteuse“ Rosa Fröhlich ein leicht zu befriedigendes Publikum unterhält. Diese weibliche Hauptfigur wirkt in Sprache und Benehmen weit glaubwürdiger als Unrat.
Der Bannkreis der Chanteuse
Heinrich Mann, der zeitlebens ein Faible für frivole Sentimentalitäten und leichte Mädchen hatte, schildert einen Auftritt der Tingeltangelsängerin so: „Das Klavier hatte angefangen, Tränen zu vergiessen. Im Diskant war es feucht vom Schluchzen, im Bass schnupfte es sich aus. Unrat hörte die Künstlerin Fröhlich anstimmen: ‚Der Mond ist rund, und alle Sterne scheinen, / Und wenn du lauschest an dem Silbersee / Steht deine Liebe, und du hörst sie weinen...’ Die Töne tauchten, gleich matten Perlen auf schwarzer Flut, aus der schwermütigen Seele der Künstlerin.“
Es trifft ein, was zu erwarten war und befürchtet werden musste. Unrat, der eigentlich den sittlichen Verfehlungen seiner Schüler nachspüren wollte, gerät selbst in den Bannkreis der fatalen Chanteuse Fröhlich und verfällt dieser mehr und mehr. Er erscheint allabendlich in ihrer Garderobe, ist ihr beim Anziehen und Schminken behilflich, tritt als ihr Beschützer auf. Je mehr sein Lebenswandel zum Stadtgespräch wird und Anstoss erregt, desto mehr wendet sich Unrat gegen jene bürgerliche Gesellschaft, deren politische und moralische Grundsätze er als Lehrer verteidigt hat.
Seine frühere Autoritätsgläubigkeit schlägt in entfesselten Anarchismus um. Er wird aus dem Schuldienst entlassen und heiratet die Rosa Fröhlich, die auch noch ein uneheliches Kind in die Ehe bringt. Man vergnügt sich im Seebad, und Unrats Vermögen schwindet dahin. In einem Haus vor der Stadt, wo der Professor sich mit Rosa Fröhlich niederlässt, treffen sich Halbwelt und Prominenz zu verbotenem Glückspiel und wüsten Ausschweifungen. Am Schluss des Romans wird Unrat, der seine Frau fast erwürgt und einen seiner Schüler bestohlen hat, verhaftet und zusammen mit Rosa Fröhlich im Polizeiwagen abgeführt.
Das Urteil des Bruders
Professor Unrat, von seinem Autor in wenigen Wochen niedergeschrieben, ist kein grosser Roman. Seine Figuren, die in ihrem karikierenden Expressionismus an die Zeichnungen von George Grosz erinnern, sind Marionetten, nicht Menschen aus Fleisch und Blut. Man hat zwar in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als die Reformpädagogen die Klassiker verdammten und Trivialliteratur zum Schulstoff erklärten, versucht, Heinrich Mann über seinen Bruder Thomas zu stellen.
Aber richtig bleibt eben doch, dass der Verfasser des Professor Unrat bei weitem nicht an den Verfasser der Buddenbrooks herankommt – was Thomas Mann übrigens klar erkannte, wenn er über das Buch seines Bruders urteilte: „Das alles ist das amüsanteste und leichtfertigste Zeug, das seit langem in Deutschland geschrieben wurde.“ Ein scharfes, aber doch zutreffendes Urteil. Heinrich Manns wirklich bedeutender Roman sollte, ein Jahrzehnt später, der Untertan werden. Hier gelang es dem Autor weit besser, die sozialen Ungerechtigkeiten und moralischen Verlogenheiten der wilhelminischen Gesellschaft blosszustellen.
Gestürzte Autorität
Dem Professor Unrat war ein merkwürdiges Schicksal beschieden. Im Jahre 1930 wurde der Roman vom amerikanischen Regisseur Josef von Sternberg unter dem Titel Der blaue Engel verfilmt. Der Professor wurde vom Charakterdarsteller Emil Jannings gespielt; die Rolle der Rosa Fröhlich übernahm die noch kaum bekannte Marlene Dietrich. In Sternbergs Inszenierung wurde Unrat zur skurrilen Nebenfigur und die Chanteuse ging als dämonische Verführerin in die Filmgeschichte ein. Der Film war weltweit erfolgreich. Heinrich Mann war mit der Inszenierung jedoch nicht einverstanden. „Professor Unrat war die gestürzte Autorität“, schrieb er. „Jetzt ist er das bedauernswerte Opfer des Vamps.“
Schulerinnerungen wurden im letzten Jahrhundert häufig zum Gegenstand literarischer Darstellung. Fast gleichzeitig mit dem Professor Unrat erschienen zwei weitere Werke ähnlicher Art: Hermann Hesses Unterm Rad und Robert Musils Verwirrungen des Zöglings Törless. Beide Romane spielen in Internatsschulen auf dem Land und sind von den Jugenderfahrungen ihrer Autoren geprägt. In beiden Romanen stehen nicht die Lehrer, sondern die Schüler im Vordergrund.
Den psychischen Problemen der heranwachsenden Menschen steht die Lehrerschaft abweisend oder indifferent gegenüber. Oder, in Hesses Worten: „Vor nichts graut Lehrern so sehr wie vor den seltsamen Erscheinungen, die am Wesen früh entwickelter Knaben in dem ohnehin gefährlichen Alter der beginnenden Jünglingsgärung hervortreten.“ Und weiter: „Ein Schulmeister hat lieber einige Esel als ein Genie in seiner Klasse, und genau betrachtet hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister heranzubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und Biedermänner.“
Leistungsethos und weltfremde Originale
Natürlich gibt es auch literarische Werke, welche die Schule in erfreulicherem Licht erscheinen lassen. Am bekanntesten dürfte im deutschen Sprachraum Erich Kästners 1933 erschienener Jugendroman Das fliegende Klassenzimmer sein. Hier wird auf heitere und witzige Weise von einem Verhältnis zwischen Klasse und Klassenlehrer berichtet, das von gegenseitigem Vertrauen, ja von Zuneigung geprägt ist. Auch dieser Roman wurde verfilmt. Der Film von Kurt Hoffmann mit Theo Lingen und Uschi Glas wurde ebenfalls zum grossen Erfolg. Die auf Autorität und Leistung getrimmte Schule des Professors Unrat scheint im deutschen Bildungswesen freilich lange nachgewirkt zu haben.
So schreibt noch der Historiker Joachim Fest, der das Gymnasium zur Hitler-Zeit besuchte: „Es war, im ganzen, noch die alte bürgerliche Schule mit ihren tyrannischen, pädagogisch ergriffenen oder weltfremden Originalen, ihrem Leistungsethos, ihren hohen Ansprüchen.“
Es dürfte schwierig sein, aus den zahlreichen literarischen Zeugnissen über die Gymnasialzeit ein zuverlässiges Urteil über die Entwicklung des Bildungswesens herauszufiltern. Schriftsteller waren oft auch schwierige Schüler, und ihr Urteil lässt sich nicht verallgemeinern. Figuren wie Professor Unrat aber gehören heute mit Sicherheit der Vergangenheit an. Nicht so der Leistungsdruck und autoritäre Lehrpersonen.