Die Morgensonne scheint flach über das Wasser auf die dunkelblauen Jeans des Kapitäns. Dieser steht, sein Oberkörper im Schatten, auf einem Schemel hinter dem kunstvoll gedrechselten Steuerrad der „Heimat“. Gleich wird er den Motor starten, mit eingeübten Handgriffen die zwei Leinen lösen, an denen das 88-jährige Schiff am Steg festgemacht ist, und danach in einer Rechtskurve, knapp vorbei am hohen Heck der „Stadt Uster“, Flagschiff der Greifenseeflotte, Kurs auf Uster nehmen.
Die wenigen Passagiere – neben meiner Frau und mir zwei Joggerinnen, eine Frau mit Kinderwagen und ein Mann, der sich als Routinier outet, als er dem Kapitän in Uster beim Festmachen hilft – geniessen die 4-minütige Überfahrt auf ihre je eigene Art. Die Gespräche verstummen. Man schaut aufs Wasser, auf die Glarner Alpen, welche im Osten wie eine aus Karton ausgeschnittene Kulisse in den Himmel ragen. Die Welt da draussen, diejenige mit dem Virus, dem lärmigen Verkehr und der übergriffigen Hektik, verschwindet für kurze Zeit aus dem Bewusstsein.
Vier Minuten Hinfahrt, vier Minuten Wartezeit in Niederuster, vier Minuten Rückfahrt – nach zwölf Minuten liegt die „Heimat“ wieder am heimatlichen Steg in Maur. Eine Stunde später fährt sie in Maur wieder los, im Winter von Montag bis Freitag zwischen 8 und 18 Uhr neun Mal pro Tag, im Sommer sogar zehn Mal und auch während des Wochenendes. Sie überquert den See nicht als Ausflugsboot, sondern als stolzes Mitglied des Zürcher Verkehrsverbundes (ZVV). Mit dem Halbtaxabo kostet die Überfahrt 3 Franken 10. Für 6 Franken 20 kann man sich während des ganzen Tages hin und her fahren lassen.
Wir steigen in Niederuster aus. Die Joggerinnen traben Richtung Greifensee los, der Schiffs-Routinier besteigt den blauen Bus der Verkehrsbetriebe Zürichsee und Oberland (VZO), der zum Bahnhof Uster fährt. Die gut geölte Maschinerie des ÖV wirkt selbstverständlich und eingespielt. „Ich bin auch ein Schiff“ stand früher einmal auf einigen Zürcher Trams. Ob sich die „Heimat“ manchmal wünscht, auch ein Tram zu sein oder gar die Seilbahn, welche von Adliswil zur Felsenegg hinaufschwebt?
Wir nehmen den Wanderweg Richtung Riedikon. Draussen auf dem See fährt die „Heimat“ in einem grossen Bogen nach Maur zurück. Der Weg führt hinter dem Strandbad Uster vorbei und biegt dann rechts zum Ufer ab. Hier gibt es lauschig versteckte Plätzchen direkt am Wasser, welche zum Verweilen einladen. Noch kommen uns vereinzelte Spaziergänger entgegen, die meisten mit Hunden, aber mit grösser werdender Distanz zur Stadt Uster wird es einsamer. Etwas später führt der See weg vom Ufer, am Kieswerk Egli AG vorbei, wo Baggerführer und Lastwagenchauffeure meine Kinderträume ausleben, und zwischen den Häusern von Riedikon zur lärmigen Hauptstrasse Uster-Mönchaltorf. Sie erinnert uns daran, wie sehr das obere Glatttal Teil der Agglomeration geworden ist und heute zum „Millionen-Zürich“ gehört.
Das war noch anders, als vor bald 50 Jahren das Gelände von Andi Zollinger, letzter Berufsfischer am Greifensee, zwei jungen Seenforschern als Basis für ein Forschungsprojekt diente, mit dem sie mittels einer erstmals in der Schweiz angewendeten Methode die Vorgänge am Seegrund des damals arg malträtierten Sees untersuchten.
Steve Emerson, Postdoktorand von der New Yorker Columbia Universität, dem sein Professor einen Forschungsaufenthalt am Wasserforschungsinstitut Eawag in Dübendorf empfohlen hatte, und ich, der eben aus San Diego Zurückgekehrte, der dort vom theoretischen Physiker zum physikalischen Ozeanografen mutiert war, sassen einmal pro Monat während Stunden in einem kleinen Aluminium-Boot in der Mitte des Sees und sogen Wasser aus der Tiefe in vorher evakuierte 20-Liter-Flaschen. Mit 12 oder mehr Mammut-Proben lag das kleine Boot jeweils bedrohlich tief im Wasser, wenn wir abends bei Andi Zollinger am Steg festmachten und danach unsere „Beute“ in den VW-Bus schleppten.
Im Labor in Dübendorf massen wir in den Wasserproben das radioaktive Edelgas Radon-222, ein Zerfallsprodukt des im Boden und in den Sedimenten natürlich vorkommenden Uran-238. Aus der vertikalen Verteilung des Radons konnten wir die Intensität des vertikalen Wasseraustausches in den tieferen Wasserschichten des Sees berechnen. Dies wiederum erlaubte es, den Prozess der Eutrophierung (Überdüngung), an welcher der Greifensee und viele andere Schweizer Seen damals litten, besser zu verstehen und Massnahmen dagegen zu entwickeln.
Tempi passati. Dem Pensionär, der heute mit seiner Frau um den Greifensee wandert, geht es nicht mehr um die Eutrophierung – der See ist heute ohnehin in einem weit besseren Zustand als damals –, sondern um die Beweglichkeit seiner Gelenke – und vielleicht auch noch um ein bisschen Nostalgie. Bald führt der Wanderweg rechts von der Strasse weg auf einem langen Holzsteg ins Ried. Und weil man nur allzu leicht ins Lamentieren darüber gerät, früher sei alles besser gewesen, freuen uns die Störche ganz besonders, welche auf alten Pappelstämmen nisten oder im Ried nach Nahrung suchen. Als Kinder kannten wir diese vornehmen Vögel nur aus Bilderbüchern oder allenfalls als Lieferanten von Babys. Die nahe Naturstation Silberweide hat vor vielen Jahren ihre Ansiedlung am Greifensee erleichtert.
Auf den Abstecher zum Aaspitz, der Mündung der Mönchaltorfer Aa in den Greifensee, verzichten wir und wandern weiter zum kleinen Strandbad in der südlichsten Ecke des Sees, das zur Gemeinde Egg gehört. Mit Schmunzeln erinnern wir uns an das ungläubige Staunen unserer englischen Freunde, mit denen wir vor vielen Jahren auf der Strasse von Mönchaltorf nach Maur unterwegs waren. Was das zu bedeuten habe, fragten sie uns, als sie auf einem Wegweiser „Bad Egg“ entziffern. Das kleine Restaurant beim „Faulen Ei“ am südlichsten Zipfel des Greifensees ist heute wegen Corona geschlossen. Wir setzen uns für einen Augenblick in der leeren Gartenwirtschaft an einen Tisch und essen die mitgebrachten Äpfel. Später wandern wir, immer den markanten Kirchturm von Maur vor Augen, am westlichen Ufer entlang zurück zur Schifflände von Maur. Zwei Stunden dauerte die südliche Umrundung des Sees.
Am Steg wartet die „Heimat“ auf den nächsten Einsatz. Sie soll elektrifiziert werden, hatte ich gelesen. Zusammen mit dem restaurierten Dampfschiff Greif aus dem Jahre 1895, das sich im Besitz einer eigens gegründeten Stiftung befindet, werden dann die Schiffe auf dem Greifensee ein über 100-jähriges, dynamisches Kapitel Technikgeschichte repräsentieren: Vom Dampfschiff zum Elektroschiff.
PS: Eben lese ich auf der Webseite der Schifffahrtsgenossenschaft Greifensee (SGG) folgende Mitteilung: Aufgrund des Hochwassers ist der ZVV-Kurs zwischen Maur und Uster ab Mittwoch, 14. Juli 2021 bis auf Weiteres eingestellt. Danke für Ihr Verständnis.