„Im Hinblick auf die Arglist der Zeit“ haben die Leute der Talschaften Uri, Schwyz und Unterwalden einander damals Beistand und Rat zugesagt. Der Bundesbrief von 1291 gilt in der populären Geschichtsschreibung quasi als Gründungsurkunde der Eidgenossen. Und heute, viele Jahrhunderte später? Zu denken gibt weniger die Arglist der Zeit, als jene einzelner Menschen. Umso mehr sollten wir uns in der Schweiz, in Europa, im Global Village gegenseitig mit Rat und Tat unter die Arme greifen. Miteinander, nicht gegen einander.
Friedensordnungen gegen Streit
„Das öffentliche Ansehen und Wohl erfordert, dass Friedensordnungen dauernde Geltung gegeben wird.“ So lesen wir weiter in der deutschen Übersetzung des lateinisch abgefassten Bundesbriefs. Heute würden wir vielleicht formulieren: Zur langfristigen Sicherung des Wohlstands und guten Rufs der Schweiz sind bei den seit Jahren anstehenden Reformprojekten zur Wahrung des sozialen Friedens die Gesamtinteressen der Bevölkerung über parteipolitische Sonderansprüche zu stellen.
„Entsteht Streit unter Eidgenossen, so sollen die Einsichtigen unter ihnen vermitteln.“ Dieser lapidare Aufruf hat seine Gültigkeit über die Jahrhunderte bewahrt. Allerdings darf gefragt werden, ob heute die unspektakulären, leisen Bemühungen der Einsichtigen nicht Gefahr laufen, im medialen Lärm der konfliktanheizenden politischen Selbstdarsteller unterzugehen. Und wer definiert, was als nachsichtige, tolerante und vernünftige Lösung zu gelten hätte angesichts jener Polterer, die ihre Sicht der Dinge als einzig wahre Wirklichkeit missverstehen?
Bratwurst, Bier und Freude
Bevor wir am 1. August die Bratwürste auf den Grill legen und mit dem ersten kühlen Bier anstossen, verbleiben noch etwas Zeit. Warum geniessen wir überhaupt den Nationalfeiertag? Nein, nicht nur weil wir uns über den arbeitsfreien Tag freuen. Wir gedenken des Bundesbriefes von 1291 – schon vergessen? Der Symbolcharakter dieses sorgfältig gehüteten Pergamentdokuments ist grossartig, weil lokale Führungseliten darin ihre Landsleute (damals der Talschaften) verpflichteten, sich gegenseitig zu achten, einander beizustehen und das geltende Recht zu wahren, böswillige Angriffe und Unrecht abzuwehren.
Offensichtliches Unrecht gibt es in der Schweiz heute wohl weniger als damals. Gegen Angriffe auf die Schweiz haben wir ja die beste Armee der Welt; die verbalen Attacken aus dem Ausland könnten uns (Brat-) Wurst sein, würden sie nicht durch Auns-Wächter zu veritablen Drohkulissen aufgebauscht. Einander beizustehen haben wir inzwischen hauptsächlich an unsere Sozialämter und Fürsorgeeinrichtungen delegiert. Lediglich mit dem geltenden Recht steht es prekär: Neuerdings soll die Meinung des Volkes darüber stehen. Ein Schritt zurück ins Mittelalter. Sich gegenseitig zu achten – da sind wir als Landsleute eigentlich zuverlässig. Wir achten unsere Nachbarn, dort, wo wir sie überhaupt noch kennen. Im grossen Ganzen: Wir dürften zufrieden, ja stolz sein auf über 700 Jahre Schweizer Geschichte.
Die Schweiz, Insel im EU-Meer
Bliebe da nicht der Stachel EU. Wir gehören nicht dazu, wir wollen das auch gar nicht. Aber wissen wir tatsächlich alles besser? Wäre unsere Erfolgsstory überhaupt exportierbar oder ist sie nicht vielmehr das Produkt glücklicher Kleinheit, überschaubarer kommunaler Strukturen, ehrlicher und nicht korrupter Politiker, tüchtiger Arbeitnehmer und verlässlicher KMU-Arbeitgeber? Einige meinen sogar, es ginge ganz gut auch ohne Gewerkschaften, Economiesuisse oder Arbeitgeberverband.
In den 1. Augustreden werden diese Vorzüge zweifellos beschwört, gelobt, gefeiert werden. Der Blick nach innen darf für einmal pathetisch verklärt sein. Kritische Töne sind an diesem Feiertag eher Randbemerkungen. Doch zwischen Lob und Tadel gälte es einen helvetischen Vorsatz zu fassen: Unser Verhältnis zur Europäischen Union sollte nicht als permanenter Kampf gegen Feinde (welche Feinde?) aufgefasst werden, sondern von ehrlichem Kooperationswille bestimmt sein. Mit Blick über die Landesgrenze hinaus folgern wir: Seit Jahrzehnten profitieren wir von der EU und wir könnten ganz gut Freunde sein – ohne gegenseitig Ohrfeigen auszuteilen, ohne Selbstgefälligkeit, ohne Unterwürfigkeit.
Reformbedarf
Hüben und drüben gibt es Reformbedarf. Meistens sehen die Verantwortlichen jenen anderswo glasklar, wogegen dieser vor der eigenen Haustüre ausgeblendet wird. „Nicht verhandelbar“, eine gefährliche Leerformel, ist als guideline in den allermeisten Fällen im Laufe der Zeit obsolet geworden, hat sich selbst abgeschafft. Das gilt zum Beispiel für die „neutrale“ Schweiz ebenso wie für die Personenfreizügigkeit der EU.
(Damit wir uns recht verstehen: Unsere selbstgewählte, bewaffnete, dauernde und aktive Neutralität muss sich dem jeweiligen aussen- und innenpolitischen Umfeld anpassen können. Sie erlaubt internationale Kooperationen, friedensfördernde Missionen und humanitäre Einsätze im Ausland und lässt Wirtschaftssanktionen zu. Sie ist somit nicht absolut, sondern „angepasst“. Im aktuellsten „Fall Putin“ heisst neutral weder feige schweigen, noch bauernschlau abwarten). Strukturkonservative Kräfte, die sich gegen den Lauf der Zeit und sich wandelndes Verständnis stemmen, säen mit ihrem Widerstand Zwist im eigenen Land und innerhalb der europäischen Nationen.
Vertrauen statt Angst
Die direkte Demokratie ist für unser Land Gold wert. (Ehrlicherweise muss gleichzeitig festgestellt werden, dass dieses Politsystem für Nationen mit Dutzenden von Millionen Einwohnern nicht praktizierbar ist). Dieses Gold, zusammen mit dem Silber des schweizerischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts, formte die Basis unseres heutigen Wohlstands. Vorbildern in Politik und Wirtschaft gelang es, über Jahrzehnte hinweg das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. In Zeiten der Globalisierung und des Einflusses grenzenloser Grosskonzerne laufen wir heute Gefahr, diesen Zusammenhang aus den Augen und das einstige Vertrauen zu verlieren. Das Resultat: Aus lauter Angst vor der unbekannten Zukunft lassen wir uns von den omnipräsenten Lockrufen der modernen „Rattenfänger von Hameln“ zu Entscheiden verleiten, die sowohl den Wohlstand, als auch die Zukunft im Land gefährden.
Die Sage des Rattenfängers von Hameln
Wer kennt sie nicht, diese Geschichte der Gebrüder Grimm? 1284, (also kurz vor der Begründung der Eidgenossenschaft und deshalb geeignet, in die 1. Augustansprache eingebaut zu werden), liess sich in Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er versprach der staunenden Einwohnerschaft, sie von der Rattenplage zu befreien – gegen ein gewisses Entgelt natürlich. (Die Fortsetzung der Sage kann auf Wikipedia nachgelesen werden).
Vor allem Multimillionäre treten heutzutage weltweit – eher unermüdlich als wunderlich – in den Medien auf und versprechen ihrem verängstigten Publikum, sie von Sorgen und Feinden zu befreien – sofern sie an der Urne richtig – d.h. entsprechend der persönlichen Sicht des Multimillionärs – stimmten und seine politischen Befreiungsschläge befürworteten.
Eidgenössisches Schwarzpeterspiel
Die eingangs erwähne Arglist der Zeit ist, mehr als 700 Jahre später, weniger in fremdbestimmten äusseren, als in selbstkonstruierten internen Zwistigkeiten zu orten. Parteipolitische Quereleien und persönlich motivierte Machtkämpfe blockieren seit Jahrzehnten die grossen, längst überfälligen Reformprojekte der Schweiz. Damals sollten die Einsichtigen vermitteln, heute diktieren eher Uneinsichtige die politische Agenda in unserem Land. Das Schweizerschiff schlingert bedrohlich auf dem Ozean der Behaglichkeit. Zu viele selbsternannte Kapitäne streiten sich um die Befehlsgewalt, weil die Mannschaft (Parlament) gar keinen souveränen Kapitän will. Richtungslos in die Zukunft zu fahren – keine ungetrübte Aussicht!
Der versöhnliche Ausklang
Nach Bratwurst, Bier, Festansprache und 1. Augustfeuer steigen die Raketen in den Nachthimmel. Das Feuerwerk symbolisiert Aufstieg, Knall und Niedergang: von politischen Ideen, von Idealen und Illusionen, von Reformprojekten und Rattenfängern. Auf dem Heimweg – Ländlermusik in den Ohren - freuen wir uns, in diesem wunderschönen Land leben dürfen.