Noch ist bis zum Dienstagmorgen war nicht klar, ob Selenskis Partei «Diener des Volkes» (Sluha Naroda) allein eine Mehrheit im Kiewer Parlament, der Werchowna Rada, gewonnen hat oder ob sie auf einen Koalitionspartner angewiesen ist. Etliche Beobachter rechnen mit der ersteren Möglichkeit. Die Selenski-Partei hat mit einem Anteil von gut 42 Prozent bei den Listenstimmen (nach denen die proportional verteilten Sitze bestimmt werden) mit riesigem Abstand den ersten Platz gewonnen. Die zweitplatzierte Partei, die prorussische «Oppositionsplattform – Für das Leben», brachte es auf rund 13 Prozent.
Nur noch fünf Parteien im Parlament
Hinzu kommt, dass Selenskis «Diener des Volkes» auch bei jenen 50 Prozent der Mandate, die nach dem Majorz-System direkt dem Sieger in den einzelnen Wahlkreisen zufallen, unerwartet erfolgreich abzuschneiden scheint, sodass ihre Hoffnungen auf eine eigene Parlamentsmehrheit berechtigt ist.
Aber selbst wenn sich diese Hoffnungen nicht bestätigen sollten, dürfte Selenski wenig Mühe haben, die ihm in der politischen Ausrichtung nahestehende Partei «Holos» (Stimme) des Rockstars Swytoslaw Wakartschuk für eine Koalition zu gewinnen. «Holos» erhielt gut sechs Prozent der Listenstimmen.
An dritter und vierter Stelle unter den in das neue ukrainische Parlament gewählten Parteien rangieren die Gruppierungen «Europäische Solidarität» des früheren Präsidenten Poroschenko und «Vaterland» der ehemaligen Ministerpräsidentin Timoschenko mit je rund 8 Prozent Stimmenanteil.
Nur diese fünf Parteien haben die gesetzliche Fünf-Prozent-Hürde übersprungen und werden somit in der Werchowna Rada vertreten sein. Das bedeutet gegenüber dem zuvor herrschenden Parteiengewirr einen ziemlich radikalen Hausputz. Ein Grossreinemachen gegenüber der bisherigen Situation stellt das Wahlergebnis auch insofern dar, als die überwältigende Mehrheit der neuen Abgeordneten erstmals ins Parlament einziehen werden. Selenskis siegreiche «Diener des Volkes» hat keinen einzigen Kandidaten aufgestellt, der zuvor schon einen Parlamentssitz innehatte. Ob diese Massierung von neuen unerfahrenen Gesichtern die Parlamentsarbeit im guten oder schlechten Sinne beeinflusst, wird man erst nach längerer Frist abschätzen können.
Vergleich mit Russland
Das russische Staatsfernsehen hat am Wochenende über die ukrainische Parlamentswahl in mehrstündigen Live-Sendungen berichtet. Das scheint eher überraschend, denn zweifellos dürften sich manche Bürger in Russland so ihre Gedanken gemacht haben über die Offenheit des Wahlprozesses und die Vielfalt der Parteien – und dies mit den Usanzen im eigenen Land verglichen haben.
Sie werden sich auch gefragt haben, weshalb keine der rechtsradikalen Gruppierungen, die sich an der Wahl beteiligten, es auch nur annähernd in die Nähe der Fünf-Prozent-Grenze brachte. Dabei wird dem russischen Publikum von der Staatspropaganda seit Jahren eingehämmert, in der Ukraine tummelten sich starke «faschistische Kräfte», die bedeutenden Einfluss auf den antirussischen Kurs ausübten, auf den die Ukraine seit der Maidan-Revolte von 2013/14, eingeschwenkt sei.
Putins Wahlhilfe
Dass die überwältigende Mehrheit der Ukrainer angesichts der widerrechtlichen Krim-Annexion und der anhaltenden militärischen Einmischung russischer Verbände in der Ostukraine auch ohne rechtsextreme Einflüsterer wenig Geschmack daran finden können, ihre Stimme einer nach Moskau orientierten Partei zu geben, scheint für die Putinschen Medienmanipulatoren und ihre Apologeten im Westen immer noch keine Selbstverständlichkeit zu sein.
Putin hat übrigens zwei Tage vor der ukrainischen Parlamentswahl einen der beiden Führer der prorussischen «Oppositionsplattform – Für das Leben», Wiktor Medwetschuk, in St. Petersburg zum Gespräch empfangen. Ob die telegene Wahlkampf-Aktion dazu beigetragen hat, dieser Partei zum Status der zweitgrössten Fraktion im Kiewer Parlament zu verhelfen oder ob Medwetschuks Partei ohne diese plakative Anbiederung vielleicht noch einen höheren Stimmenanteil als 13 Prozent ergattert hätte, darüber wird man ewig rätseln können. Unsicher ist auch, ob die in Moskau geäusserte Idee eines russischen Parlamentsabgeordneten – Selenski sollte Medwetschuk zum neuen ukrainischen Ministerpräsidenten vorschlagen, weil sich dies auf die gespannten bilateralen Beziehungen sehr positiv auswirken würde – als ernst gemeinter Ratschlag oder eher als ironische Sottise gemeint war.
Wie besetzt Selenski die Schlüsselpositionen?
Der doppelte Wahlsieger Selenski wird nun in den nächsten Tagen und Wochen eine Reihe von politischen und personalpolitischen Entscheidungen treffen müssen. Sie werden sein Profil als neuer ukrainischer Staatschef schärfer bestimmen als seine bisherigen Taten in diesem Amt. Besonders aufmerksam wird registriert werden, welche Persönlichkeiten der frühere TV-Entertainer und -Unternehmer für das Amt des Ministerpräsidenten und andere Schlüsselposten in seiner Regierung vorschlagen wird.
Werden es überzeugende und unabhängige Fachleute sein, die über die nationalen Grenzen hinaus Ansehen und Vertrauen geniessen? Oder werden zentrale Posten mit Politikern besetzt, denen man zwar einiges an Kompetenz zutraut, die aber durch ihre Verbindungen mit diesem oder jenem Oligarchen zu allerhand berechtigtem Misstrauen Anlass geben? Selenski hatte in seiner bisherigen kurzen Amtszeit gerade in personalpolitischer Hinsicht nur begrenzte Handlungsfreiheit, weil er über keine Mehrheit im Parlament verfügte. Verschiedene seiner Ernennungen konnten deshalb als Kompromisse mit bestimmten parlamentarischen Gruppierungen interpretiert werden, die sehr weitgehend von schwerreichen Oligarchen gelenkt werden.
Scharf beobachtete Causa Kolomeiski
So sorgte etwa die Berufung des Anwalts Andryi Bogdan zum Stabschef des frisch gewählten Präsidenten weit über die Ukraine hinaus zu hochgezogenen Augenbrauen und teilweise wenig schmeichelhaften Kommentaren. Denn Bogdan ist nicht nur ein langjähriger Gefährte Selenskis, sondern er war (und ist möglicherweise weiterhin) der Anwalt des höchst dubiosen Oligarchen Ihor Kolomeiski, dem die Fernsehstation 1+1 gehört. Dieser Sender wiederum strahlt die überaus erfolgreiche Unterhaltungsserie «Diener des Volkes» aus, mit der der jetzige Präsident berühmt wurde. Kolomeiski hatte sich wegen eines Finanz-Skandals um die von ihm kontrollierte «Privatbank» für mehrere Jahre ins Ausland (zeitweise in die Schweiz) abgesetzt, ist dann aber nach der Wahl Selenskis zum Präsidenten auffallenderweise wieder in seine Heimat zurückgekehrt.
Jetzt kann sich Präsident Selenski zumindest auf dem Papier auf seine eigene Mehrheitspartei im Parlament stützen. Seine nächsten Schritte und Entscheidungen werden zeigen, in welchem Sinne und in welche Richtung er seine gewachsene politische Bewegungsfreiheit nutzen wird. Die Entwicklungen in der Causa Kolomeiski werden dabei von Beobachtern inner- und ausserhalb der Ukraine besonders scharf verfolgt werden.