Die Anhänger des Revolutionsführers Ali Khamenei haben sich auf einen Gegenkandidaten geeinigt, der Rouhani gefährlich werden könnte.
Damit steht dem Iran eine Wahl voller Überraschungen und Ungewissheiten bevor. Der Ton klang autoritär und suggerierte Bestimmtheit, der Inhalt aber war unterwürfig bis sklavisch. Wort für Wort, gemessen und langsam wie ein Diktatlehrer, stellte sich der Kandidat in seinem Werbevideo vor – politisch, persönlich und zukunftsweisend zugleich:
„Ich weiss es zu gut: Meine Nähe zum Führer, meine 45 Jahre währende Hingabe zu ihm – all das ist ein wichtiges Kapital für mich. Und wer in diesem Land Verantwortung übernehmen will, muss dieses Kapital gut einsetzen, um schwierige Probleme zu lösen.“ So begann Hassan Rouhani im Frühjahr 2013 die Rede, mit der er sich um das Amt des Präsidenten der Islamischen Republik Iran bewarb. Heute, vier Jahre danach, macht dieses Video erneut die Runde. Denn es steht wieder eine Wahl an und wieder ist Rouhani der Kandidat.
Ein Dressigsekundenclip und unzählige Fragen
Und dieser Videoausschnitt von damals passt heute sehr gut als Vorspann für aktuelle TV-Wahlsendungen inländischer Sender ebenso wie der Satellitenprogramme aus dem Ausland.
Denn der kurze Clip liefert Moderatoren fast alles, was sie für ihre Wahlsendungen brauchten – er gibt ihre Fragen praktisch vor: Wie nahe steht und stand Rouhani dem Revolutionsführer wirklich? Ist er hingebungsvoll und unterwürfig genug? Was waren die Probleme, die er mit seinem „Kapital“ lösen wollte? Hat es bzw. hat Khamenei Rouhani geholfen oder behindert? Und wie viel ist von dem einstigen „Kapital“ noch übrig – reicht es aus für die Lösung heutiger Probleme? Oder hat sich der mächtigste Mann des Landes inzwischen nach einem anderen umgeschaut – nach jemandem mit mehr „Hingabe“? Und wenn ja, wer könnte das sein? Dutzende Wahlsendungen liessen sich mit diesen Fragen füllen.
Khamenei ist das Kapital.
Nichts ist falsch, was Rouhani in diesen wenigen Sätzen sagte, es entsprach damals der Wahrheit und gilt noch heute – wenn auch eingeschränkt. Nur in einem Punkt untertreibt Rouhani ein wenig. Khameneis Macht ist heute mehr als irgendein Kapital: Sie ist fast das gesamte, denn sie ist grenzenlos.
Ohne Khamenei läuft nichts im Iran. Das legt schon die Verfassung der Islamischen Republik fest. Die Streitkräfte, die Geheimdienste, die Justizbehörde, die staatliche TV- und Rundfunkanstalt, religiöse Einrichtungen und Stiftungen, um nur die wichtigsten Institutionen zu nennen: Alle unterstehen qua Verfassung direkt dem Revolutionsführer, bei allen haben weder Präsident noch Parlament mitzureden. Auch die wichtigsten Posten des Kabinetts – Innen-, Aussen-, Verteidigungs- und Geheimdienstministerium – bestimmt Khamenei, nicht Rouhani. So weit die Machtgewichtung zwischen dem Revolutionsführer und dem Präsidenten.
Eine Hingabe, die es nicht gab
Was jedoch die Dauer der Beziehung zwischen ihm und Khamenei angeht, da übertreibt Rouhani ein wenig. Dass er Khamenei vor 45 Jahren irgendwie, irgendwo begegnet ist, da sagt Rouhani wahrscheinlich nichts Falsches. Doch sehr eng kann die Beziehung nicht gewesen sein, von „Hingabe“ ganz zu schweigen. Historisch ist jedenfalls nicht belegt, dass sie sich gut gekannt hätten. Damals war Khamenei ein unbekannter, unbedeutender Mullah, ein junger Prediger aus der armen Provinz, der – wie er selbst einmal erzählte – oft nicht wusste, „ob er den Tag mit vollem oder leerem Bauch zu Ende bringt“.
Rouhani, der aus einer relativ wohlhabenden Familie stammt, war vor 45 Jahren Doktorand an der Teheraner Universität, dem eine vielversprechende akademische Karriere bevorstand. Es ist auch nicht bekannt, dass die beiden damals bei irgendeiner Organisation gemeinsam aktiv gewesen wären. Wie auch immer: „Hingabe“ Rouhanis gegenüber Khamenei ist aus dieser Zeit weder belegbar noch vorstellbar.
Mag die wahre Geschichte dieser Beziehung auch unter Lügen oder Halbwahrheiten verborgen sein: Wir wissen ziemlich genau, wie die beiden zueinander gestanden haben, seit Khamenei zum Revolutionsführer aufgestiegen ist. Und selbst in dieser Zeit gab es nicht immer „Hingabe“. Zudem konnte in den ersten acht Jahren von Khameneis Amtszeit von einer echten Führerschaft keine Rede sein. Hingabe war also gar nicht nötig.
Der Königsmacher und der Revolutionsführer
Es war Hashemi Rafsandschani, einer der Architekten der Islamischen Republik, der alle und alles überschattete, Revolutionsführer Khamenei inklusive. Denn es war Rafsandschani, der diesen neuen Revolutionsführer praktisch aus dem Ärmel geschüttelt hatte. Unvergesslich und unauslöschlich sind Bilder jener Szene, in der er dieses Kunststück vollbrachte. TV-Kameras hielten die turbulente Runde von damals fest, als einen Tag nach Khomeinis Tod Khamenei zum zweiten Revolutionsführer ernannt wurde.
Man sieht in den Aufzeichnungen, wie greise Geistliche sich heftig über den Nachfolger des gerade verstorbenen Revolutionsführers streiten: keine Einigung in Sicht, es folgen mehrere Unterbrechungen, die Sitzung zieht sich in die Länge. Es droht ein ergebnisloser Tag zu werden. Doch plötzlich betritt Rafsandschani die Bühne und tischt als mächtigster Mann der Versammlung eine seiner Erinnerungen auf: Er, Rafsandschani, habe persönlich von dem Verstorbenen gehört, Khamenei sei geeignet, Revolutionsführer zu werden.
Daraufhin tritt Ruhe ein: Unter den Versammelten herrscht überraschtes Schweigen. Dann sieht man, wie die Streitenden auseinandergehen – und Khamenei, der Geistliche aus zweiter Reihe, mit dem niemand gerechnet hatte, ist der neue Revolutionsführer. Diese unerwartete Ernennung war weder für die hohe Geistlichkeit verständlich noch für die normalen Gläubigen glaubwürdig. Sie war zudem verfassungswidrig.
Denn Khamenei war kein Ayatollah und besass damit gar nicht die religiöse Eignung, oberster Rechtsgelehrter zu sein. Seine Ernennung bewies jedoch Rafsandschanis Einfluss und Geschick – und war auch ein politischer Schachzug: Ein so durchgepeitschter Revolutionsführer, zumal ein Ungeeigneter, musste für immer im Schatten des mächtigen Königsmachers bleiben.
Makel der Zweitrangigkeit
Und es war in den ersten acht Jahren von Khameneis Führerschaft tatsächlich genau so, wie Rafsandschani es sich gedacht hatte. Khamenei hatte die formale, Präsident Rafsandschani die reale Macht. Der Makel, wie er ins Amt gehievt wurde, sollte Khamenei nie verlassen. Und bei allem, was er danach tat, ging es darum, den Geruch der Zweitrangigkeit los zu werden. In den Jahren, in denen sein Mentor Rafsandschani wie ein grosser Regisseur das Land lenkte, musste sich Khamenei zurückhalten.
Doch in der nächsten Periode holte er dann fast alles nach. Es war die Ära des Reformpräsidenten Chatami, als Khamenei beinahe täglich vorführte, wer die Nummer Eins im Staat ist. Er trieb es so weit, dass Chatami am Ende seiner Präsidentschaft bilanzierte: „Alle neun Tage servierte man mir eine Staatskrise. Präsidenten sind im Iran nicht mehr als Teeservierer.“
Demütigung des Mentors
In diesen Jahren stattete sich Khamenei mit so viel legaler und illegaler Macht aus, dass er in der Lage war, sogar seinen einstigen Mentor Rafsandschani öffentlich zu demütigen und zu isolieren. Es betrat dann plötzlich ein relativ unbekannter Mann die Szene: Mahmud Ahmadinedschad. Er hatte weder die Manieren eines gelehrten Geistlichen noch die übliche Sprache eines Politikers. Er gab sich volksnah, benahm sich wie ein Gossenjunge und erklärte Rafsandschani zu seinem Hauptfeind.
Trotzdem oder gerade deshalb galt er als Khameneis Junge: „Ahmadinedschads Ansichten sind meinen am nächsten“, erklärte Khamenei in seiner berühmten Predigt auf dem Höhepunkt der grünen Protestbewegung im Sommer 2009.
Des Lieblings Hinterlassenschaften
Ahmadinedschads brachialer Bruch mit Gepflogenheiten der iranischen Innen- und Aussenpolitik stürzte das Land dann in eine beispiellose Krise. Der Abgrund war so nah, die internationale Isolation so hermetisch, dass der Iran sich nur noch über den Schwarzmarkt und mithilfe von Koffern voller Banknoten auf dem internationalen Markt bewegen konnte.
Das Atomprogramm manövrierte das Land an den Rand eines grossen Krieges. Khameneis Liebling hinterliess einen Berg von Problemen, dessen Gipfel das umstrittene Atomprogramm war.
Abschied vom Atomprogramm
Auf den Bau einer Atombombe musste die Islamische Republik verzichten, das begriff Khamenei. Und für die Lösung des Atomkonflikts musste der neue Präsident – Ahmadinedschads Nachfolger Rouhani - das wichtigste Kapital des Landes einsetzen: Khameneis Autorität.
So begann eine neue Ära. Rouhani präsentierte seine „Hingabe“ und Khamenei gab halbherzig seine Zustimmung, bis der Atomdeal unter Dach und Fach war. Und das war es dann.
Das aufgebrauchte Kapital
Zu mehr reichten weder die angeblich alte Bekanntschaft zwischen Khamenei und Rouhani noch die Gesten der Unterwürfigkeit des letztgenannten. Alles andere, was Rouhani seinen Wählern und Wählerinnen versprochen hatte, blockierte Khamenei mit seiner totalen Macht. Es fand weder eine Öffnung nach aussen noch mehr Offenheit im Innern statt. Statt dessen warnte Khamenei bei fast jedem seiner öffentlichen Auftritte vor dem kulturellen Eindringen des Westens in den Iran. Und auch Rouhanis grosse Hoffnung auf ausländische Investitionen blieb unerfüllt.
Trotzdem schaffte er es, gewisse Schuttberge zu bewegen. Die horrende Inflation wurde einstellig, die Aussenpolitik normalisierte sich halbwegs, einige westliche Touristen entdeckten den Iran gar als Reiseland. Vier Jahre später stellt sich nun die Frage, wie viel von seinem „Kapital“ Rouhani noch übrig hat: Reicht es für die Lösung der heutigen Probleme des Landes, den Umgang mit Donald Trump inklusive? Oder muss der Präsident wieder mehr „Hingabe“ zeigen?
Die Kluft wird sichtbar
„Allen, die vom Abstand zwischen dem Revolutionsführer und dem Präsidenten schwadronieren, sei gesagt: Sie träumen“, sagte Rouhani vergangene Woche in der Stadt Rasht im Nordiran. Erstmals war er damit gezwungen zu dementieren, dass es zwischen ihm und dem Revolutionsführer eine grosse Kluft gebe. Diesem Dementi schlossen sich andere Kabinettsmitglieder an. Doch Tatsache ist: Der Graben ist da und er wird seit drei Wochen immer tiefer. Er ist heute für jeden offensichtlich.
Es begann mit Khameneis Ansprache zum persischen Neujahr am 21. März, in der er Rouhani aufforderte, so schnell wie möglich seine Wirtschaftspolitik umzukrempeln. Die Regierung solle sich um die wachsende Arbeitslosigkeit kümmern – er leide persönlich mit den Arbeitslosen und den Armen, sagte Khamenei fast weinend. Seit dieser Ansprache kennen die staatlichen Medien nur noch ein Problem: die Misere der Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit, die Armut und die Unfähigkeit Rouhanis, dem Niedergang des Landes Herr zu werden.
Bis zu dieser Neujahrsansprache schien Rouhani allein im Ring zu sein, weit und breit war kein ernsthafter Rivale in Sicht. Der alte Präsident wird der neue sein, dachte man, der neue der alte. Doch als ob sich der Wind gedreht hätte, gibt es plötzlich einen Angriff gegen Rouhani. Man gewinnt den Eindruck, Rouhani könnte der erste Präsident der Islamischen Republik werden, der nur eine Amtsperiode lang regiert hat. Denn die Kampagne gegen Rouhani ist offenbar nur ein Vorspiel, an dessen Ende auch Rouhanis Ende stehen könnte.
Rivale mit noch mehr „Hingabe“
Die radikalsten Anhänger Khameneis, die gespalten und zerfasert schienen, haben seit vergangenem Donnerstag auf einmal einen gemeinsamen und ernstzunehmenden Kandidaten, mit dem sie vielleicht sogar Grösseres vorhaben als nur die Wahl zum Präsidenten. Ebrahim Raissi heißt er und ist Leiter der mächtigsten religiösen Stiftung des Landes. Der 56-jährige Geistliche gehört zu den engsten Vertrauten des Revolutionsführers. Er wird seit einem Jahr als Khameneis Nachfolger gehandelt. Seine Gegner nennen ihn allerdings „Richter des Massenmordes“.
Als Ayatollah Ruhollah Khomeini 1979 die Islamische Republik ins Leben rief, war Raissi zwar gerade erst 18 Jahre alt. Doch schon in den ersten Stunden der Revolution gehörte er den Revolutionsgerichten an. Schnell stieg er in der neu geschaffenen Justiz auf; mit nur 20 Jahren war er Staatsanwalt in der Millionenstadt Karadj und zugleich Sonderstaatsanwalt für jene Grossstädte, in denen es politische Unruhen gab. Raissi gehörte 1988, gerade 26 Jahre alt, einem Triumvirat an, das binnen weniger Wochen annähernd 5‘000 politische Gefangene hinrichten ließ. Aus dieser Zeit stammt sein Beiname „Richter des Massenmords“.
Heute ist er Leiter der Razavi-Stiftung, womit ihm ein weit vernetzter Konzern zur Verfügung steht – steuerfrei, heilig und konkurrenzlos. Raissi sitzt ausserdem im so genannten Expertenrat, jenem Gremium, das im Falle des Falles den künftigen Revolutionsführer bestimmt. Und Raissi könnte selbst der nächste Führer werden. Ist der Posten des Staatspräsidenten also nur eine Vorstufe für weit Höheres? Raissi ist jedenfalls voller Hingabe – und radikaler als Rouhani. Ausserdem trägt er keinen weissen Turban wie Rouhani, sondern einen schwarzen. Will heissen: Sein Stammbau führt zurück bis zum Propheten.
Persischsprachige Quellen:
dw.com/fa-ir , bbc.com/persian/iran-features , radiofarda.com/a/f3 , bbc.com/persian/iran , news.gooya.com/2017 , zeitoons.com , zadboom.persianblog.ir , iranwire.com
Mit freundlicher Genehmigung des Iran Journal