Mitunter wird die Bundeskanzlerin in deutschen Diskussionen als „Mutti Merkel“ tituliert. Oft war in der Vergangenheit nicht klar, ob diese Bezeichnung eher ironisch im Sinne eines braven Mütterchens gemeint war, oder als respektvolles Label für eine mächtige Matriarchin. Im Sturm der Schulden- und Währungskrise, von dem Europa seit Wochen geschüttelt wird, ist in manchen Medien das Bild von einer macht- und sendungsbewussten Kanzlerin in den Vordergrund gerückt. In Europa, titelte die New York Times, sei man „beunruhigt über Deutschlands Dominanz“.
Merkel und die Märkte
Inzwischen wird von einigen Konspirations-Spezialisten gar unterstellt, es sei Angela Merkel gewesen, die –assistiert von Frankreichs Präsidenten Sarkozy – vor kurzem den italienischen Premier Silvio Berlusconi gestürzt und so dem früheren EU-Kommissar Mario Monti auf den Posten des neuen Regierungschefs gehievt habe. Die von Merkel und Sarkozy an einer Pressekonferenz mit mehr oder weniger beredter Körpersprache zum Ausdruck gebrachten Zweifel an Berlusconis Willen zur Sanierung der maroden italienischen Staatsfinanzen sei wohl mit ein Grund gewesen, weshalb die Zinsen für italienische Staatsanleihen so bedrohlich angestiegen seien, orakelt etwa die „Weltwoche“.
Als ob die Märkte, das heisst konkret die Käufer italienischer Staatsobligationen, nicht ohne Merkels und Sarkozys Signale auf die Idee gekommen wären, dass die Reformbeteuerungen des Cavaliere, der 17 Jahre lang die italienische Politik dominierte hatte, keine Glaubwürdigkeit mehr verdienten!
Uneuropäische Tugenden?
Andere Kommentatoren schreiben, Angela Merkel wolle jetzt den Europäern vorschreiben, an „deutschen Tugenden“ zu genesen, wie Fleiss, Disziplin, Rechtschaffenheit, Sparwillen. Da muss man zunächst fragen: Was ist falsch an solchen Tugenden? Hat nicht auch Sarkozy seinen Landsleuten erklärt, Franreich müsse „deutscher“ werden, um wirtschaftlich wieder besser voranzukommen? Und werden solche Tugenden nicht auch in der Schweiz gepredigt – gerade von den schärftsten Kritikern der EU?
Weshalb wird es als germanisches Machtstreben angeprangert, wenn eine deutsche Kanzlerin sich für Qualitäten in der Finanzpolitik einsetzt, die vernünftige Leute in vielen Ländern innerhalb und ausserhalb Europas schon lange als eine wesentliche Voraussetzung für gedeihliche Wirtschaftsentwicklungen halten? Und wie würden die Kritiker reagieren, wenn Angela Merkel sich in der jetzigen Euro-Krise nicht mit eigenen Lösungsideen exponierte? Dann würde in der Kakophonie des öffentlichen Meinungschors noch lauter über mangelnden Führungswillen in Berlin gejammert.
Misstrauen und Friedenserfahrung
Doch es geht beim Schlagwort um eine angebliche Germanisierung Europas im Kern gar nicht um finanzpolitische Details. Es geht um ein in Teilen der europäischen Öffentlichkeit immer noch verbreitetes Misstrauen gegen Deutschland, dem man düstere Langzeitprojekte zur hegemonialen Herrschaft über den alten Kontinent zutraut. Dieses Misstrauen hat natürlich seine historischen Wurzeln. Mitterrand und Margaret Thatcher hatten nach dem Fall der Berliner Mauer ja mit allen möglichen Manövern versucht, eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten zu hintertreiben, weil sie eine Auferstehung deutscher Übermachtambitionen befürchteten.
Doch nach mehr als einem halben Jahrhundert Erfahrung mit einer funktionierenden deutschen Demokratie und ihrem insgesamt konstruktiven Beitrag zum Friedensprojekt Europa mutet es abwegig an, wenn jede Anregung oder Initiative aus Deutschland zur Lösung gemeinsamer europäischer Probleme rexflexartig als Ansatz eines teutonischen Machtübernahme-Komplotts verdächtigt wird.
Wer die politischen Debatten in Deutschland über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgt, sollte nicht ausblenden, dass verantwortungsvolle Politiker, Medien und solide Wählermehrheiten in diesem Land gegen nationalistische Töne und übermässige Machtambitionen immer besonders hellhörig und kritisch reagieren. Sie sind sich des historisch bedingten Misstrauens unter den europäischen Nachbarn durchaus bewusst. Solche konstruktiven Kräfte haben in der deutschen Nachkriegs-Demokratie alle Regierungen entscheidend beeinflusst. Es gibt keine glaubwürdigen Anzeichen dafür, dass sich diese Wachsamkeit und Sensibilität unter dem Regiment von Kanzlerin Merkel verflüchtigt hätten.
Im Wechselbad der Stimmungen
Im Übrigen ist das zurzeit von vielen Medien kolportierte Cliché vom deutschen Wirtschaftsriesen, der vor Gesundheit strotzt und als robuste Lokomotive ohne Weiteres die notleidenden EU-Länder aus dem Schuldensumpf ziehen könnte, stark übertrieben. Deutschland ist, wie der NZZ-Wirtschaftskorrespondent in Berlin unlängst nüchtern feststellte, in Europa bestenfalls ein einäugiger König unter Blinden. Zum Beispiel liegt die deutsche Staatsverschuldung mit über 80 Prozent des Bruttoinlandprodukts deutlich höher als etwa in Spanien. Und es ist noch nicht so lange her, als für die deutsche Wirtschaft Warnungen vor düsteren Niedergangsszenarien und einem sozialpolitischen Kollaps hoch im Kurs waren.
Vielleicht lässt auch die Tatsache, dass es in der vergangenen Woche nicht gelungen ist, für eine Milliarden-Anleihe Deutschlands in vollem Umfang Käufer zu finden, darauf schliessen, dass die skeptischen Anleger dem angeblich so überlegenen und dominanten deutschen EU-Primus nicht uneingeschränkt vertrauen. Wenn nicht sehr vieles täuscht, wird dem Gespenst von der „Germanisierung“ Europas keine nachhaltige Karriere beschieden sein.