Hans Scharoun (1893–1972) zählt zu den bedeutendsten Baukünstlern der Moderne. Zu seinem 50. Todestag hat Ralf Bock eine Monografie mit Fotografien von Philippe Ruault herausgegeben, die bis auf Weiteres das massgebende Standardwerk bleiben dürfte.
Hans Scharoun gehörte gleich nach seiner Ausbildung zu den Mitgliedern der «Gläsernen Kette» in Berlin und damit zum Kern der frühen Moderne. Auf Einladung Mies van der Rohes, des verantwortlichen Architekten der epochalen Wohnhausausstellung von 1927 in Stuttgart, konnte er ein Modellhaus entwerfen, das nach der Realisierung bereits seine unverwechselbare Handschrift zeigte. Während alle anderen Beteiligten sozusagen ein Loblied auf den Rechten Winkel sangen, hinterfragte Scharoun bei seinem Haus dieses Dogma mit Rundungen im Grund- und Aufriss.
In der Folge erhielt er Aufträge für grosszügige Villen, die er mit sorgfältig gestalteten Pärken umgab. Die bedeutendste ist das 1933 vollendete Haus Schminke in Löbau, dessen Ecksituation mit den schon fast expressionistisch zu nennenden Terrassenbrüstungen, die wie zarte Flügel in den Gartenbereich ausgreifen, in Übersichtsdarstellungen zur zeitgenössischen Architektur häufig abgebildet wurde.
Dialog zwischen Natur und Architektur
An diesem exemplarischen Bau, der nun einer Stiftung gehört und der Öffentlichkeit zugänglich ist, kann nicht nur der für Scharoun wichtige Dialog zwischen Natur und Architektur, sondern auch das Prinzip des Raumkontinuums im Grundriss aufgezeigt werden. Ralf Bock tut dies in seinem Buch sowohl mit thematischen Kapiteln, die der Werkliste vorangestellt sind, wie auch mit neu gezeichneten, bestens lesbaren Plänen.
Während der Nazizeit wählte Scharoun den Weg der inneren Emigration. Nebst kleineren Aufträgen erforschte er mit zahlreichen Skizzen neue Grundrisslösungen für Wohnungen sowie für städtebauliche Aufwertungen. Das kam ihm nach dem Krieg zugute, als er in Berlin und in Stuttgart grössere Wohnüberbauungen realisieren konnte. Unter diesen sind die beiden unterschiedlich hohen Punkthäuser Romeo und Julia in Stuttgart, vollendet 1959, die bemerkenswertesten.
Das eine Hochhaus mit 19 Stockwerken erhebt sich über einem rechteckigen Grundriss, während das etwas niedrigere Nachbarhochhaus über einem Bogen mehrstufig aufsteigt und allen Wohnungen die Ausrichtung auf bestmögliche Besonnung garantiert. Die Fassaden werden durch auffällig spitzwinklig ausgreifende Balkone aufgelockert. Die über grosszügig dimensionierte Zugänge erschlossenen Wohnungen zeichnen sich durch polygonale Zimmer aus. Wichtig ist schliesslich die Farbgebung, die in den folgenden Werken, insbesondere in den Schulhausbauten, weiterentwickelt wird.
Experimentierfeld des Zusammenlebens
Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Geschwister-Scholl-Schule in Lünen, die schon 1962 eröffnet wurde. Sie hat auch nach der 2013 abgeschlossenen Renovation nichts von ihrer Modernität eingebüsst. Scharoun fasste die Schule als eine Art Experimentierfeld für das Zusammenleben von Kindern und Jugendlichen auf. Nebst den Gemeinschaftsräumen setzte er Pavillons aneinander, in denen die Schüler und Schülerinnen in Klassen ihren Schulalltag organisieren mussten.
Die Räume waren, für die damalige Zeit höchst unüblich, frei bespielbar. Eine strenge Bankordnung, die in der Schweiz noch in den meisten Schulhäusern die Regel war, suchte man in Lünen vergebens, und das blieb bis heute so. Zur ausgesprochen freundlichen Ausstrahlung der ganzen Anlage trägt die bunte Farbgebung im Äussern wie im Innern bei, so wie auch die Gartenanlage die Lernenden sensibilisieren soll, die Natur zu achten und zu schützen.
Vorbild für moderne Konzerthäuser
Der Name Scharoun ist selbstverständlich in erster Linie mit seinem Meisterwerk der Berliner Philharmonie verbunden, die seit der Eröffnung im Jahre 1963 als Vorbild für etliche Konzerthäuser weltweit diente. Die Halle selber ragt wie ein Gebirge aus den sie ummantelnden Diensträumen hoch und leuchtet dank den eloxierten, allerdings erst in den 1980er-Jahren angehefteten Aluminiumplatten golden.
Scharoun – und das war die revolutionäre Idee – bestimmte den Ort für das Orchester in der Raummitte und umgab die Bühne auf allen Seiten mit den Zuschauerrängen. Es gab somit kein optisch bedingtes Gefälle von Ensemble und Publikum, und das war für den Architekten gleichzusetzten mit einem Bekenntnis zur Demokratie. Dies wurde noch dadurch akzentuiert, dass die Philharmonie in unmittelbarer Nähe der Mauer stand und mit dieser Geste ein Mahnmal gegen jegliche totalitäre Gesellschaftsform darstellte.
Bauen für Weltoffenheit und Demokratie
Sechs Jahre nach seinem Tode konnte die unweit der Philharmonie errichtete Staatsbibliothek der Öffentlichkeit übergeben werden. Zusammen mit der Philharmonie und dem schon 1968 projektierten, aber erst 1987 realisierten Kammermusiksaal definiert dieses Ensemble exakt auf der von Albert Speer vorgeschlagenen Monumentalachse die Mitte Berlins als Zentrum der Kultur – für Scharoun eine notwendige Bedingung für eine weltoffene, egalitäre Gesellschaft.
Acht Jahre lang war der Fotograf Philippe Ruault unterwegs, um die 32 ausgewählten und noch bestehenden Werke Scharouns zu fotografieren. Dabei gelang es ihm, auch zahlreiche Wohnungen im derzeitigen Zustand aufzunehmen. Im Unterschied zu Bauten anderer moderner Architekten scheinen sie sich in einem hervorragenden Zustand zu befinden; offensichtlich hat Scharoun weitsichtig geplant.
Akribisch erarbeitete Ralf Bock die Einflüsse auf das Denken und Entwerfen Scharouns. Wichtig war ihm, was in der Architekturgeschichte als organisches Bauen bezeichnet wird. Scharoun wehrte sich gegen einen simplen Funktionalismus und gegen das Diktat der reinen Geometrie. Für ihn sollte das Gebaute im Dienst des Menschen stehen und Ausdruck einer Gestaltung sein, die sich am menschlichen Verhalten orientiert. Mehrmals verweist Bock auf den Primat des Geistigen bei Scharoun. Anders ausgedrückt könnte man von einer humanistischen Haltung sprechen, die Architektur nicht als Selbstzweck versteht, sondern sie den Bedürfnissen der Menschen unterordnet.
Ralf Bock: Hans Scharoun – Gestalt finden. Park Books Zürich 2022, ca. 70 Franken