Bisher galt Deutschland als Musterknabe bezüglich Budgetdisziplin und Staatsverschuldung. Allerdings geniest Deutschland diesen guten Ruf teils zu Unrecht, denn es war ausgerechnet Deutschland, das nebst Frankreich als erstes Euro-Land die Maastrichter-Verträge brach und im Jahre 2002 mit einem Defizit von 3.5% des BIP die Obergrenze der zulässigen Neuverschuldung von 3% verletzte. Obwohl für solche Vertragsverletzungen Sanktionen u.a. mit Bussen bis zu 0.5% des BIP vorgesehen waren, eröffnete der ECOFIN-Rat kein Verfahren gegenüber Deutschland. Die Nichteinhaltung der Maastrichter-Verträge blieb somit ohne Konsequenzen. Der damals verantwortliche Finanzminister Eichel gilt deshalb zu Recht als "Vater der Euro-Krise". Er war es auch, der 2004 im Rahmen der Reform des Stabilitätspaktes Vertragsänderungen durchsetzte, die die vorgesehenen Sanktionen bei Nichteinhaltung der Maastrichter-Kriterien praktisch ausser Kraft setzten. Die Kritik der deutschen Bundesbank, dass mit der Vertragsaufweichung die Rahmenbedingungen für die Geldpolitik und die Rolle der Notenbanken geschwächt werde, wurde von Finanzminister Eichel mit einem scharfen Rüffel abgetan. Er könne der Bundesbank "nur dringend empfehlen, bevor sie öffentlich Äusserungen abgibt, sich darüber zu informieren, was beabsichtigt ist". Auch die EZB und die damalige Opposition in Deutschland, die CSU, die CDU und die FDP, kritisierten die Abweichungen vom Stabilitätspakt aufs Schärfste. Man sprach sogar von einer "Lizenz zum Schuldenmachen". Umso unverständlichen ist die Haltung der heutigen Regierung zu diesem Stabilitätspakt.
Die Aufweichung der Maastrichter-Verträge (längere Fristen für Defizitabbau, Ausschluss von einzelnen Ausgaben aus der Defizitberechnung etc.) ermutigte auch andere Euro-Länder, eine ungezügelte Defizitwirtschaft zu betreiben. Das das Ergebnis ist ernüchternd: Seit Beginn des Euro wurde allein das 3%-Defizit-Kriterium der Maastrichter-Verträge von den Euro-Ländern über 50x verletzt. Deutschland überschritt die Defizitgrenze in den letzten 12 Jahren 6x. Seit 2005 bis 2010 haben die Staatsschulden der EU-27 um 42% auf EUR 9'828 Mrd zugenommen, jene der Euro-Zone um 37% auf EUR 7'837 Mrd. Deutschland steigerte seine Staatsschuld in diesen 5 Jahren um EUR 556 Mrd. (+36%). Mit einem BIP 2010 von EUR 2'499 Mrd. ist Deutschland die wichtigste europäische Volkswirtschaft. Mit EUR 960 Mrd. Ausfuhren ist Deutschland zwar nicht mehr Exportweltmeister (2010 in USD: 1. China 1'558 Mrd. 2. USA 1'278 Mrd. 3. Deutschland 1'269 Mrd.), aber die starke internationale Wettbewerbsfähigkeit bleibt unbestritten. Diese starke Wirtschaft und die bis vor wenigen Jahren noch gesunden Staatsfinanzen führten dazu, dass Deutschland im Zuge der Staatsfinanzkrise in Europa zum Hauptzahlmeister der Rettungspakete für Griechenland (EUR 110 Mrd.), aber auch die EFSF (European Financial Stability Facility) bzw. der Nachfolgeorganisation ESM (European Stability Mechanism) aufrückte. Die EFSF ist ein Rettungsschirm für EU-Mitgliedsländer mit einem Kapital von EUR 440 Mrd., von dem aber nur EUR 250 Mrd. ausgeliehen werden dürfen. Der Rest dient zum Schutz der Gläubiger bzw. soll die AAA-Bonität für Anleihen der EFSF absichern. Weitere EUR 60 Mrd. stammen aus dem EU-Haushalt, zu dem Deutschland mit 19.6% ebenfalls massgeblich viel beiträgt. Die EFSF ist zeitlich auf 2013 befristet. Dann soll sie durch den ESM mit einem Kapital von EUR 700 Mrd. (EUR 80 Mrd. Bareinlage, EUR 620 Mrd. Garantien der Euro-Staaten) und unbestimmter Laufzeit in Kraft gesetzt werden. Auch dieser ESM wird EUR 200 Mrd. in Reserve halten, d.h. nur EUR 500 Mrd. ausleihen. An diesen beiden Rettungsschirmen muss sich Deutschland mit ihrer EZB-Euro-Quote von 27.1% beteiligen. Fällt ein Garantieland aus, weil es z.B. selbst zahlungsunfähig wird, werden sich diese Quoten aber nicht erhöhen. Beschlüsse des Krisenfonds müssen einstimmig gefällt werden. Allerdings ist umstritten, ob die Regierungschefs oder Finanzminister der einzelnen Länder ohne vorherige Genehmigung durch die Parlamente dazu autorisiert sind. Dazu dürften weitere Verpflichtungen im Rahmen des IWF(Griechenlandhilfe EUR 30 Mrd., zusätzliches IWF Paket zur Ergänzung des EFSF von EUR 250 Mrd.) kommen, zu denen Deutschland erneut überdurchschnittlich viel beitragen muss.
Bereits für Griechenland musste Deutschland mit EUR 22.4 Mrd. (die über die KfW beschafft werden) geradestehen und nach der Aufstockung des Rettungsschirms von EUR 440 auf EUR 700 Mrd. riskiert Deutschland nebst den Bareinzahlung für den Eigenkapitalstock von EUR 22 Mrd. für diesen ESM weitere EUR 168 Mrd. Garantien zur Kasse gebeten zu werden. Diese EUR 190 Mrd. entsprechen rund 9% der gesamten Staatsschulden Deutschlands von EUR 2'080 Mrd. bzw. 15% der Bundesschulden von EUR 1'284 Mrd. per Ende 2010. Wie ein solcher möglicher Schuldenschub mit der beschlossenen Schuldenbremse für den Bund und die Länder zu vereinbaren wäre, ist unklar. Die Einhaltung eines ausgeglichenen Haushalts ist für den Bund ab dem Jahr 2016 zwingend vorgesehen, für die Länder ab dem Jahr 2020. Im Hinblick auf das deutsche Haushaltsrecht schlagen sich die Verbindlichkeiten aus dem ESM voraussichtlich aber nur bei der Nettokreditaufnahme, nicht aber bei Berechnungen zur Schuldenbremse nieder.
Der eigentliche Schulden-Schock ist aber bereits 2010 erfolgt. Die deutsche Bundesbank (Buba) hat im März die Staatsschulden gemäss Maastrichter-Kriterien neu berechnet. Diese Buba-Zahlen zeigen für 2010 einen Zuwachs der deutschen Staatsschulden inklusive Bundesländer, Kommunen etc. um EUR 319 Mrd. auf EUR 2'080 Mrd. Die Neuverschuldung entspricht 12.8% des BIP 2010. Das Bundesministerium der Finanzen publiziert zwar mit EUR 1'999 Mrd. eine etwas tiefere Gesamtverschuldung der deutschen öffentlichen Hand, aber für die Maastrichter-Kriterien sind die Berechnungen der Bundesbank bzw. von Eurostat massgebend. Seit 2007, als die Verschuldung noch 64.9% des BIP bzw. EUR1'579 Mrd. lag, hat die Verschuldung gemäss Maastrichter Kriterien um 16.3 BIP-Prozentpunkte auf 83.2% zugelegt.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1991 lag die Verschuldungsquote bei 40.4%. Sie hat sich seither somit mehr als verdoppelt. Sollten nun aus den Verpflichtungen zur Rettung des Euro weitere rund EUR 200 Mrd. (= 8% des BIP 2010) zum heutigen Schuldenberg dazukommen, so würde sich die deutsche Staatsverschuldung bereits auf über 90% belaufen. Aber damit nicht genug. In den Jahren 2011 bis 2015, also noch vor Inkrafttreten der Schuldenbremse, werden weitere ordentliche Staatsdefizite anfallen. Der Bund allein sieht im Finanzplan 2011 bis 2015 weitere Nettokreditaufnahmen von Mrd. 131 Mrd. vor. Für die untergeordneten Körperschaften liegen keine verlässlichen Schätzungen vor. Alleine schon der Nettofinanzierungsbedarf des Bundes entspricht weiteren 5 BIP-Punkten, womit die 100%-Marke in gefährliche Nähe rückt. Sollten dann zu allem Übel noch die Zinsen massiv ansteigen, dann würde sich die gesamte Neuverschuldung noch beschleunigen.
Entlastend könnten einzig Rückzahlungen des Bankensektors wirken, falls es der öffentlichen Hand gelingt, ihre Bankengagements wieder zu privatisieren oder wenn die Banken selbst, wie dies die Commerzbank angekündigt hat, die staatlichen Einlagen zurückzahlt.
Per Saldo hat Deutschland aber seit 2007 eine massive Verschlechterung seiner Verschuldungssituation verzeichnet, die von den meisten Anlegern noch nicht in ihrem vollen Ausmass erkannt wurde. Selbst der IWF geht in seinem Frühjahres Fiscal Monitor noch davon aus, dass Deutschlands Bruttoschulden nur auf 80% ansteigen werden. Das Bundesministerium der Finanzen publiziert in seinem März-2011-Bericht noch einen Schuldentand 2010 von 75.7% des BIP. Es dürfte deshalb nur eine Frage der Zeit sein, bis die Rating-Agenturen auch Deutschland ins Visier nehmen. Eine Bonitätsabstufung Deutschlands würde auch den Euro schwächen, denn bisher galt Deutschland als Hauptstütze des Währungsverbundes. Nebst höheren Zinsen in Deutschland, mit der das gesamte Euro-Zinsgefüge in Bewegung geraten könnte, besteht die Gefahr einer Abwertung des Euro z.B. gegenüber dem CHF. Sollte Deutschland bzw. das deutsche Parlament aber im Juni den erweiterten Rettungspaketen nicht zustimmen, und bekanntlich haben der Bundesrechnungshof, die FDP und die SP Opposition angekündigt, dann müssten die Krisenländer Griechenland, Irland und Portugal noch rascher eine Umschuldung vornehmen. Davon wiederum würden deutsche Banken massiv betroffen. Eine Absage des deutschen Parlamentes an die Euro-Hilfspakete könnte zu einer schweren Krise im Euroraum führen.
Schlussfolgerungen:
1.Das Beispiel Deutschland zeigt, wir rasch und dramatisch sich die Verschuldungssituation eines Landes verschlechtern kann, wenn die Budgetdisziplin nachlässt, selbst unter einer angeblich bürgerlichen Regierung.
2.Deutschland weist unter den europäischen Staaten absolut betrachtet die höchste Staatsverschuldung auf (Deutschland EUR 2'080 Mrd., Italien EUR 1'843 Mrd., Frankreich 1'591 Mrd., Grossbritannien EUR 1'353 Mrd.). Bezogen auf das BIP rangiert Deutschland hinter den Krisen- und hochverschuldeten Ländern (Griechenland 143%, Italien 119%, Belgien 97%, Irland 96%, Portugal 93%) mit 83.2% bereits auf Rang 6. Nicht weniger als 21 EU-Länder sind somit weniger verschuldet als Deutschland. Spanien lag mit 60.1% nicht nur hinter Deutschland, sondern sogar noch fast innerhalb der Maastrichter Maximalgrenze. Dennoch wurde die Bonität dieses Landes von den Rating Agenturen infrage gestellt.
3.Sollten die Rating Agenturen auch gegenüber Deutschland erste Bonitäts-Warnungen aussprechen werden die Anleger um so überraschter negativ reagieren, was zu Zinssteigerungen nicht nur in Deutschland, sondern im gesamten Euro-Raum führen könnte. Die Risikoaufschläge anderer Länder werden jeweils gegenüber 10-jährigen Staatsanleihen von Deutschland definiert. Die Bonitätsbeurteilungen basieren aber auf offiziellen Verschuldungs-Zahlen, die nur einen Teil der effektiven Staatsverschuldung erfassen. Offiziell stellen sich die deutschen Staatsschulden aller drei Ebenen per Ende 2010 auf EUR 2'080 Mrd. bzw. 83.2% des BIP.
Die Stiftung Marktwirtschaft stellt jedoch fest, dass ein noch grösserer Teil der Staatsschulden in den Sozialwerken in Form von nicht gedeckten Leistungsversprechen versteckt wird. Die echte Staatsverschuldung Deutschlands, inklusive implizierte Staatsschuld dürfte sich gemäss der Schätzung der Stiftung Marktwirtschaft im Spätherbst 2010 deshalb auf rund 308% des BIP oder EUR 7'400 Mrd. stellen. Diese verheimlichten Staatsschulden werden früher oder später zutage treten, indem aus dem Staatshaushalt immer höhere Beträge für die Rentenzahlungen, aber auch für das Gesundheitswesen und die Pflege bereitgestellt werden müssen. Zu ähnlichen Verschuldungszahlen kommt auch die Rating Agentur Standard & Poor's in ihrer Studie "Global Aging 2010: An irreversible truth". S&P schätzt für Deutschland, ausgehend von einem Nettoschuldenstand von 75.2% im Jahre 2010 einen Anstieg auf 97.1% bis 2020. In den folgenden drei Jahrzehnten sollen die Nettoschulden auf 155%, 254% und 400% (2050) zunehmen.
4.Da Deutschland als Hauptstütze und Garant des Euro gilt, würde eine Bonitätsrückstufung den Euro weiter schwächen. Die Aufdeckung von Verschuldungsproblemen einzelner Staaten durch die Rating Agenturen mit entsprechenden destabilisierenden Folgen an den Kapitalmärkten hat die Politik wachgerüttelt. Deshalb überrascht es nicht, dass Kanzlerin Merkel und der französische Präsident Sarkosy die Rating Agenturen bevormunden wollen. Die EU droht Rating Agenturen mit Strafen, schärferen Gesetzen und einem Auftragsstopp für die Benotung von Staaten. Auch ein Vetorecht der Regierungen für die Veröffentlichung zu einem ungünstigen Zeitpunkt wird diskutiert. Offensichtlich wollen die Regierungen das Oligopol von S&P, Moody's und Fitch, die zusammen einen Marktanteil von 95% halten, brechen und sie zu Gefälligkeitsgutachten bezüglich ihrer eigenen Länder zwingen. Ins gleiche Kapitel geht der Dodd-Frank Act, die umfangreiche Neuregulierung der US-Finanzindustrie, die den Banken die Verwendung von Ratings von Agenturen praktisch verbietet. Der IWF fordert die Politik auf, Gesetze und Regularien abzuschaffen, die Kauf- oder Verkaufsentscheidungen an Ratings binden. Damit sind z.B. Anlagereglemente von Pensionskassen gemeint, gemäss denen keine Anleihen von Schuldnern unter "investment grade" gekauft werden dürfen. Diese spezielle Art von "Presse-Zensur" ist sehr bedenklich.
5.Deutschland wird angesichts der Verschuldungslage innenpolitisch kaum in der Lage sein, seine Finanzhilfe an Euro-Krisensaaten weiter auszudehnen. Fehlt dieses Hilfe, dann werden Umschuldungen beschleunigt Realität werden.
6.Schuldenschnitte, Laufzeitenverlängerungen, Zinssatzreduktionen etc. werden wiederum die deutschen Banken massiv treffen, denn selbst wenn die Direktkredite an Krisenstaaten und Staatsobligationen in den Eigenbeständen der Banken allenfalls noch zu bewältigen wären, müssen diese Banken mit zusätzlichen Verlusten auf Krediten rechnen, die sie den Banken und Nicht-Banken in den Krisenländern gewährt haben. Gemäss BIZ-Bericht vom April 2011 belaufen sich die Ausstände deutscher Banken in den Krisenländern inklusive Direktkredite an die öffentliche Hand in diesen Ländern per 31.12.2010 auf folgende Beträge: Griechenland EUR 34 Mrd., Portugal EUR 34 Mrd., Irland EUR 118 Mrd., Spanien EUR 182 Mrd., Italien EUR 162 Mrd., Belgien EUR 44 Mrd. (Total EUR 577 Mrd.; zum Vergleich: Frankreich EUR 861 Mrd., Schweiz EUR 47 Mrd.). Spanien, Italien und Belgien mussten zwar von der EU und vom IWF noch nicht gestützt werden, aber sobald die erste Umschuldung mit Verlusten für die Anleger Realität wird, werden sich die Investoren auch aus den nächsten gefährdeten Ländern zurückziehen. Bei einer Umschuldung müsste wohl ein Abschreiber von 20-40%, d.h. von EUR 100-200 Mrd. verkraftet werden.
7.Es ist nicht auszuschliessen, dass Grossverluste auf solchen Positionen bei deutschen Staatsbanken (Landesbanken etc.) die deutsche Regierung zu weiteren Stützungsaktionen zwingen könnte, was die Verschuldung Deutschlands weiter belasten dürfte.
8.Da ein Ausbruch aus diesem Teufelskreis viel Zeit erfordert, werden sich die Probleme innerhalb des Euro-Raumes zuspitzen. Bis anhin konnte Rest-Europa vom schuldengetriebenen Boom in Deutschland profitieren. Wenn Deutschland aber, auch wegen der USD-Schwäche, im Exportgeschäft einen Rückschlag erleidet, dann dürfte die Dynamik in den zahlreichen deutschlandabhängigen Ländern ebenfalls einbrechen. Damit fehlen wiederum Steuereinnahmen.
9.Angesichts der anhaltenden Gefahr einer weiteren Euro-Abwertung gegenüber dem Schweizer Franken und der realistischen Möglichkeit einer Bonitätsabstufung Deutschlands erscheint das Engagement der SNB von rund CHF 70 Mrd. in Schuldpapieren dieses Landes eine riskante Spekulation. Es wäre an der Zeit, dieses Engagement baldmöglichst zu beenden.
10.Das Engagement der Schweiz beim IWF erscheint angesichts dieser Perspektiven ebenfalls riskant, denn aus den Garantien könnten konkrete Zahlungsverpflichtungen werden. Deshalb ist dieses Engagement zusätzlich abzusichern, beispielsweise mit IWF-Gold als Pfand.