Dies ist ein dicker Schmöker, den niemand mehr liest, und auch der Berichterstatter gesteht, ihn nicht ganz gelesen zu haben. Doch als das Buch erschien, wurde es rasch zum Bestseller und lieferte dem Nationalsozialismus eines seiner gefährlichsten Schlagwörter: „Volk ohne Raum“.
Im Dritten Reich wurden rund 600’000 Exemplare des Werks abgesetzt, und einer der damals massgebenden Literaturkritiker, Paul Fechter, schrieb lapidar: „Ein Roman, nicht sosehr des deutschen Lebens als des deutschen Schicksals, steht hier da.“ Auch im deutschsprachigen Ausland fand das Buch seine Leser. Im Jahre 1934 widmete der später hochberühmte Germanist Emil Staiger dem Werk seine Probevorlesung an der Universität Zürich.
"Deutschland aus dem Schlaf erwecken"
Hans Grimms Roman erzählt in vier Teilen und auf 1300 Seiten die Lebensgeschichte des Cornelius Friebott in den Jahren zwischen 1887 und 1923. Das Buch beginnt mit dem Geläut einer kleinen Klosterkirche in Hessen, wo Grimm an seinem Buch arbeitet. Das Geläut, so stellt es sich der Autor vor, widerhallt im ganzen Deutschen Reich, „zwischen Maas und Memel und zwischen Königsau und Etsch“.
Der gewaltige Glockenschall soll Deutschland aus langem Schlaf zu neuem Leben erwecken; er soll den Deutschen bewusst machen, welch grosses Schicksal auf sie wartet. „Der deutsche Mensch“, schreibt Grimm, indem er sich einleitend an seine Leser wendet, „braucht Raum um sich und Sonne über sich und Freiheit in sich, um gut und schön zu werden. Soll er bald zwei Jahrtausende umsonst darauf gehofft haben?“ Und er fährt in seinem etwas merkwürdigen Deutsch fort: „„Es gibt eine Sklavennot der Enge, daraus unverzwungene Leiber und Seelen nie mehr wachsen können. Ich aber, mein Freund, ich weiss, dass meine Kinder und mein Geschlecht und das deutsche Volk ein und dasselbe sind und ein Schicksal tragen müssen.“
"Deutschland ist zu klein geworden für uns"
Das ist die mit viel Pathos vorgetragene Erweckungsbotschaft, die der Schriftsteller seinem Roman voranstellt und die er sein ganzes leben lang zu verkünden nicht müde geworden ist. Das Buch erschien im Jahre 1926. Es war dies eine günstige Zeit für solche Erweckungsbotschaften: Kurz zuvor war Adolf Hitler aus seiner Festungshaft in Landsberg entlassen worden und hatte seine Partei neu gegründet.
Hans Grimm erzählt die Geschichte von Cornelius Friebott, dem Sohn eines Kleinbauern aus dem Weserland, der nach einer Lehre als Schreiner der heimatlichen Enge entflieht. „Deutschland allein“, sagt sich Friebott, „ist zu klein geworden für uns, und dagegen ist die Welt gross genug für alle.“ Der junge Deutsche will durch sein Beispiel zeigen, was Deutschland draussen in der Welt leisten kann und zu leisten bereit ist. Er ist davon überzeugt, dass sein Vaterland hinter jener Weltgeltung zurückbleibt, die das Schicksal ihm vorbestimmt hat. Neidvoll blickt er auf England und dessen Empire und träumt von einem Deutschland, das sich eines Tages gleichwertig an die Seite der grossen Seemacht stellen werde.
Leidenschaft für die Buren
Nach dem Militärdienst reist Cornelius Friebott nach Südafrika. Vergeblich sucht er nach Arbeit und muss feststellen, wie gering der Deutsche im Ausland geachtet ist. Er sieht sich in seinen Vorurteilen gegen die Engländer bestätigt und entschliesst sich, mit einem Kontingent von Landsleuten auf Seiten der Buren gegen die Engländer in den Krieg zu ziehen. Der Burenkrieg, den die Nachfahren holländischer Pioniersiedler zwischen 1880 und 1902 gegen die Engländer führten, fand damals in Europa grosse Beachtung, und in Deutschland und in der deutschsprachigen Schweiz ergriff man leidenschaftlich Partei für die Buren.
Cornelius Friebott nimmt an einem Gefecht teil, gerät in englische Gefangenschaft und wird auf der Insel Sankt Helena interniert. Er sucht nach seiner Freilassung in Kapstadt Arbeit und sieht sich erneut Diskriminierungen ausgesetzt. Dann macht er sich auf nach Südwestafrika, dem heutigen Namibia, wo der Bremer Überseekaufmann Lüderitz 1883 Land gekauft und das Deutsche Reich die „Schutzherrschaft“ übernommen hatte. Es war keine friedliche Kolonisation, was sich dort abspielte. Nach 1900 wurde gegen das einheimische Volk der Herero und seine Nachbarn ein gnadenloser Krieg geführt, der zuletzt den Charakter eines Genozids annahm.
Sich stets beherrschen
Cornelius Friebott schliesst sich 1908 dem Feldzug des preussischen Hauptmanns Friedrich von Erckert gegen das Volk der Nami an. In mehreren Gesprächen zwischen von Erckert und Friebott ist von der Rolle Deutschlands in der Welt die Rede. Friebott entwickelt seine Vision von Deutschlands Zukunft. Dabei wagt er es, von Erckert vorzuwerfen, dass die deutsche Aristokratie es versäumt habe, die ihr zugedachte Führerrolle zu übernehmen. Deutschland bedürfe nun einer neuen Führergestalt, die in der Lage sei, die Massen der unteren sozialen Schichten in die Zukunft zu führen. Friedrich von Erckert kommt beim Feldzug ums Leben und wird mit militärischen Ehren beigesetzt; von den abgeknallten Eingeborenen ist nicht weiter die Rede. Dagegen wird eine Denkschrift des Hauptmanns verlesen, in welcher der Idealtyp des deutschen Kolonisators so beschrieben wird: „In erster Linie die grösste Selbstachtung. Nichts Gemeines tun, Leib und Seele reinhalten. Sich stets beherrschen; selbstlos, heiter und mutig sein. Sich sagen, dass eine gerade aufrechte Haltung auch die Äusserung einer geraden, aufrechten Seele ist.“
Nach dem Ersten Weltkrieg gelangte Südwestafrika als Mandatsgebiet des Völkerbunds an England. Auch alle andern deutschen Kolonien gingen verloren, auch solche, die bis zum Schluss Widerstand geleistet hatten. Friebott gelingt die Flucht, und er gelangt auf abenteuerlichen Wegen zurück nach Deutschland. Die Niederlage im Krieg und das erste Nachkriegsjahr mit den innenpolitischen Unruhen und dem als ungerecht empfundenen Versailler Frieden wird von Hans Grimm in düstersten Farben und in altertümelnder Sprache so geschildert: „Es ist jetzt das Jahr, in dem sich so Ungeheuerliches erfüllte, dass das schwere Weinen von Hunderttausenden von Menschen unbeachtlich wurde und dass das deutsche Leiden der Einzelnen in der Welt ein völliges Nichts erschien, ein so gleichgültiges Nichts wie irgendeines Schmetterlinges Not. Es ist jetzt das Jahr, in dem die Ausführung des Friedensvertrages begann mit der Abtretung der altdeutschen Länder, mit der schwarzen Schmach, mit der Auslieferungsliste. Es ist jetzt das Jahr, in dem die lange Saat der marxistischen Lehre und der fremden geistigen Gängelung, die beide seit einem Menschenalter eine wirklich freiheitliche Bewegung im Deutschen Reiche verhindert hatten, aufging und der deutsche Arbeiterschaft und dem deutschen Volke furchtbares Unheil zu tragen begann, wenn sie es beide auch noch nicht begreifen wollten.“
Mit einem Stein getötet
In Deutschland heiratet Cornelius Friebott und zieht mit seiner Frau als Wanderprediger durchs Land. In seinen Reden spricht er von seinen enttäuschten Hoffnungen und Visionen, von der Enge Deutschlands, von der Grösse, die Deutschland zustehe und von einem künftigen Führer, der diese Grösse verkörpern müsse. „Da die“, sagt er, „die die Führerschaft jeweils hielten, sich immer wieder davon abbringen liessen, zu Deutschland zu führen, zum Deutschland für alle Deutschen, muss der neue Weg gefunden werden, darauf sich Führer und Volk begegnen können, und darauf kommt es zuerst an, dass er genannt ist.“ Doch Friebott kann seine Mission nicht vollenden: Er wird bei einem Auftritt durch den Steinwurf eines politischen Gegners getroffen und stirbt.
Gegen Schluss des Buches tritt der Autor Hans Grimm selbst auf. Er erzählt, wie er Cornelius Friebott vor vielen Jahren in Südwestafrika begegnet sei und sich entschlossen habe, dessen Lebensgeschichte aufzuzeichnen. Der Autor kannte Südafrika gut, war er doch zwischen 1897 und 1908 als Kaufmann dort tätig gewesen. Während des Krieges wurde er wegen seiner Englischkenntnisse in der Auslandabteilung der Obersten Heeresleitung beschäftigt. Die deutsche Niederlage traf ihn tief, den Verlust der Kolonien konnte er nie verwinden, den Versailler Friedensvertrag lehnte er vehement ab. Er zog sich mit seiner Familie nach Lippoldsberg an der Weser zurück und verfasste dort neben seinem Hauptwerk „Volk ohne Raum“ eine Reihe von sehr populären, nostalgisch verklärten Büchern mit Erzählungen, die in Deutsch-Südwestafrika spielen.
Sentimental, pathetisch
„Volk ohne Raum“ ist ein langfädiges, sentimentales, pathetisches und wirres Machwerk. In ihm findet sich das ganze Arsenal von unausgegorenen und antidemokratischen Ideen versammelt, welche die Geisteshaltung bestimmten, auf denen Adolf Hitler seine Propaganda aufbauen konnte: die Ressentiments nach dem verlorenen Krieg, die Berufung auf deutsches Volkstum als Widerpart zum drohenden Sozialismus, der Glaube an die Überlegenheit der deutschen Rasse. Es gibt Passagen in diesem Buch in denen der geifernde, apodiktische Tonfall der Führerrhetorik vorweggenommen wird. Gewiss stand Hans Grimm dem Nationalsozialismus sehr nahe; er war aber eher ein treuherzig-naiver Romantiker und irregeleiteter Patriot als ein militanter Nazi. Man weiss, dass er von Goebbels, der den populären Bestsellerautor nicht ignorieren konnte, wegen seiner Unbotmässigkeit gerügt wurde und dass er vom Regime verfolgte Schriftsteller in Schutz zu nehmen suchte.
Nach Kriegsende freilich exponierte sich der Schriftsteller Hans Grimm, indem er den Nationalsozialismus in mehreren Schriften verteidigte und ehemalige Parteigenossen zu entlasten suchte. Er sprach von einem „ursprünglichen Nationalsozialismus“, der sich gegen die „Vermassung“ und den „Verfall der europäischen Kultur“ aufgelehnt habe und relativierte die Judenverfolgung mit dem Hinweis auf die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten. „Ich kann von schlechthin Bösem“, schrieb er, „in den Jahren 1933 bis zum Zweiten Weltkrieg ausser der Röhm-Angelegenheit und der qualvollen Judennacht innerhalb der eigenen Erfahrung nichts entdecken... Aber wenn man absieht von diesem Schaden und der Judenangelegenheit, so geschah zwischen 1933 und 1939 im inneren Staatsleben mehr für die Gesundheit und mehr für Mutter und Kind und mehr für die gegenseitige Volkshilfe als jemals, ja –man darf sagen – als irgendwo.“ Das waren uneinsichtige und verblendete Worte eines Mannes, der alle seine Hoffnungen verloren hatte und seine Ressentiments bis zu seinem Tod nicht loswerden konnte.
Ouvertüre zum Binnen-Imperialismus
In der Geistesgeschichte des kolonialen Imperialismus kommt Hans Grimms „Volk ohne Raum“ eine Sonderrolle zu. Das Deutsche Reich hatte sich erst spät um Kolonien bemüht, und Bismarck hatte in dieser Hinsicht eine sehr zurückhaltende Aussenpolitik betrieben. Es waren Vereinigungen wie die „Deutsche Kolonialgesellschaft“ und der „Alldeutsche Verband“, die gegen Ende des Jahrhunderts die Forderung nach Kolonien aufstellten und sich die Unterstützung breiter Kreise der Öffentlichkeit zu sichern wussten.
Aber man kam spät und musste sich nehmen, was die andern Seemächte noch übrig gelassen hatten: einige Teile Afrikas, einige Inseln im Südpazifik, ein Stützpunkt in China. Hinzu kam, dass sich England und Frankreich in der „Entente cordiale“ von 1904 über ihren gegenseitigen Kolonialbesitz geeinigt hatten, was den Aktionsbereich deutscher Überseepolitik weiter einschränkte. Dass sich die deutschen Kolonialpropagandisten genarrt fühlten, lässt sich nachvollziehen. Aber dass man nach 1900 unter Admiral Alfred von Tirpitz begann, die Kriegsmarine auszubauen mit dem erklärten Ziel, mit England auf den Weltmeeren gleichzuziehen, war unsinnig und gefährlich. Nach Deutschlands Niederlage im Weltkrieg beeilten sich Frankreich und England, Deutschland im Friedensvertrag von Versailles seine Kolonien wegzunehmen. Die Blüte des Imperialismus war zwar überschritten, aber die imperialistischen Reflexe wirkten fort. Hans Grimms monumentaler Roman ist ein Abgesang auf den deutschen Imperialismus in Übersee. Zugleich ist er die Ouvertüre zum Binnen-Imperialismus, den Hitler in Europa betreiben sollte.