Als 2013 der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) anregte, jede deutsche Familie täte gut daran, einen gewissen Notvorrat für den Fall einer Krise anzulegen, da bekam er ordentlich Prügel – vom politischen Gegner, von den Medien, aus der breiten Gesellschaft. Jetzt sind in den Supermärkten viele Regale leer. Die Deutschen hamstern wieder. Denn die Angst geht um wegen des Krieges in der Ukraine. Und von den einstigen Kritikern rührt sich niemand…
In der Tierwelt soll es nicht selten vorkommen, dass bestimmte Verhaltungsweisen genetisch weitervererbt werden. Tatsächlich haben Biologen in der Rhön (einem Mittelgebirge, das sich über die drei Bundesländer Bayern, Hessen und Thüringen erstreckt) Rehe – vereinzelt und im Rudel – beobachtet, wie sie selbst mehr als dreissig Jahre nach dem Ende der deutschen Teilung den Streifen nicht überquerten, wo vorher jahrzehntelang die von Stacheldraht und Minenfelder bewehrte Todeszone allen Lebewesen das Passieren verwehrt hatte. Ob das menschliche Erbgut vielleicht über ähnliche, von Generation zu Generation weiter getragene, Informationen verfügt? Dann würde das ja bedeuten, dass zwischen den hoffnungslos überfüllten und zumeist aus den zerbombten Großstädten ins bäuerliche Umland führenden Zügen vor mehr als sieben Jahrzehnten und den aktuell wieder leeren Regalen in den deutschen Supermärkten ein direkter Zusammenhang bestünde.
Für ein paar Eier oder Kartoffel
«Hamster-Züge» nannte man das, was damals auf den Gleisen rollte. Und „hamstern“ war das, was Tausende und Abertausende antrieb. Die Notwendigkeit nämlich, zu versuchen, wenigstens ein paar Eier, Kartoffeln oder Speck einzutauschen. Nicht gegen Geld, denn die Reichsmark war ja wertlos. Oft wechselten ererbte Schmuckstücke, Eheringe, wertvolle Uhren die Besitzer. Und meistens waren Bauern die neuen Besitzer. Ein böser Spruch lautete seinerzeit, die Bauern legten sogar ihre Ställe mit Teppichen aus; das schlechte Image dieses Berufsstands hielt ziemlich lange an. «Hamstern», das war jedenfalls in jenen ersten Jahren nach dem Krieg eine Frage des Überlebens. Zwischen der Zeit damals und unserer heutigen wuchsen allerdings mindestens drei (eher vier) neue Generationen heran. Und zwar grösstenteils in Perioden wachsenden Wohlstands.
Trotzdem werden in den Supermärkten schon wieder zahlreiche Artikel rationiert. Ausverkauft, weil massenweise Bundesbürger fast panisch «bunkern». Nicht zum ersten Mal, übrigens. Sondern praktisch immer dann, wenn es irgendwo in der Welt kriselt. 2015 zum Beispiel, als das Heer von Flüchtlingen und Vertriebenen vor allem aus Nahost in unseren Breiten Zuflucht suchte. So wie damals werden auch jetzt wieder Waren in Massen heimgeschleppt. Ganz zuvorderst Toilettenpapier und Speiseöl, aber auch weit weniger lang haltbare Artikel und Lebensmittel. Wie viele davon werden wohl schon in Kürze auf dem Müll landen? Ist diese Kaufwut demnach eine, sozusagen, genetische Erblast von unseren hungernden Altvorderen?
Ende der «Friedensdividende»
Nun steht ja wirklich außer Frage, dass sich die Dinge auf der Welt um uns herum dramatisch verschlechtert haben. Nach dem von Russlands Präsidenten Wladimir Putin befohlenen brutalen Überfall auf die Ukraine mit all seinen menschlichen Tragödien sowie politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen praktisch auf das gesamte Weltgeschehen können eigentlich nur noch völlig hoffnungslose Tagträumer an jene «Friedensdividende» glauben, von deren ewiger Existenz viele Menschen (vor allem in Deutschland) tatsächlich lange überzeugt waren. Was hilft es jetzt noch, wenn Realisten erbittert daran erinnern, wie sie von der Mehrheitsgesellschaft als «kalte Krieger», «ewig Gestrige» oder «Rechte» in verfemte Ecken gedrängt wurden, weil sie zu Vorsicht und Beibehaltung der Wehrhaftigkeit mahnten?
Das Erwachen aus wohligen Träumen ist immer bitter, nicht selten sogar erschreckend. Aber welche Konsequenzen werden nun aus der neuen, bitteren Realität gezogen von Menschen, die - ebenso wie ihre Eltern und teils auch ihre Großeltern – aufgewachsen sind in einer ganz anderen Normalität. In einer «Normalität», die sich nun ganz plötzlich als bloße Scheinnormalität erweist? Die nur erlebt haben, dass es vorwärts und wirtschaftlich stetig aufwärts geht? Denen immer mehr von der Welt offenstand – beruflich, touristisch, schulisch? Die sogar ein (im Sinne des Wortes) grenzenloses Europa mit einheitlicher Währung erfahren konnten? Menschen, denen allerdings mehr und mehr Verantwortung für das eigene Wohlergehen vom «sozialen Staat» abgenommen wurde? Die von diesem allerdings auch immer mehr Wohltaten und öffentliche Leistungen einforderten – «schließlich zahle ich ja auch genug Steuern!»
Zu dem – erneut entdeckten – Begriff «Hamstern» gehört eigentlich das Gegenstück «Verzicht». Noch ist in unserer Gesellschaft davon nicht viel zu hören. Noch ist – zum Glück – stattdessen die Spendenbereitschaft zugunsten der Opfer dieses unsäglichen Krieges in der Ukraine und der vielen schlimmen Dinge anderswo auf diesem Erdball groß. Aber die Boten und Künder magerer Zeiten sind ja schon da. Explodierende Preise für Gas, Öl und (entsprechend) Strom, existenzgefährdende Unterbrechungen von Lieferketten für industrielle Schlüsselbereiche, Pleiten bei an sich gut aufgestellten Unternehmen infolge des Doppelschlags von Corona und Krieg, drohende Arbeitslosigkeit… Zurzeit reagieren deutsche Öffentlichkeit und Politik nahezu unverändert mit jener Rhetorik, die sich in mehr als einem halben Jahrhundert eingeschliffen hat – der Staat müsse eingreifen, helfen, für Abhilfe sorgen.
Einschnitte ins soziale Netz
Wenn sich dieser Staat indessen – durchaus getragen von der Zustimmung der Gesellschaft – derartig abhängig gemacht hat von russischen Öl- und Gas-Lieferungen wie die Bundesrepublik Deutschland, dann kann er die dadurch entstandene Situation nicht von heute auf morgen ändern. Dann wird er, zum Beispiel, die mehr als drastisch angestiegenen Preise für Benzin und Diesel auch nur in begrenztem Maße abfedern können. Es sei denn, er würde tiefe Einschnitte ins soziale Netz vornehmen, der Schuldenaufnahme keine Grenzen setzen und/oder die so arg vernachlässigte nationale Verteidigungsfähigkeit (entgegen allen Festlegungen) weiterhin schludern lassen.
Man kann es drehen und wenden, wie man will – wir Deutsche werden künftig auf manche liebgewonnene Annehmlichkeit verzichten müssen. Und zwar auf eine nicht zu überblickende Zeit. Und wir alle werden wieder selber lernen müsse, was wirklich notwendig ist oder verzichtbar. Die Generation, die noch Not, gegenseitige Solidarität und Nachbarschaftshilfe kannte, steht für lebenskundige Lehren und Anleitungen nicht mehr zur Verfügung. Das aktuell erneute, wahllose Einlagern von Klo-Papier, Sonnenblumenöl und Zucker ist jedenfalls keine Antwort auf die Frage nach Fähigkeit und (mehr noch) Bereitschaft zum Verzicht. Die liebgewonnenen, mehrmaligen Wochenurlaube in Italien – die Spritpreise werden zur Sparsamkeit mahnen. Der Erwerb des jeweils neuesten Smartphones? Eher unwahrscheinlich, dass dies eine Selbstverständlichkeit bleibt. Möge hier jeder seine eigene Reihe fortsetzen.
Putins Krieg gegen die Ukraine ist schon für sich genommen eine Katastrophe. Aber das Geschehen dort wird das Zusammenleben und -wirken der Menschen und Staaten rund um den Erdball radikal verändern, Bundeskanzler Olaf Scholz hat von einer Zeitenwende gesprochen. Es steht zu befürchten, dass es eine Wende zurück ist. Wie weit, weiß heute niemand. Aber die Skala der Befürchtungen ist durchaus nach oben offen.