Am Nachmittag des 17. Oktober tötete eine israelische Infanterieeinheit mehrere Angehörige der Hamas-Milizen. Später wurde bestätigt: Auch der Chef der Hamas in Gaza, al-Sinwar, seit zwei Monaten Kopf der Organisation, starb bei diesem Angriff.
Nach dem Gefecht der Israelis mit den Hamas-Milizen fanden die Soldaten in den Trümmern des Hauses den Leichnam, der grosse Ähnlichkeiten mit Jahja al-Sinwar, dem Chef des Politbüros der Hamas, aufwies. Der Leichnam wurde nach Israel gebracht und einer ersten Obduktion unterzogen. Sie bestätigte die Vermutungen, dass es sich um al-Sinwar handelte. Ein hochrangiger Vertreter der palästinensischen Autonomiebehörde bestätigte dessen Tod. Ob sich auch israelische Geiseln in oder unter dem Haus aufgehalten haben, wurde bislang nicht erwähnt.
Damit ist fast die gesamte alte Führungsriege der Hamas in Gaza, die massgeblich den terroristischen Überfall auf Südisrael am 7. Oktober geplant und angeordnet hatte, nicht mehr am Leben. Was dies für die verbliebenen bewaffneten Verbände in Gaza sowie die auf ihre Auslandsvertretung reduzierte Hamas bedeutet, lässt sich zurzeit nicht sagen. In der Propaganda der Organisation werden Durchhalte- und Racheparolen verbreitet, und auch der Hisbollah äussert sich zunächst militant. Fraglich ist, ob es den verbliebenen Kadern der Hamas in Gaza gelingen wird, eine neue Führungsfigur aufzubauen und zu präsentieren. In mit Gaza verknüpften Kanälen der sozialen Medien mehren sich die Stimmen, die nun ein Ende der Kämpfe einfordern.
Ein Blick zurück
Am Abend des 6. August veröffentlichte die Hamas in Doha eine Erklärung, wonach der Hamas-Chef in Gaza, Jahja al-Sinwar, zum Vorsitzenden des Politbüros der Organisation gewählt worden sei. Wie er dieses Amt von Gaza aus ausfüllen will und kann, wurde nicht erwähnt. Der 62-jährige al-Sinwar, genannt Abu Ibrahim, stammt aus Khan Yunis im Gazastreifen und gilt als puritanisch-asketischer Eiferer und militanter Verfechter eines religiösen Ultranationalismus. Er agiert offen als Gegenspieler des sechs Jahre älteren Khalid Masch‘al aus dem Westjordanland, der von 1996 bis 2017 das Politbüro der Hamas leitete.
Die Wahl des «Kommandanten» aus Gaza zeigte, dass die Führungskader der Hamas ihre Organisation ganz der ideologischen Linie al-Sinwars unterordnen wollten. Die Umsetzung des mittlerweile zwölften Abkommens mit der PLO über die Umwandlung des Verbandes in eine politische Organisation innerhalb der PLO war damit in weite Ferne gerückt.
Die Einsetzung von Jahja al-Sinwar als Chef des Hamas-Politbüros offenbarte eine radikale Machtverschiebung innerhalb der Organisation: Erstens fand eine Zentralisierung der bisher diffusen internen Machthierarchie statt, zweitens wurde die militärische Ausrichtung einer politischen Strategie vorangestellt, drittens wurde das Machtzentrum in Gestalt al-Sinwars als «Führer der Hamas» weiter personalisiert, viertens verloren die Exilgruppen in Kairo, Beirut, Istanbul und Doha ihre politische Schlüsselstellung, fünftens wurde die Hamas politisch, militärisch und strategisch iranischen Interessen unterworfen, sechstens zeichnete sich ein Zusammengehen mit dem vom Iran unterstützten Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) ab, siebtens wurden neue Hamas-Formationen in der Westbank aufgebaut, achtens übernahm der Iran faktisch eine Art Vormundschaft, sollte al-Sinwar nicht entscheidungsfähig sein.
Längerfristig, so die Befürchtung, würde sich die Hamas den ideologischen Staatszielen Irans unterordnen und einem «Iranisierungsprozess» ähnlich dem in Jemen mit den Ansarullah (Huthi) unterliegen. Dies rief abstruse arabische Verschwörungstheorien auf den Plan, wonach der Iran hinter der gezielten Tötung von Ismail Hanija stecke.
Ein Sicherheitschef an der Macht
Al-Sinwars Rolle in der Hamas war nie die eines Predigers oder politischen Aktivisten. Bereits vor seiner Verurteilung durch ein israelisches Militärgericht im Jahr 1989, nur zwei Jahre nach der offiziellen Gründung der Hamas, agierte er als Sicherheits- und Geheimdienstchef der Organisation und baute den berüchtigten Sicherheits- und Propagandaapparat («Majd») auf, der für die Verfolgung und Ermordung von «Kollaborateuren» verantwortlich war.
Al-Sinwar verbrachte 22 Jahre wegen Mordes an vier Palästinensern in einem israelischen Gefängnis und kam erst 2011 im Rahmen des Gefangenenaustausches gegen die Freilassung des Soldaten Gilad Shalit frei. Er und sein jüngerer Bruder Muhammad machten daraufhin Karriere im Generalstab der al-Qassam-Einheiten der Hamas. Während des ersten politischen Erneuerungsprozesses der Hamas im Jahr 2017 wurde al-Sinwar zum Leiter des politischen Büros der Hamas in Gaza ernannt, während sein Bruder Stellvertreter des Militärchefs Muhammad al-Deif wurde.
Iranisierung
Al-Sinwar war einer der Architekten der Hinwendung zum Iran, die die ideologische Bindung der Hamas an die Muslimbruderschaft lockerte. Diese Hinwendung zeichnete sich bereits 2015 zeitgleich mit dem Beginn der russischen Intervention in Syrien ab und führte 2017 zur Absetzung von Masch’al, der sich als Verwalter des Erbes der Muslimbruderschaft verstand. Dieser Iranisierungsprozess erreichte nun einen neuen Höhepunkt. Ob al-Sinwar auch inhaltliche Eckpunkte der iranischen Staatsideologie übernimmt, war allerdings noch offen. Anders als für die Huthis in Jemen war die Anpassung an die messianisch-schiitischen Weltbilder der islamischen Ordnung im Iran für die sunnitisch geprägte Hamas schwierig.
Dieser «Iranismus», wie es interne Gegner von al-Sinwar nannten, dürfte mit dessen Tod zunächst zum Erliegen kommen. Absehbar ist, dass die Hamas nun versuchen wird, ihre bislang eher schwachen Bastionen im Westjordanland auszubauen. Dort allerdings konkurriert sie mit bewaffneten Formationen des Palästinensischen Islamischen Dschihad, der vor allem im Norden seine dezentralen Machtpositionen ausbauen konnte. Für die Hamas in Gaza wird es hingegen schwer sein, als Formation unter einem einheitlichen Kommando fortzubestehen. Zwar dürften die verbliebenen Kader für den stets erwarteten Fall, dass al-Sinwar getötet wird, Vorsorge getroffen haben, doch dürfte dies angesichts der übermächtigen israelischen Truppen kaum noch einen Effekt haben.