Ein wohl einmaliger Vorgang. Der deutsch-französische Kultursender Arte hatte zusammen mit dem Westdeutschen Rundfunk Köln (WDR) einen Film über den wachsenden Antisemitismus in Europa in Auftrag gegeben. Ein ausserordentlich löbliches Unterfangen. Jedoch: als der Film fertig war, sahen die Redakteure unter dem Titel „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ ein Machwerk, das dem ursprünglichen Auftrag in keiner Weise entsprach und so viele handwerkliche und inhaltliche Mängel aufwies, dass sich zunächst der französische Fernsehdirektor Alain Le Diberder von Arte und danach auch der WDR gezwungen sahen, den Film nicht zu senden.
Bildzeitung in der Bresche
Doch in der Welt der so genannten sozialen Medien und der Boulevardpresse können Redaktionen, insbesondere öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, offensichtlich nicht mehr souverän entscheiden, ob ein journalistischer Beitrag wegen erheblicher Mängel nicht ins Programm kommt. Denn zunächst beklagte der deutsche Historiker Götz Aly in einem Beitrag der Berliner Zeitung vom 2. Mai 2017 die Tatsache, dass der Film nicht ausgestrahlt werden solle. Dann kam der Streifen auf wundersame Weise auf die Website der Hamburger „Bildzeitung“ und stand dort einige Zeit zur Ansicht frei.
Nun war die Sache endgültig an der breiten Öffentlichkeit, der Druck auf Arte und den WDR wuchs. Der Streifen wurde dann am gestrigen Mittwochabend um 22.15 Uhr im Gesamtprogramm der ARD und später auf Arte gesendet. Anschliessend gab es eine Diskussion unter Leitung der Moderatorin Sandra Maischberger.
Absichtsvolle Verwirrung der Begriffe
Zunächst zum Verhalten von Arte und WDR. Bisher war es üblich – und so sollte es auch in Zukunft sein –, dass Redaktionen einen Beitrag dann nicht senden, wenn dieser offensichtliche journalistische Mängel aufweist. Ein solches Vorgehen hat nichts mit Zensur zu tun, sondern mit Respekt vor dem Zuschauer, der Anspruch darauf hat – besonders bei öffentlich-rechtlichen Sendern –, dass er gut recherchierte Dokumentationen zu sehen bekommt.
Merke: Zensur kann nur ein Staat oder eine staatliche Behörde ausüben, nicht aber eine Redaktion. Natürlich gibt es die berühmte „Schere im Kopf“, die dann zuschnappt, wenn Redakteure für den Fall der Aussendung eines Beitrages Proteste von Interessenverbänden oder politischen Parteien fürchten. Eine solche Situation lag aber im Falle der Arte/WDR-Dokumentation kaum vor.
Auch hatte die ursprüngliche Ablehnung des Films nichts mit Unterdrückung von Meinungen zu tun. Antisemitismus und Rassismus sind stets und in jeglicher Form zu verurteilen. Nur: auch ein Film, der sich dieses Themas annimmt, muss journalistischen Standards entsprechen. Schlichte Tatsache ist: Arte und WDR wurden von nicht befugter Seite genötigt, einen Film auszustrahlen, der journalistischen Standards nicht entsprach. Eine sehr bedenkliche Entwicklung.
So kam es zu einer wundersamen, wohl einmaligen Situation. Arte und ARD sendeten einen Film, in den die Redaktionen immer wieder Korrekturen oder Stellungnahmen einblendeten – etwa eine Passage, in der mitgeteilt wurde, dass die von den Autoren kritisierten Personen leider nicht um eine Stellungnahme gebeten wurden. Zudem sah der Zuschauer am unteren Bildrand fast ständig eine Laufschrift mit dem Hinweis, dass es weitere Informationen und Klarstellungen unter www.doku-faktencheck.wdr.de gebe. Dort stellten WDR und Arte insgesamt 32 Korrekturen und eigene Stellungnahmen ins Netz.
Wirr und einseitig
Zum Film. Bestellt war ein Beitrag über Antisemitismus in Europa. Herausgekommen aber ist ein eher wirrer Beitrag über Antisemitismus in der muslimischen Welt, in weiten Teilen gedreht in Israel und den palästinensischen Gebieten. Auch ein solcher Film hätte seine Verdienste, wenn, ja wenn man darin auch den beständigen völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungsbau, die Diskriminierung der Palästinenser an den Dutzenden von Israel errichteten Checkpoints im Westjordanland und die Behinderung der Reisefreiheit der Palästinenser gezeigt hätte.
Denn die seit 50 Jahren andauende Besatzung des palästinensischen Gebietes durch Israel ist eine der Hauptursachen für den neuen Antisemitismus in der arabischen Welt. Auch hätte es sich in diesem Fall angeboten, die grosse jüdische Philosophin Hannah Arendt zu zitieren. Diese hatte sich nach 1945 durchaus für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina ausgesprochen, hatte aber angemahnt, man müsse mit den Palästinensern zu einer friedlichen Übereinkunft kommen, andernfalls sich der neue jüdische Staat stets in einer „Wagenburgmentalität“ befinden werde.
Ausführlich – und vollkommen unkritisch – wird in dem Film der ehemalige israelische Generalstabschef Rafael Eitan vorgestellt, der unwidersprochen behauptet, im Grunde habe es im israelisch-arabischen Krieg von 1948/49 keine Vertreibung der Palästinenser gegeben. Unerwähnt bleiben etwa die israelischen Historiker Benny Morris und Ilan Pappe, die ganz klar die Vertreibung von Hunderttausenden von Palästinensern dokumentiert haben. Ilan Pappe etwa hat ein auch auf deutsch aufgelegtes Buch unter dem Titel „Die ethnische Säuberung Palästinas“ geschrieben.
So wurde der Film, der Antisemitismus in Europa darstellen sollte, zu einem antipalästinensischen Beitrag, in welchem, ohne die Ursachen zu nennen, der neue muslimische Antisemitismus erörtert wurde.
Verteidiger verschweigt Mitwirkung am Film
Schliesslich die Diskussion unter Leitung von Sandra Maischberger. Zunächst gab es ein Rededuell zwischen WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn und dem Historiker Michael Wolffsohn. Dieser fand den Film absolut hervorragend, teilte aber nicht mit, dass er persönlich als Berater an dem Film mitgewirkt hatte. Schönenborn verteidigte zu Recht die journalistischen Standards, die ein öffentlich-rechtlicher Sender im Interesse der Zuschauer anzulegen habe und die der Film nicht erfüllt habe.
Wolffsohn, häufiger Gast in deutschen Talkshows (gibt es denn niemand anderen?) hatte zweimal nichts weiter mitzuteilen, als sich ziemlich süffisant bei Schönenborn für die ungewollte Publicity zu bedanken, welche die ursprüngliche Ablehnung des Beitrages erzeugt habe. Schönenborn war mutig genug, sich dieser Diskussion zu stellen – wo er doch eigentlich zunächst nur dem WDR-Fernsehrat Rechenschaft hätte geben müssen. Es war schon ein einmaliges Schauspiel, dass sich ein renommierter Fernsehmann dem Versuch ausgesetzt sah, sich von einem Historiker wie Wolffsohn vorführen zu lassen, der einst die Androhung von Folter befürwortet hat, um islamistische Terrorverdächtige zum Reden zu bringen.
Israelkritik ist nicht Antisemitismus
Die anderen Vertreter der Maischberger-Runde – Rolf Verleger, ehemaliges Mitglied des Zentralrates der Juden, Gemma Pörzgen, ehemalige Nahostkorrespondentin, Norbert Blüm, ehemaliger bundesdeutscher Arbeitsminister und häufiger Israelkritiker, sowie Ahmed Mansour, arabischer Israeli, Psychologe und Autor, konnten sich auf eine wesentliche Frage nicht einigen. Verleger, Blüm und Pörzgen machten deutlich, dass weder Kritik an Israel noch eine gewisse Art des Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen seien. Michael Wolffsohn dagegen mischte mehr oder weniger alles in einen Topf, beschwerte sich generell über ARD und Arte und monierte, dass zwar Israel ständig kritisiert werde, Menschenrechtsverletzungen in Zentralafrika aber kaum Erwähnung fänden. Nur: die deutsche Bundesregierung hat Israels Sicherheit zur Staatsraison erklärt, nicht aber die Sicherheit der Staaten Zentralafrikas.
Fazit: zumindest gelegentlich sollte man dem journalistischen Sachverstand öffentlich-rechtlich arbeitender Redakteure glauben und es ihnen abnehmen, wenn sie einen Film für nicht ausstrahlungswürdig erachten. Der Beitrag „Ausgewählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ war in der vorliegenden Form nicht sendefähig. So muss man leider konstatieren: schade um die Produktionskosten, schade um den Abend, besonders aber schade um die vertane Chance.