Der junge Mann sitzt auf einer Terrasse mit seiner Freundin. Er schreibt in ein Notizheft. Seine französische Begleiterin liest ein Buch von Graham Greene. Am Strand tummeln sich Kinder; sie baden und singen. Das Wasser ist türkisblau. Der Hüttenbesitzer bringt Coca-Cola mit Rum. Oder besser: Rum mit Coca-Cola.
Der Franzose schwärmt weiter: „Sehen sie diese Farben, diese Stimmungen, der Himmel ist wie Musik, liebenswürdigere Leute gibt es nirgends, schauen sie die Schmetterlinge, gross wie Dollar-Noten. Und Vögel mit zwanzig verschiedenen Farben. Die Früchte, warm und duftend wie ein Frauenkörper. Und überall Musik…“
Schon 500 Jahre zuvor bezeichnete ein anderer Haiti als Paradies. Am 15. Dezember 1492 ging Kolumbus im heutigen Haiti an Land und war fasziniert. Er nannte das Tal, in das er gelangte „Tal des Paradieses“. „Alle Bäume sind grün, voller Früchte, überall blühen Blumen. Nichts ist so anmutig auf der Welt“. Was er denn in sein Notizbuch schreibe, möchte ich von dem jungen Franzosen wissen. „Ich schreibe einen Roman. Er spielt auf Haiti im 18. Jahrhundert“. Damals regierten dort die Franzosen. Und wie soll der Roman heissen? „Haiti mon amour“.
Nicht im 18., sondern im 20. Jahrhundert spielt der Roman, den seine Freundin liest: Graham Greenes „Stunde der Komödianten“. Er beschreibt die Diktatur des Duvalier-Clans, der das Land in den Ruin ritt. Nix amour.
Ruth Dreifuss und der Hoffnungsträger
Lange, sehr lange ist es her, seit ich den jungen Franzosen und seine Freundin in Haiti getroffen habe, dort am malerischen Strand in der Nähe des Städtchens Jacmel. Ob sein Roman je erschienen ist, weiss ich nicht. Seine Worte blieben mir: „Bienvenu au paradis“.
Szenenwechsel. Vor gut zwanzig Jahren stehe ich mit einem Kamerateam in der riesigen Réceptions-Halle des Genfer Hotels Intercontinental. Wir warten. Da kommt eine Frau und führt uns in eines der oberen Stockwerke des Nobelhotels. Die Frau heisst Ruth Dreifuss und ist noch nicht Bundesrätin. Sie geleitet uns in eine Suite, in der Jean-Bertrand Aristide uns ein Interview geben wird. Aristide, der Armenpriester, gilt als riesiger Hoffnungsträger für ein kaputtes Land - und Ruth Dreifuss erledigt in Genf die Medienarbeit für ihn.
Das Tagesschau-Interview bringt das Übliche: Aristide, noch nicht Präsident, verspricht Kampf gegen Armut und Korruption. Er plädiert für eine gerechte Landverteilung, die Förderung von Kleinindustrie und Tourismus - und eine Schulreform.
Der aufgerissene Rachen des Teufels
Nach dem Interview – die Kamera war schon eingepackt – sitzen wir noch beisammen. Da sagt Aristide mir Dinge, die er nicht in die Kamera sagen wollte. „Haiti ist ein Paradies. Aber auch der Teufel wohnt auf der Insel - weil es so schön dort ist“. Er lacht herzhaft.
„Haiti ist besessen vom Teufel, wir müssen ihn austreiben“. Dann: „Betrachten sie nur die geografische Form von Haiti; das Land wirkt wie ein aufgerissener Rachen des Teufels. Er will uns alle schlucken“.
Tatsächlich: Im Paradies regiert der Teufel – und das seit Jahrhunderten. Zunächst, kurz nach der Entdeckung durch Kolumbus, wird die Urbevölkerung, die friedliebenden Arawaks, ausgerottet. Besiedelt wird dann die Insel von afrikanischen Sklaven, die auf Zuckerrohrplantagen schuften. 1697 tritt Spanien Haiti an Frankreich ab.
Von Menschenhand ruiniert
Am 1. Januar 1804, erklärt Haiti seine Unabhängigkeit von Frankreich. Eine Sklavenrevolte ist es, die Haiti die Unabhängigkeit bringt. Die Sklaverei wird hier ein halbes Jahrhundert früher abgeschafft als in den USA. Haiti ist die erste unabhängige schwarze Republik der Welt.
Doch Paris lässt sich das bezahlen. Haiti muss Frankreich für seine Unabhängigkeit 150 Millionen Francs in Gold bezahlen. Eine unsinnige Summe damals. Diese Schuld, die erst 1884 gestrichen wird, verhindert während eines Jahrhunderts die Möglichkeit jeder Entwicklung.
Die Kolonialzeit ist hier nicht so schrecklich wie anderswo. Das Land erlebt eine kleine Blüte. Doch auf den kolonialen Ruinen macht sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine ausbeuterische Oberschicht breit. Eine Ewigkeit lang leidet das Land unter Staatsplünderern. Im 20. Jahrhundert wird Haiti dann endgültig von Menschenhand ruiniert. 1915 bis 1934 wird das Land von den Amerikanern besetzt; sie tun wenig für seine Entwicklung.
Die Duvaliers, lange Zeit von den USA gehätschelt, gehören zur miesesten Diktatoren-Bande Lateinamerikas. Vater und Sohn, Papa und Baby Doc, saugen dreissig Jahre lang das Land aus. In die soziale, wirtschaftliche und landwirtschaftliche Entwicklung wird nichts investiert. Drei Millionen Haitianer wandern aus.
Baby Doc, der feiste Sohn des verstorbenen Diktators, wird mit 19 Jahren Präsident; 1986 muss er nach Frankreich flüchten. 1989 kommt dann Jean-Bertrand Aristide – und mit ihm eine riesige Hoffnung. Zwei Jahre später wird er von General Cédras weggeputscht. Über die Insel wird ein dreijähriges Embargo verhängt.
Dieses schadet Cédras weniger als der verarmten Bevölkerung. Was nicht ruiniert war, wird jetzt ruiniert. Cédras verwandelt den Staat in eine Mafia-Hochburg. 1994 fegen die Amerikaner Cédras mit einer Militärinvasion weg.
Aristide kommt zurück und mit ihm die Hoffnung. Doch der Mafia-Staat hat sich schon installiert. Korruption ist alltäglich. Um seinen Gegnern Herr zu werden, greift Aristide zu Mitteln, die wenig lobenswert sind. Er selbst soll gewalttägige Banden gegen seine Gegner hetzen. Wieder finden Wahlen statt. Aristide wird mit 94 Prozent wiedergewählt. Beobachter sprechen von Wahlfälschungen. Aristide, der immer mehr zum Despoten wird, kämpft mit Gewalt ums politische Überleben.
Ein Flecken Afrika in der Karibik
Er, der vom Rachen des Teufels sprach, wird nun selbst geschluckt. Die hohen Erwartungen in ihn kann er nicht erfüllen. Das korrupte Regime und die Misswirtschaft bleiben bestehen. Aufstände treiben das Land ins Chaos. Jetzt lebt er verbittert im südafrikanischen Exil.
Zwar gehört Haiti zu Lateinamerika, doch ist es ein lateinamerikanisches Land? Kulturell sicher nicht. Die Haitianer haben ihre Wurzeln in Afrika, sie haben eine andere Kultur, viele einen andern Glauben; Voodoo-Rituale sind noch überall präsent. Die Haitianer sprechen Kreolisch und nicht Spanisch oder Englisch. Französisch ist eine Amtssprache, doch das einfache Volk spricht kaum Französisch. Haiti - ein Flecken Afrika in der Karibik.
Die Zahlen sind erschreckend: 70 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Die Hälfte der Menschen sind Analphabeten, 40 Prozent der Kinder sind unterernährt, die Arbeitslosigkeit liegt bei über 50 Prozent. Slums haben sich in die Hauptstadt eingefressen. Nackte Kinder spielen im Müll neben Schweinen und Ratten. Ein Gesundheitswesen gibt es in weiten Gebieten nicht. Die Lebenserwartung liegt bei 50 Jahren.
Immer wieder zerstören Zyklone das Land. Asphaltierte Strassen gibt es nur wenige. Die Hügel rutschen, weil sie abgeholzt wurden. Die meisten riesigen Mangobäume, die bis zu 30 Meter hoch werden, wurden gefällt, um Brennholz zu gewinnen. Der Regenwald ist fast zerstört; wegen der Erosion sind weite Landwirtschaftsflächen unfruchtbar. Früher war Haiti ein Kaffee-Exportland; wer kennt schon heute den haitianischen Kaffee?
Wer hungert hat nichts zu verlieren
In kaum einem lateinamerikanischen Land – Guatemala und Kolumbien vielleicht ausgenommen – gibt es so viel Gewalt wie hier. Plünderungen, Morde, Schiessereien, Einschüchterung: Junge bewaffnete Banden wüten. Doch nicht nur sie: Wer nichts hat ausser Hunger, hat auch nichts zu verlieren: Überfälle sind an der Tagesordnung. Und die gebildete Schicht: Ohne Korruption kriegt sie keine Stelle. Haiti ist auch zu einer Drehscheibe für den Drogenhandel geworden. Überall auch Prostitution. Ausländer sind eine bevorzugte Beute junger Frauen und Mädchen. Bezahlt der Fremde, kann die Familie wieder zwei Wochen überleben.
Trotz Gewalt und Elend: Ein grosser Teil der Bevölkerung gehört zu den liebenswürdigsten Menschen dieser Erde. Sie haben die Warmherzigkeit und Fröhlichkeit der Afrikaner und die Gastfreundschaft, die Leichtigkeit des Seins und die Leidenschaft der Karibik-Leute. Wer in Not ist, dem helfen sie. Ich habe nie einen griesgrämigen Haitianer getroffen.
Touristen kommen kaum in dieses Land mit seinen herrlichen Naturschönheiten und schneeweissen Stränden. Einige besuchen die pompöse Zitadelle von Henri Christophe, dem ersten König Haitis (der sich mit einer silbernen Kugel erschoss). Sie kommen mit Bussen aus der nahen Dominikanischen Republik. Oft wissen sie gar nicht, dass sie in Haiti sind. Auch die amerikanischen und europäischen Touristen, die am Traumstrand von Labadie mit Kreuzschiffen anlegen, wissen meist nicht, wo sie sind. Sie baden, tauchen und essen einige Stunden lang – und weg sind sie.
Pierre S., einer Genfer Journalist, erzählte mir einst diese absurde Geschichte: Er sass im Flugzeug nach Haiti. Mit ihm eine Gruppe Deutschschweizer Touristen, fröhlich und laut. Sie freuten sich auf Ferien an den Stränden von Tahiti. Als sie erfuhren, dass Haiti nicht Tahiti ist, erschraken sie. Sie schlossen sich eine Woche lang im Hotel ein – und jassten.
Das Paradies zerhackt
Heute regiert in Haiti René Préval – ein einst ehrenwerter Mann. Dank seiner pragmatischen Art ist es ihm gelungen, eine minimale Entwicklung einzuleiten. Und es ging etwas aufwärts: die Exporte nahmen zu, das Wachstum stieg. Auch Hilfsorganisationen leisten auf der Insel zum Teil hervorragende Arbeit. Heute ist Préval im Volk sehr unbeliebt.
Und am 12. Januar dies: 7,0 auf der Richterskala: das schlimmste Erdbeben, das in Nord- und Lateinamerika je stattgefunden hat. „Wieder hat der Teufel zugeschlagen“, würde jetzt vielleicht Jean-Bertrand Aristide sagen. Alles, was der Teufel hier bisher tat, war nur ein Vorgeplänkel. Anfang Jahr hat er alles daran gesetzt, hat Anlauf genommen und hat mit dem Schwert das Paradies zerhackt.
Doch nicht genug. Einige Monate später kamen die Cholera und der Wirbelsturm Thomas. Noch nie stand das Elend dieses Landes so sehr in den Schlagzeilen wie jetzt. Noch nie war so offensichtlich, wie kaputt dieses Land ist. Gerade deshalb schöpfen einige Optimisten jetzt Hoffnung. Denn vielleicht führen die internationalen Schlagzeilen jetzt dazu, dass die weltweite Betroffenheit so gross ist, dass dem teuflischen Paradies endlich auf die Beine geholfen wird.
Wer hilft schon dem Teufel
Doch es fällt schwer, in Haiti optimistisch zu sein. Eine internationale Geberkonferenz hat zwar schon im Frühjahr eine 10 Milliarden-Dollar-Hilfe beschlossen. Doch nur wenig dieser Hilfe ist wirklich eingetroffen. Auch jetzt, nach Ausbruch der Cholera, wird viel versprochen und wenig geholfen. Wer hilft schon dem Teufel.
Und jetzt also finden auch noch Wahlen statt. Doch das kümmert die Haitianer wenig. Sie sind realistisch genug, von keinem der Kandidaten Wunder zu erwarten. Was sie im Moment mehr beschäftigt, ist die Frage: Woher kommt die Cholera. Da wüten die wildesten Gerüchte. Die nepalesische UNO-Schutztruppe habe sie eingeschleppt, denn der Bazillus stamme aus Südasien. Andere behaupten, eine Firma, die für die Reinigung der Latrinen in der Stadt Mirebalais zuständig war, sei vier Monate lang nicht bezahlt worden. Deshalb seien die Latrinen übergelaufen und die Flüsse verschmutzt worden.
Man wird wohl nie herausfinden, woher die Cholera kam. Sicher ist für die Haitianer nur eins: Sie kommt vom Teufel. Wenn der Teufel ein Synonym von Armut ist, haben sie Recht.
P.S. Die Hauptstadt von Haiti heisst Port-au-Prince. Entgegen allen französischen Ausspracheregeln spricht man Poor-o-Prince aus; das Bindungs-t entfällt. Ausser in Frankreich und Haiti spricht das kaum jemand korrekt aus.