Der selbsternannte „Feldmarschall“ Khalifa Haftar, der in Libyen die sogenannte „Libysche Nationale Armee“ kommandiert, befindet sich in Kairo und verhandelt dort mit Fayez Sarraj, dem Chef der ebenfalls sogenannten „Einheitsregierung“ Libyens.
Die „Libysche Nationale Armee“ ist eine von Haftar im Zeichen der Feindschaft gegen die Islamisten geschmiedete Grossmiliz, die den östlichen Teil Libyens zu beherrschen sucht, aber seit zwei Jahren gegen die dortigen islamistischen Gruppen kämpft, ohne sie bisher ganz überwältigt zu haben. Die „Nationale Einheitsregierung“ ist von der Uno lanciert und von den Aussenmächten beinahe als die legale Regierung Libyens anerkannt, aber nicht ganz, weil es in Tobruk, im äussersten Osten Libyens noch ein Parlament gibt, das bisher als legitim galt und seine „Souverainität“ nicht aufgeben will. Dieses Parlament wird von Haftar gestützt.
Die „Einheitsregierung“ ist auch deshalb keine Regierung, weil es ihr nicht gelungen ist, das Land in den Griff zu bekommen – nicht einmal die westlichen Teile von Libyen. Dort gibt es inzwischen kein Geld in den Banken und bestenfalls für einige Stunden am Tag Elektrizität. Das Erdölgeschäft in Tripolitanien ist mindestens teilweise in die Hände der italienischen Mafia geraten.
Ägypten sucht Kompromiss
Die Regierung von Ägypten hat ein starkes Interesse daran, dass Libyen wieder ein funktionierender Staat werde. Das würde ihre lange und weitgehend offene Wüstengrenze zum Nachbarland absichern, und die ägyptischen Gastarbeiter könnten nach Libyen zurückkehren. Zu Zeiten Gaddafis arbeiteten gegen zwei Millionen Ägypter in Libyen. Sie sandten jährlich geschätzte 330 Millionen Dollar an ihre Familien im Niltal.
Kairo steht gut mit Haftar. Die ägyptische Diplomatie versucht eine Zusammenarbeit zwischen Fayez Sarraj und Haftar zustande zu bringen. Bisher waren sie Feinde. In Libyen steht Haftar im Verdacht, er wolle sich zum nächsten Militärdiktator des Landes aufschwingen, gewissermassen in Nachfolge Gaddafis, dessen Armeechef er einmal war, bevor er sich 1987 mit Gaddhafi entzweite und als dessen Gegner mit der CIA zusammenarbeitete. 1996 versuchte Haftar vergeblich, Gaddafi zu stürzen.
Heimliche Agenda des Feldmarschalls?
Dies sind alte Geschichten, doch in Libyen sind sie noch nicht vergessen. Haftar selbst fördert den Diktaturverdacht, weil er darauf besteht, Oberkommandant der künftigen Libyschen Streitkräfte zu werden, aber nicht bereit scheint, sich einem zivilen Verteidigungsminister oder Staatspräsidenten unterzuordnen. Gegenüber dem Parlament von Tobruk nimmt er eine derartige Stellung ein. Er beherrscht „sein“ Parlament und „seine“ Regierung – und er findet, das solle so sein.
Sarraj konnte anfänglich, als er Ende März 2016 mit Hilfe der Uno in Tripolis landete, als Gegengewicht zu Haftar und seinem Parlament in Tripolis, auf die Hilfe der gewichtigsten Milizenführer Tripolitaniens setzen. Besonders die potenten Milizen der Stadt Misrata neigten ihm zu – aber unterstellten sich nicht voll seiner Oberherrschaft. Doch ein knappes Jahr der administrativen Misserfolge hat dazu geführt, dass Sarraj das Wohlwollen dieser Milizen allmählich verloren hat.
Es war ihm zwar gelungen, in der Stadt Sirte nach grossen Verlusten einen schliesslich erfolgreichen Krieg gegen den IS zu führen. Doch die Kosten für diesen Teilsieg waren hoch – in erster Linie für die Milizen von Misrata, welche die Hauptlast der Kämpfe und der Verluste zu tragen hatten. Der IS wich schlussendlich aus in die Weiten der Sahara und in den dritten Landesteil Libyens, den Fezzan.
Waffenembargo der Uno
Heute ist klar, dass der Versuch der Uno, Sarraj und seine Einheitsregierung über ganz Libyen zur Macht zu bringen, gescheitert ist. Doch Sarraj verfügt noch über einen letzten diplomatischen Machthebel. Die Uno und die westlichen Staatenwelt haben ihm zugesagt, dass sie ihn und seine Regierung als die einzigen legalen Vertreter Libyens betrachten würden, sobald das Parlament von Tobruk die Souveränität auf die Einheitsregierung übertrage. (Was dieses Parlament unter dem Einfluss Haftars jedoch verweigert hat.)
Die Anerkennung der Uno und der Aussenwelt ist unter anderem deswegen von grossem Gewicht, weil ein Waffenembargo des Sicherheitsrates für Libyen besteht. Dieses kann aufgehoben werden, wenn eine funktionierende und international anerkannte Regierung zustande kommt.
Haftar ist überzeugt, dass seine militärischen Schwächen gegenüber den Islamisten in der Cyrenaika, in Orten wie Benghazi und Derna sowie im gewaltigen Wüstenhinterland, wo der IS sich nach seinem Verlust der Stadt Sirte nun ausbreitet, nur darauf zurückgehen, dass er nicht über die notwendigen Waffen verfügt. Wenn er seine „Nationale Libysche Armee“ mit modernen und schweren Waffen aufrüsten könnte, so glaubt er, könnte sie leicht zur wirklichen libyschen Armee werden, die das ganze Land beherrschen würde und Libyen die nötige Ruhe brächte.
Frieden in weiter Ferne
Ob Frieden einkehren würde, wenn Haftar die verlangten Waffen bekäme, weiss niemand wirklich zu sagen. Haftar müsste mit verzweifeltem Widerstand nicht nur von Seiten der Islamisten und Jihadisten rechnen, die seine erklärten Feinde und Gegner sind, sondern auch von all jenen Machthabern, die heute in Libyen bewaffnet sind und nicht darauf verzichten wollen, die Macht über ihre grossen und kleinen Milizen abzugeben. Wahrscheinlich stünde Haftar ein langwieriger Kampf bevor, vielleicht ein voller libyscher Bürgerkrieg.
In Kairo geht es nun darum, ob Sarraj und Haftar mit ägyptischer Hilfe einen Kompromiss finden, mit dem sie zusammenarbeiten können, statt sich zu bekriegen. Die Schwierigkeit dabei ist, dass beide Verhandlungspartner darauf ausgehen, für sich selbst die höchste Autorität in Anspruch zu nehmen. Haftar auf Grund seiner militärischen und politischen Position in der Cyrenaika, Sarraj auf Grund seiner – ihm zugesagten – Unterstützung durch die Uno und die westlichen Staaten.
Kommen russische Waffen ins Spiel?
Russland spielt bei den Verhandlungen nicht direkt, aber indirekt mit. Dies, weil Haftar sich mit Moskau verständigt hat. Er hat gute Kontakte mit der Regierung Putins aufgebaut, Russland mehrmals besucht und mit den Russen einen Milliardenvertrag über Waffenlieferungen ausgehandelt. Der Vertrag scheint unter Dach, nur dass die Russen sagen, vorläufig müssten und wollten sie sich an das Uno-Embargo halten. Die Waffen kämen, sobald dieses Embargo aufgehoben werde.
Das Embargo würde wahrscheinlich aufgehoben, wenn Haftar sich Sarraj unterstellte und von ihm zum Oberkommandanten der künftigen libyschen Armee bestimmt würde. Ungewiss ist jedoch, ob die tripolitanischen Milizen einer solchen Ernennung durch Sarraj zustimmen würden. Widerstand gäbe es ohne Zweifel, wieviel bliebe abzuwarten.
Für Moskau stellt sich die Frage: Soll Russland ganz auf Haftar setzen und das Risiko ignorieren, dass es dadurch zu einem vollen und international vernetzten libyschen Bürgerkrieg kommen könnte? Wenn ja, müsste Russland Haftar die erhofften Waffen – auf Kredit – verkaufen. Es gibt sogar schon einen quasi-legalen Trick, wie dies trotz dem Embargo getan werden könnte. Algerien ist russisch bewaffnet und hat ein Interesse daran, dass in Libyen Ruhe und Ordnung geschaffen werden. Könnte Algerien einige seiner russischen Waffen an Haftar abtreten und dafür neue aus Russland beziehen? Auch darüber wurde bereits in Algier verhandelt. Doch Entscheidungen liegen offenbar noch nicht vor.
Russische Expansion nach Libyen?
Moskaus Entscheidung betreffend Libyen unterliegt grosser Ungewissheit hinsichtlich der Einschätzung der militärischen Fähigkeiten und der Aussichten Haftars. Die Möglichkeit, in Libyen eine führende Rolle als Macht hinter der Regentschaft Haftars zu übernehmen, parallel zur führenden Rolle in Syrien als Macht hinter Asad, ist für Moskau gewiss eine Versuchung. Doch falls der heute 78-jährige Haftar nur eine Kraft in einem libyschen Bürgerkrieg wird, ohne sich in Tripolitanien einwandfrei durchsetzen zu können, brächte dies für Moskau ein zweites Syrien hervor. Russland sähe sich auch in Libyen in einen Bürgerkrieg verwickelt, dessen Ausgang es, wenn überhaupt, nur mit einem eigenen militärischen Engagement zu bestimmen vermöchte.
Haftar erweckt eher den Eindruck eines politischen Manipulators als den eines durchschlagskräftigen Generals. Seine Laufbahn, die militärische Niederlagen und manipulatorische Gewinne aufzeigt, bekräftigt diesen Eindruck. Vielleicht sieht das Putin auch so. Der italienische Aussenminister hält mit Moskau Kontakt, um im Namen der EU den Russen nahezulegen, nicht allein auf Haftar zu setzen.
USA bleiben aussen vor
Vielleicht gelingt es Haftar dennoch, russische Waffen zu erhalten, ohne sich Sarraj unterstellen zu müssen und dadurch eine internationale Legitimität für seine „Libysche Nationale Armee“ und ihre Bewaffnung zu erlangen. Möglicherweise rechnet Haftar sich aus, er könne sich ja pro forma Sarraj unterstellen, wenn er dafür Kommandant einer regulären und international unterstützten libyschen Armee werde. Vielleicht weiss aber Sarraj, dass er Haftar nicht zum Kommandanten dieser für Libyen so dringend nötigen regulären Armee ernennen kann, weil ein solcher Schritt in Tripolitanien auf unüberwindbaren Widerstand stiesse.
Man sieht, die Verhandlungen in Kairo sind komplex, und es wird schwierig sein, eine Lösung für Libyen zu finden. Festhalten kann man schon jetzt: Russland wird mit Assistenz Ägyptens die entscheidenden Weichen stellen; Washington ist nicht mit im Gespräch.